Freitag, 19. April 2024

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Buchautor Füller zu Gesamtschulen
"Das Gymnasium hat weiter seine Berechtigung"

Buchautor Christian Füller hat die verschiedenen Schulformen der Gesamtschulen mit dem klassischen Abitur verglichen. Fürs Abitur müsse kein Kind mehr aufs Gymnasium, sagte Füller im Dlf. Das Gymnasium habe aber auch künftig eine wichtige Rolle im Bildungssystem.

Christian Füller im Gespräch mit Stephanie Gebert | 01.10.2018
    ILLUSTRATION - Ein Füllfederhalter liegt auf einem Abiturzeugnis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Foto: Jens Büttner/dpa | dpa-Zentralbild| Verwendung weltweit
    Gymnasium, Gesamtschule, Stadtteilschule: Viele Wege führen zum Abiturzeugnis (dpa-Zentralbild)
    Stephanie Gebert: Das Abitur als Bildungsabschluss - immer mehr Schülerinnen und Schüler haben das in der Tasche. Inzwischen schließt gut die Hälfte eines Schuljahrgangs mit der Hochschulreife ab. Nicht alle diese Absolventen haben dafür das Gymnasium besucht. Gemeinschaftsschulen, Gesamtschulen oder Stadtteilschulen sind für viele eine gern genommene Alternative. Diese recht neuen Schulformen haben den Run auf das Abitur noch befeuert. So lautet die Analyse des Bildungsjournalisten Christian Füller. In seinem neuen Buch "Muss mein Kind aufs Gymnasium?" stellt er die neuen Lernformen der Gemeinschaftsschulen vor. Dort würden Schüler eine Art "Soft-Abi" machen, und er vergleicht diesen Weg hin zum Abitur mit dem klassischen Gymnasium. Ich grüße Sie, Herr Füller! Wie also fällt Ihre Antwort aus auf die Frage: Muss mein Kind aufs Gymnasium?
    Christian Füller: Ich würde sagen, muss mein Kind aufs Gymnasium heute, da würde ich sagen, nein, es muss nicht mehr aufs Gymnasium - Klammer auf -, um das Abitur zu machen. Es gibt einen anderen Weg zum Abitur, der möglicherweise auch für bestimmte Kinder ein guter Weg ist. Ich würde trotzdem nicht so weit gehen, zu sagen, das Gymnasium ist ein Modell der Vergangenheit. Ich glaube, dass das Gymnasium in einer zweigliedrigen Schullandschaft, also, wo es nur noch zwei Schulformen prinzipiell gibt - und das ist ja ein Trend, der ist durch die ganze Bundesrepublik zu beobachten -, auf jeden Fall eine Berechtigung hat.
    Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Ich habe mir gerade das Rosa-Luxemburg-Gymnasium genauer angeschaut, in Berlin-Pankow. Das ist ein wirkliches Leistungsgymnasium, da werden Tests gemacht. Eingangstests, das ist nur schwer zu verbergen, dass das IQ-Tests sind, und trotzdem führt diese Schule seit zehn Jahren individuelle Lernformen ein. Also, da gibt es so Profilbereiche, die auf die späteren Leistungskurse vorbereiten, da gibt es Enrichment-Kurse wie Töpfern - im Gymnasium! Das heißt, ein Leistungsgymnasium nimmt diese Elemente aus der Gemeinschaftsschule auf, das kann eine tolle Arbeitsteilung werden. Wir stehen im Grunde genommen, mit ein bisschen Hoffnung, vor einer neuen Bildungsrepublik, in der sich die Gymnasien verändern und neben den Gymnasien wirklich interessante Schulen entstehen.
    Abitur hat gleichen Wert bei der Hochschulbewerbung
    Gebert: Jetzt haben Sie gerade das leistungsstarke, das leistungsfördernde Gymnasium beschrieben. Das hat den gleichen Wert - das Abitur -, wenn ich es auf diesem Gymnasium mache, wie auf einer Gesamtschule?
    Füller: Ja, schauen Sie, die Einser, die rausgehen aus einer Gemeinschaftsschule, unterscheiden sich bei einer Bewerbung für eine Universität überhaupt gar nicht von einem 1,6- oder 1,9- oder 1,2-Abitur von einem Gymnasium, das ist das Gleiche!
    Gebert: Aber vielleicht ist die Note ein anderer Wert auf einem Gymnasium als auf einer Gesamtschule. Da steht vielleicht eine andere Qualität dahinter, könnte man das sagen?
    Füller: Da gebe ich Ihnen total recht, da steht jeweils eine andere Qualität dahinter. Die Frage ist nur, wer guckt hinter die Fassade dieser Note? Ich glaube, dass die Arbeitgeber in Zukunft sehr viel deutlicher fragen, was steht eigentlich hinter der Eins? Kannst du mit kritischen Situationen in einem Team umgehen, bist du überhaupt teamfähig? Schauen Sie sich die Zeppelin-Uni in Friedrichshafen an: Dort kriegen Sie als Abiturient, wenn Sie sich für einen Studienplatz bewerben, kriegen Sie eine Aufgabe im Team, die nicht lösbar ist. Was machen denn eigentlich Schüler, wenn sie eine Aufgabe kriegen, die nicht lösbar ist? Ist dann sozusagen der Gymnasiast, der es gewohnt ist, leistungsmäßig Ziele zu erreichen, die konventionell sind, im Vorteil? Oder ist ein Teamspieler aus einer idealen Gemeinschaftsschule im Vorteil? Ich glaube, dass die Eins erst mal von der Note her genauso viel wert ist. Keine Universität wird jemanden abweisen, weil er ein Gemeinschaftsschulabitur hat, das kann man ja auch gar nicht.
    Gebert: Sie sprechen in Ihrem Buch auch von dem Gymnasium als einem Lernort, der zu starr ist, um die künftigen Herausforderungen zu stemmen. Was genau kann das Gymnasium im Gegensatz zur Gesamtschule denn nicht leisten?
    Besondere Herausforderungen fürs klassische Gymnasium
    Füller: Das Gymnasium hat eine Herausforderung angenommen, nämlich die Heterogenisierung, die sich durch den Bildungsaufstieg ergeben hat, weil einfach so viele Schüler dazugekommen sind. Das hat das Gymnasium mehr oder weniger gut bewältigt, muss man sagen. Das Gymnasium wehrt sich gegen zwei andere Herausforderungen, obwohl die eigentlich in die selbe Richtung gehen. Das Gymnasium wehrt sich gegen Inklusion, das Gymnasium möchte keine Kinder mit Behinderungen aufnehmen. Die Zahl der behinderten Kinder, die an Gymnasien gehen, steigt zwar sehr stark an in den letzten Jahren, aber im Wesentlichen wehren sich die Gymnasien dagegen, genau wie sich Gymnasien nicht sehr wahnsinnig doll geöffnet haben für die Flüchtlinge. Das ist natürlich ein Prozess, den ich eigentlich kritisch sehen würde, weil ich glaube, dass das Lernen an einem Gymnasium anders wird. Aber wenn ich mir die vierte und die wirklich sehr große Herausforderung der Digitalisierung anschaue, finde ich das eigentlich ganz sympathisch, dass das Gymnasium solche Entwicklungen entschleunigt, dass es sie langsamer aufnimmt. Das Gymnasium ist meiner Ansicht nach etwas, da können die Gesamtschulen und die Gemeinschaftsschulen viel von ihm lernen. Das alte Gymnasium des Räsonierens, also das Humboldtsche Gymnasium der Fragestellung, wohin wollen wir, was heißt Urteilskraft, werden wir mündige Bürger – das ist genau die richtige Anstalt, um die Folgen der Digitalisierung zu thematisieren. Da ist das Gymnasium geradezu prädestiniert. Also, ich würde sagen, das Gymnasium hat Herausforderungen abgelehnt – Inklusion und Flüchtlinge –, das ist falsch, das ist nicht gut. Es wird die Digitalisierung nicht abwehren können und da möglicherweise eine neue Kraft entwickeln.
    Run aufs Abitur geht weiter
    Gebert: Wenn jetzt der Run auf das Abitur, so wie ich Sie verstehe und Ihre Analyse, anhält beziehungsweise sogar noch fortgeführt wird - was machen wir dann mit Menschen, die einen Hauptschulabschluss haben? Welche Chancen haben Schülerinnen und Schüler, Absolventen, die aus der Realschule kommen, mit dem entsprechenden Abschluss?
    Füller: Das ist eine sehr gute Frage, die sich gerade in dieser Übergangsphase sehr dringlich stellt. Wenn Sie sich mal anschauen, wie die Entwicklung ist, in dem Moment, wo Sie Gemeinschaftsschulen gründen und die Leute dahin gehen. In Baden-Württemberg sind 28 Prozent der Schüler in den Gemeinschaftsschulen, die hatten eine Realschulempfehlung. Und trotzdem haben sechs Jahre nach dem Beginn dieser Gemeinschaftsschulen dort über 60 Prozent der Schüler die Mittlere Reife erworben. Das heißt, die Zahl der mittleren Abschlüsse hat sich deutlich erhöht an diesen Schulen. Wären diese Schüler mit Hauptschulabschluss in die Werkrealschulen oder Hauptschulen in Baden-Württemberg gegangen, dann hätten sie ja einen Realschulabschluss, jedenfalls im ersten Durchgang, nicht bekommen. Das heißt, die Abschlüsse gehen insgesamt nach oben bei diesem Gemeinschaftsschulsystem. Das ist ja erst mal gut, weil man Talente und Potenziale auch herausarbeiten kann in diesen Schulen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.