Dienstag, 19. März 2024

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Buchmessen-Partnerland
"Georgien fängt an, nicht mehr vergessen zu sein"

Zu Zeiten der Sowjetunion war Georgien ein wenig beachtetes Land. Mittlerweile sei das Partnerland der diesjährigen Buchmesse auf dem Weg aus der Vergessenheit heraus, sagte Stephan Wackwitz, früher Chef des Goethe-Instituts in Georgien, im Dlf. Als besonders interessant hebt er die Literaturszene hervor.

Stephan Wackwitz im Gespräch mit Birgid Becker | 07.10.2018
    Panoramablick über die Stadt in abendlich-erleuchteter Atmosphäre
    Die georgische Hauptstadt Tiflis (Jaanus Jagomägi/Unsplash)
    Birgid Becker: Georgien, die ehemalige Sowjetrepublik an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Georgien, das sind Bergdörfer im Kaukasus ebenso wie Strände am Schwarzen Meer. Viereinhalb Flugstunden entfernt und trotzdem vergessen. Das beklagt der ehemalige Chef des Goethe-Instituts in Georgien, Stephan Wackwitz. Fünf Jahre hat er dort gelebt und ein Buch über Georgien und die Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan geschrieben – ein Buch und mehr noch: eine Liebeserklärung.
    Nun ist Georgien ja Partnerland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, was sicherlich hilft gegen das Vergessen. Aber trotzdem wollte ich von Stephan Wackwitz wissen, weshalb überhaupt Georgien für ihn ein vergessenes Land ist.
    Stephan Wackwitz
    "Liebeserklärung an Georgien" - Autor Stephan Wackwitz (picture alliance / dpa / Jens Wolf)
    Stephan Wackwitz: Ich glaube, im Moment fängt es an, nicht mehr vergessen zu sein. Ich habe das eigentlich in den letzten sechs Jahren immer stärker gemerkt, dass auch im Zusammenhang mit dem Gastland-Auftritt dieses Jahr die Regierung oder, sagen wir mal, das National Book Center eine Politik hatte, deutsche Journalisten einzuladen. Die haben sich das natürlich auch alles angeguckt und haben darüber auch geschrieben, und man hat den Eindruck, dass es ein bisschen aus seiner Vergessenheit rauskommt, die natürlich damit zusammenhängt, dass das Land hinterm Eisernen Vorhang lag. Da ist ja immer noch der westliche Blick irgendwie scheu, sich irgendwie weiter östlich zu begeben.
    Fast gewalttätige Georgisierungspolitik
    Becker: Was natürlich auch immer aus dem Vergessen heraushilft, das sind kriegerische Konflikte. Die gab es in Georgien, Herr Wackwitz, vor zehn Jahren mit Russland. Schließlich hat Russland Südossetien und Abchasien als selbständige Staaten anerkannt – Staaten, die am Gängelband Moskaus hängen. Aber in jedem Fall hat die Regierung in Tiflis seitdem die Kontrolle über gut 20 Prozent ihres Territoriums verloren. – Georgien raus aus dem Vergessen, das hat natürlich auch mit dieser kriegerischen Auseinandersetzung zu tun.
    Wackwitz: Ja, und die hat eine Vorgeschichte, die sehr, sehr weit zurückgeht. Die Abchasen haben eigentlich schon lange nationale Ambitionen gehabt, auch im Rahmen der Sowjetunion schon. Bei den Osseten ist es ähnlich. Und die Georgier haben vor allem zu Beginn der Republik unter dem Präsidenten Gamsachurdia eine fast gewalttätige Georgisierungspolitik betrieben, die sehr viel böses Blut auf beiden Seiten geschaffen hat, und das muss man ein bisschen berücksichtigen. Die Georgier selber sagen, na ja, wir sind besetzt oder die beiden Provinzen sind besetzt, aber man kann auch mit einem gewissen Recht sagen, dass sie ein bisschen von der Fahne gegangen sind dem georgischen Staatsverband.
    Becker: Nun soll Georgien ja auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten kommen nach dem Willen der Bundesregierung. Wie sieht es politisch im Moment mit Georgien aus?
    Wackwitz: Prima! Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass Georgien kein sicheres Land ist. Vor allem ist das ein großes Verdienst des frühen Präsidenten Saakaschwili, der eine Polizeireform durchgeführt hat, die wirklich dazu geführt hat, dass die Polizei eine der besten überhaupt ist. Er ist danach aber sehr autoritär geworden. Das muss man sagen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem frühen und dem späten Saakaschwili. Generell kann man in Georgien überall als Frau nachts allein spazieren gehen.
    Georgiens Ex-Präsident Michail Saakaschwili spricht am 03.01.2018 in Kiew vor dem Verwaltungsgericht.
    Mann mit zwei Gesichtern - Georgiens Ex-Präsident Michail Saakaschwili (dpa-Bildfunk / Zuma / Tarasov/Ukrinform )
    "Ein sicheres Herkunftsland"
    Becker: Na gut, das kann man auch in Staaten mit wenig ausgeprägter Würdigung der Menschenrechte.
    Wackwitz: Ja, da haben Sie wohl recht. Aber mein subjektives Empfinden und auch das, was ich gehört habe, ist eigentlich so, dass man gar nichts anderes sagen kann, als dass das ein sicheres Herkunftsland ist.
    Becker: Blicken wir aufs kulturelle Georgien oder auch auf das, was Sie als Länder- oder Städtedreieck in Ihrem Buch schildern, aus Tiflis, Baku, Eriwan. Sie sagen, das seien Staaten, Länder, die allesamt vergessen seien – mit der Einschränkung, die Sie eben erwähnt haben -, allesamt vergessen, und zwar vergessen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und damit habe man nicht weniger als die Mitte der Welt vergessen. Was meinen Sie damit?
    Wackwitz: Ich meine das so, dass diese Gegend einmal eine Art Wetterwinkel der Weltpolitik gewesen ist, und zwar seit der Antike. Sie haben im Norden Russland, vorher hatten Sie da die nomadischen Reitervölker, die Mongolen, und im Süden haben Sie das persische Reich gehabt in der Antike, oder jetzt Iran, im Westen dann Byzanz und heute die Türkei, und diese drei großen Machtblöcke haben eigentlich immer versucht, den Südkaukasus als eine Art Sprungbrett für die Beeinflussung der anderen Machträume zu benutzen.
    Insofern hatte diese Weltgegend, obwohl sie eigentlich jetzt keine von sich aus bedeutende Weltgegend ist, immer einen sehr wichtigen strategischen Wert, und den hat sie auch heute noch, denn die Pipeline, die da durchgeht, ist ja die wichtige Verbindung, die nicht über Russland führt, und ist deswegen heute auch noch entsprechend umkämpft. Im 19. Jahrhundert gab es dann das sogenannte Grand Game, das auch in dieser Gegend gespielt wurde. Das Grand Game war der Versuch Russlands, nach Indien vorzudringen und dort Eroberungen zu machen, und die Engländer haben versucht, sie davon abzuhalten. Also eine Gegend, die immer eine Art Zwickmühlen-Situation hatte, und jeder war sehr daran interessiert. Das habe ich damit gemeint und das ist natürlich lang vergessen gewesen, weil der Südkaukasus im Teil der Sowjetunion war, und jetzt wird das aber wieder belebt. Auch in Armenien und Aserbaidschan merkt man, das sind wichtige Schaltstellen zwischen Machtblöcken.
    Vergleich Italien und Georgien
    Becker: Sie haben, um Georgien zu beschreiben, um Tiflis zu beschreiben, am Anfang Ihres Buches ein ganz einprägsames Bild. Sie vergleichen das mit Fellini-Filmen aus den 60ern. Die wird vielleicht jetzt nicht jeder vor Augen haben, aber wenn doch …
    Wackwitz: Das ist schade.
    Becker: Beschreiben Sie ein bisschen. Wie kommen Sie zu diesem Vergleich Italien und Georgien? Das drängt sich ja nicht unbedingt auf.
    Wackwitz: Ja, es ist so: Fellini mit Filmen wie "Achteinhalb" – da ist es besonders deutlich – hat ein Italien geschildert, das sehr stark zwischen Moderne, die auf einzelnen Inseln sich eingerichtet hat, und noch ganz mittelalterlichen Lebensformen sich befunden hat, und da hat es die poetischen Energien aus diesem Widerspruch gezogen. Georgien ist heute oder war vielleicht vor sechs Jahren noch mehr in einer ähnlichen Situation, dass im Grunde ein in vieler Hinsicht sehr mittelalterliches Land plötzlich eine Modernisierung erfährt, die dann auch Prestigebauten hervorbringt und so und eine ähnliche Verwirrung oder auch einen ähnlichen surrealistischen Effekt eigentlich zwischen diesen verschiedenen Zeiten zustande gekommen ist.
    Becker: Es gibt – das schildern uns unsere Korrespondenten – in Tiflis eine Club-Szene, es gibt eine Rave-Szene. Frage an Sie: Was macht die Literaturszene, die wir ja kennenlernen sollen, wenn die Buchmesse beginnt?
    Wackwitz: Ja, die Literaturszene ist insofern eigentlich eine ganz interessante Sache, weil ähnlich wie zum Beispiel Island hat Georgien eine Sprache, die eigentlich seit dem Mittelalter relativ gleich geblieben ist. Es ist zum Beispiel so, der georgische Goethe ist ein Dichter aus dem 13. Jahrhundert, und das große Epos, "Der Recke im Tigerfell", wird heute noch in der Schule gelesen. Man kann das auch lesen, das ist ein Teil der allgemeinen Konversation. Das ist zum Beispiel das eine, was mich immer sehr, sehr fasziniert hat eigentlich an Georgien.
    Eine andere Sache ist, dass es in den 20er-Jahren eine sehr reiche Literaturgeschichte gehabt hat, weil sehr viele Dichter und auch sonstige Intellektuelle oder Maler oder so aus Russland und St. Petersburg und Moskau nach Tiflis gekommen sind, und dort fanden sie symbolistische Kollegen vor, so dass bis weit in die 30er-Jahre, eigentlich bis zum großen Terror _37, eine Art futuristisch-suprematistisch-symbolistische Mischkultur entstanden ist, die sehr, sehr fruchtbar gewesen ist und die auch heute noch die zeitgenössische Literatur irgendwie befruchtet.
    Und dann gibt es zum Beispiel solche Figuren wie einen Dichter des frühen 20. Jahrhunderts und späten 19. Jahrhunderts, Wascha-Pschawela, der eigentlich Bauer war und ähnlich wie bei uns im Sturm und Drang die sogenannten philosophischen Bauern eine ganz enge Verbindung zwischen städtischen Intellektuellen und bäuerlichen Autodidakten entstanden ist, was auch etwas ist, was man in der zeitgenössischen Literatur als Echo durchaus noch vernehmen kann. Das, finde ich, ist erstaunlich irgendwie.
    National Book Center des Kultusministeriums
    Becker: Gibt es denn viel an Übersetzungen? Oder präzise gefragt: Haben Sie eine Leseempfehlung?
    Wackwitz: Es gibt immer mehr Übersetzungen. Das Kulturministerium hat - gerade als ich eigentlich kam ging das los – ein sogenanntes National Book Center installiert, und mit denen haben wir eigentlich auch immer zusammengearbeitet und haben deren Verbindungen zu Frankfurt sehr stark hergestellt. Die haben natürlich ein großes Übersetzungsprogramm aufgelegt.
    Becker: Und die Leseempfehlung? Können Sie uns einen Tipp geben?
    Wackwitz: Oh, eine Leseempfehlung! – Ich glaube, was ich vor allem den deutschen Zuhörerinnen und Zuhörern ans Herz legen würde, ist ein Dichter, der eigentlich vielleicht bedeutender noch als Maler und Zeichner gewesen ist. Der heißt Karlo Katscharawa – ein Mann, der im Grunde in der späten Sowjetunion ganz stark durch Zeitschriften oder durch alle möglichen Kanäle die bundesdeutsche, sagen wir mal, Kunstrevolution in Berlin und in Köln, Immendorff und diesen ganzen Neoexpressionismus, aufgenommen hat und in einer sehr interessanten georgischen Version verwirklicht hat. Der ist so eng mit der deutschen Kultur verbunden, dass er praktisch wie eine Art korrespondierendes Mitglied der deutschen Kultur angesehen werden kann, und der hat auch sehr schöne Gedichte gemacht, die auch in vielen Anthologien und so weiter stehen. Man fängt an, das zu schätzen und zu lesen, und er wird auch mit seinen Gemälden zumindest als Kopien in dem georgischen Pavillon eine große Rolle spielen, soweit ich gehört habe.
    Becker: Und dann zum Hören vielleicht noch mal der Name? Die georgischen Namen gehen ja nicht so ganz gut ins Ohr.
    Wackwitz: Karlo Katscharawa.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.