Donnerstag, 18. April 2024

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Bücher für junge Leser
Dreiecksgeschichten in Teenagerjahren

Michael Siebens Jugendromane erzählen von Freundschaften, von Verlusten, Trauer und von Schuldgefühlen, die man hat, weil man Haltungen und Standpunkte erst entwickeln muss. Eine Zeit der Peergruppe und des besonderen Zusammenhalts.

Schriftsteller Michael Sieben im Gespräch mit Ute Wegmann | 18.04.2020
Der Jugendbuchautor Michael Sieben
Mobbing unter Jugendlichen hat sich geändert, meint Michael Sieben - es hat sich vor allem in die "sozialen" Medien verlagert (privat / Carlsen Verlag)
Ute Wegmann: "Ponderosa" hieß das Debüt im Jahr 2016, "Das Jahr in der Box" heißt der neue Roman, beide erschienen beim Carlsen Verlag. Beide sind Jugendromane für Menschen ab 14 Jahre. Mein Gast im "Büchermarkt" ist Michael Sieben. Er ist 1977 geboren, hat Wirtschaftswissenschaften in Mainz, Köln und Paris studiert, lebt jetzt in Berlin, hat eine halbe feste Stelle. Im Jahr 2011 gehörte er zu den Finalisten des Schreibwettbewerbs Open-Mike. Wie passt das zusammen: Wirtschaftswissenschaft, geregelte Arbeit, Schriftstellerleben?
Michael Sieben: Also für mich passt es ganz gut zusammen, weil es zwei völlig unterschiedliche und voneinander getrennte Lebenswelten sind. Und ich finde das eigentlich ganz angenehm, von der einen in die andere Welt zu springen und dann auch wieder Ideen und Gedanken zu sammeln für das jeweils andere. Wobei mein Hauptaugenmerk auf dem Schreiben liegt.
John Green und Wolfgang Herrndorf als Vorbilder
Wegmann: War das schon immer ein Wunsch, Schriftsteller zu werden?
Sieben: Ja, das war schon immer mein Traum. Vor zwei oder drei Jahren haben meine Eltern mir unter den Weihnachtsbaum eine Geschichte gelegt, die ich mit zehn Jahren geschrieben habe. Da geht es um den Weihnachtsmann, der seinen Geschenkesack verloren hat und zusammen mit einem älteren Herrn und Knecht Ruprecht, der in dieser Geschichte eher ein distinguierter Butler ist als ein Knecht, sich auf die Suche nach dem Geschenkesack macht und die drei geraten dann in alle möglichen abstrusen und komischen Situationen. Diese Geschichte ist knapp 100 Dina-Seiten lang, natürlich zusammengeklaut aus Fernsehserien und Büchern, die ich gelesen habe, aber damals schon hatte ich riesigen Spaß daran, am Schreibtisch zu sitzen und mir Geschichten auszudenken.
Wegmann: 100 Seiten ist ja beachtlich für einen Zehnjährigen, man braucht ja auch reichlich viel Geduld. Wie war das denn, die Geschichte jetzt noch mal zu lesen. Waren Sie von sich selber überrascht und auch im positiven Sinne erstaunt?
Sieben: Überrascht, natürlich auch ein bisschen peinlich berührt. Also sind ein paar Passagen dabei, unfreiwillig komisch, und teilweise voller Rechtschreibfehler. Also das war schon sehr lustig, das zu lesen. Ich hatte das schon ganz vergessen, dass ich das damals geschrieben hatte.
Wegmann: Wenn Sie jetzt zurückschauen auf die Anfänge, und wenn Sie sagen, Sie haben schon immer gern geschrieben, gibt es denn Vorbilder?
Sieben: Vorbilder. Es gibt Autoren, die ich gern lese und sehr schätze. Im Jugendbuchbereich ist das John Green aus Amerika, der sehr tolle Jugendromane schreibt. "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" oder "Margos Spuren" – das sind tolle Bücher. Wolfgang Herrndorf zum Beispiel – was den Jugendbuchbereich angeht, ganz tolle Autoren.
Wegmann: Jetzt haben Sie natürlich zwei der ganz großen genannt: John Green und Wolfgang Herrndorf. Die gab’s aber ja noch nicht, als Sie etwas jünger waren.
Sieben: Nein, nein! Die ich jetzt nennen würde, oder die Autoren sind, zu denen ich aufschaue. Damals - damals kann ich es Ihnen gar nicht sagen. Ich hab alles gelesen, was ich in die Finger bekommen habe. Also auch klassisches wie "Die drei ?", "TKKG" und so weiter. Da habe ich aber nie gedacht, das möchte ich auch machen, aber das hab ich wie am Fließband verschlungen.
Ponderosa ist nicht die Ranch der Cartwrights
Wegmann: Auch wenn heute der neue Roman im Vordergrund stehen wird, schauen wir auch zurück auf den ersten, auf "Ponderosa". Bei Ponderosa denken wir älteren an die Kultserie Bonanza, 430 Folgen. So hieß die Ranch der Cartwright-Brüder, Westernmilieu des späten 19. Jahrhunderts. Was verbindet Michael Sieben mit Bonanza?
Sieben: Also ich habe natürlich als Kind die Serie im Fernsehen gesehen, aber es ist nicht so, dass es einen unglaublich bleibenden Eindruck auf mich gemacht hätte. Und ich deswegen mein erstes Buch nach der Ranch "Ponderosa" benannt hätte. Aber ich war damals auf der Suche nach einem Namen für die Hütte im Wald, wo sich die drei Freunde treffen, wo sie sich zurückziehen aus der Erwachsenenwelt. Und da habe ich eine Zeitung durchgeblättert und da kam ein Beitrag über Bonanza, da fiel mir der Name wieder ein und ich dachte: Das ist einfach ein toller Name, der passt total gut für dieses Buch.
Wegmann: Also es gibt gar keine Parallelen zur Serie? Zum Beispiel der Umgang der Männer untereinander?
Sieben: Zumindest ist es von mir nicht bewusst so geschaffen worden. Es ging für mich eher um diesen Ort und die Beziehung der drei Freunde, zwei Jungs und ein Mädchen, also ne klassische Dreiecksgeschichte, die sich da entspinnt, und die Bonanza-Geschichte, vielmehr die Cartwright-Brüder, das war ja eine reine Männer-WG, da ist ja schon mal ein Unterschied.
Wegmann: Ich hatte schon eine kleine Parallele für einen kurzen Moment aufblitzen sehen, weil ich dachte, die Cartwright Brüder hatten nicht viel Glück mit den Frauen, und Ihre Jungs haben das auch nicht so wirklich. Es gelingt immer erst nach mehreren Anläufen.
Sieben: Das stimmt ... wobei ich mich gar nicht mehr erinnern kann, dass bei Bonanza überhaupt mal Frauen vorkamen. Aber mit Sicherheit kamen sie das. Aber diese Parallele ist tatsächlich da. Beide Bücher enden nicht mit einem Liebes-Happy-End. Ich möchte jetzt gar nicht ...
Das Dreiergespann der Freunde
Wegmann: So viel dürfen wir nicht verraten. In Ihren beiden Romanen stehen männliche Protagonisten im Mittelpunkt, in beiden Romanen verschwinden Menschen, tauchen dann aber wieder auf, es geht um Mobbing, um Freundschaft, um Liebe. In beiden Romanen haben wir das Dreiergespann der Freunde als zentrale Figuren. Ich könnte noch ein wenig so weitermachen: Der Einzelne steht der Gruppe gegenüber, einer wird für einen Unfall verantwortlich gemacht, ein anderer fühlt sich verantwortlich, obwohl er es nicht ist – also das Thema Schuld. Da es in beiden Romanen im Mittelpunkt steht, scheint es Ihnen persönlich sehr wichtig zu sein?
Sieben: Ja, das kann man so sagen. Es ist auf jeden fall ein zentrales Thema, genauso die Freundschaft und die Entwicklung der Freundschaft. Und wie sich die Beziehungen der Protagonisten untereinander ändern im laufe der kurzen Zeit, in der die Geschichten spielen. Und wie sie sich ändern. Und dass das ja auch für mich eine Besonderheit dieser Teenagerzeit ist, dass man für eine relativ lange Zeit mit Gleichaltrigen zusammen ist und sie jeden Tag sieht und mit einer Peergroup zusammen ist, die genau das gleiche Ziel hat, das gleiche Vorhaben, nämlich den Schulabschluss zu schaffen und am Ende einen Platz für sich im Leben zu finden. Das ist eine ganz besondere Situation, in der sich die Geschichten bewegen und in der sich die Freundschaften bewegen. Ich habe eben gesagt, es ist eine klassische Dreiecksgeschichte, die aber so – vor allem bei "Ponderosa" – in einem anderen Kontext nicht funktionieren könnte. Nicht im Erwachsenenalter, eben wegen der Besonderheit, dass man in der Teenagerzeit so viel Zeit mit Gleichaltrigen verbringt, mehr als das jemals wieder sein wird.
Wegmann: Das stimmt, das ist sehr zentral die Entwicklung der Freundschaft, wie Sie es genannt haben. Aber, ich weiß nicht, ob ich jetzt zu persönlich werde, wenn ich doch noch mal auf die Schuld zu sprechen komme. Was reizt Sie an diesem Thema?
Sieben: Ich glaube, dass man in diesem Alter als Person sehr verunsichert ist, und noch nicht mit beiden Beinen im Leben steht und auch nicht das Selbstbewusstsein hat, das es manchmal braucht, um zu sagen: Das bin ich. Und das hab ich getan. Und ich habe diese Entscheidung getroffen. Und die war zu diesem Zeitpunkt richtig, aber im nachhinein vielleicht nicht unbedingt das Beste, aber ... und das kann ich mir vorstellen, dass man nicht dieses Selbstbewusstsein hat und dadurch auch viele Schuldgefühle entstehen, weil man sich Vorwürfe macht, denkt man hat was falsch gemacht, weil die Persönlichkeit noch nicht ausgeprägt ist, wie sie dann in einem späteren Alter hoffentlich ist.
Die Box mit den Erinnerungsstücken
Wegmann: Sprechen wir über "Das Jahr in der Box". Im Mittelpunkt der Geschichte steht Paul, 17 Jahre alt, gerade umgezogen aus Berlin in ein Dorf namens Wicker. Ups, dachte ich, das Dorf gibt es ja wirklich. Es liegt bei Mainz. Haben Sie eine Verbindung zu Wicker?
Sieben: Nein, gar nicht. Ich komem aus Mainz, ich kenne den Namen, war schon mal da. Aber mein Wicker ist ein ganz anderes Wicker. Ich habe mir den Namen des hessischen Dorfes geliehen und hab es nach Niedersachsen verlegt und das ist der zentrale Ort in "Das Jahr in der Box".
Wegmann: Der Umzug nach Wicker ist der dritte Umzug innerhalb von zwei Jahren, Paul ist genervt, vor allem weil er in Opas alter Villa bleiben möchte, seine Mutter aber nicht. Er packt. Findet die Holzkiste. Seine Box. Ich würde Sie bitten, dass wir uns eine kleine Passage anhören.
Wegmann: Herzlichen Dank, das war Michael Sieben. Mobbing ist ein wichtiges Thema. Gehört Mobbing mit zu jeder Jugendgeschichte wie erste Liebe? Ist es Bestandteil unseres Alltags geworden?
Sieben: Ich bin mir nicht sicher, ob es sich geändert hat, ob es heute mehr Mobbing gibt als noch vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Ich würde es fast bezweifeln. Die Methoden haben sich mit Sicherheit geändert, jemanden auszugrenzen, zu mobben. Mit Sicherheit. Und das ist ja auch ein Teil meines Romans, da werden gerade ja soziale Medien genutzt, um anderen zu schaden. Wobei ich jetzt mein Buch auch nicht als Mobbingbuch im engen Sinne sehen würde. Es setzt den Kontext für Paul, der sich durch Ungeschicktheit in die Außenseiterrolle manövriert. Er ist ja eigentlich kein klassisches Mobbingopfer. Das ist der Grund, warum ich sagen würde, es ist kein Mobbingbuch, denn um Mobbingopfer zu werden, muss man gar nichts tun oder da muss man gar nichts falsch machen. Das würde die, die es betrifft, ja auch in eine Ecke stellen und unterschwellig vorwerfen: Du bist es selber Schuld, du hast das und das gemacht. Es ist kein klassisches Mobbingbuch, weil der Protagonist sich selbst hineinmanövriert und zum Schluss – ohne zu viel zu verraten, sich auch wieder herausmanövriert.
Das Jahr als Trauerjahr
Wegmann: Es gibt ja mehrere junge Männer, die gemobbt werden, ich nenne es jetzt mal so und in dem Kontext gibt es schon ganz schön brutale Szenen. Wäre die Geschichte ohne diese unrealistisch? Sie haben es ja gerade schon angedeutet, dass sich die Methoden geändert haben.
Sieben: Ich denke, die Geschichte würde auch ähnlich funktionieren ohne die tatsächliche physische Auseinandersetzung, die es mehrfach gibt. Sie steigert die Not des Protagonisten, aber ich denke, in den meisten Fällen läuft Mobbing auf einer psycho-sozialen Schiene.
Wegmann: Wir erfahren nach und nach, was geschah, wie sich die Menschen innerhalb der Geschichte begegnen, wie man sich bekämpft und dass es und wie es zu einem Unfall kam, bei dem sogar jemand starb. Sie erzählen die Geschichte verschachtelt, unterbrochen durch einen Haupthandlungsstrang – Paul beim Umzug – durch die Erinnerung und die Box mit den Erinnerungsstücken. Es geht auch um die Auseinandersetzung mit Tod, Trauer und Schuld. Denn: Einer wird sterben. Paul wird dabei sein. Paul wird sich schuldig fühlen. Es wird ihn derart treffen, dass er traumatisiert in psychologische Behandlung muss. Kann man das Jahr in der Box auch als eine Art Trauerjahr verstehen?
Sieben: Ja, das ist es mit Sicherheit. Natürlich nicht das ganze Jahr, denn der Todesfall ereignet sich erst nach ein paar Monaten, aber klar, es geht um Trauer und Trauerbewältigung. Und wie gehe ich mit einem solch traumatischen Ereignis um, also wie geht Paul mit diesem Ereignis um. Und er hat diesen Trick, in dem er versucht, sich aktiv mit den Erinnerungen auseinanderzusetzen, nicht ständig sich von den Bildern überfallen zu lassen. Er packt also alles in die Box, versucht es erst mal wegzupacken, versucht in der Trauer zu sein, und sich dann erst nach einer Zeit damit auseinanderzusetzen. Er macht es nicht ganz freiwillig, ihm fällt die Box in die Hand, und dann denkt er: Jetzt oder nie. Jetzt schau ich noch mal rein. Guck mir die Dinge an, die ich verpackt habe. Und diese Dinge erzählen dann die Geschichte. Er schafft es, sich bis zum letzten Gegenstand durchzuarbeiten und das vergangene Jahr an seinem geistigen Auge vorbeiziehen zu lassen.
Umgangssprache statt Jugendsprache
Wegmann: Es gibt ja viele gute Dialoge bei Ihnen, gut, weil sie nicht versuchen allzu jugendsprachlich zu sein? Liegt Ihnen Dialog? Wo hören Sie dahin? Wo begegnen Sie dem Tonfall, den Sie hier verwendet haben?
Sieben: Was ich versucht habe bei den Dialogen, also nicht eine Jugendsprache zu imitieren, die ich auch gar nicht kenne, sondern das ist für mich Umgangssprache. Und was dabei hilft, ist, dass meine Generation, also mit 40, 50 oder auch 30jährige ein Stück weit infantiler sind, als unsere Elterngeneration es war. Also ich habe den Eindruck, dass ich mit Mitte Vierzig ein Stück näher dran bin an der Teenagerzeit als meine Elterngeneration. Trotzdem liegen da noch Lichtjahre dazwischen, das ist mir auch klar. Also, was ich versucht habe, einen Ton zu finden, einen umgangssprachlichen, wie ich ihn selber nutzen würde mit Freunden und dann zu sehen, gibt es da Worte, die ein Jugendlicher nicht mehr benutzen würde, also Worte wie "ohnehin", das benutze ich gern, aber das würde ich meinen Protagonisten nicht in den Mund legen. Ich versuche, aber auch Jugendwörter zu vermeiden, weil ich das Gefühl hätte, mich lächerlich zu machen. Also wenn ich das Wort nicht in den Mund nehmen könnte, ohne mich albern zu fühlen, dann würde ich es auch nicht verwenden.
Wegmann: Würden Sie sagen, Ihnen liegt das Dialogisieren mehr als das Plotten?
Sieben: Mir liegt beides. Ich mag das sehr das Plotten, das ist eigentlich die schönste Phase beim Schreiben, finde ich. Von Null anzufangen, sich eine Geschichte zurecht zu spinnen. Aber auch die Dialoge, die zu einem späteren Zeitpunkt kommen, das bereitet mir auch sehr viel Spaß.
Michael Sieben: "Ponderosa"
Carlsen Verlag (Hamburg), 218 Seiten
Michael Sieben: "Das Jahr in der Box"
Carlsen Verlag (Hamburg), 226 Seiten