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Bücher gegen Sprachlosigkeit

Kindesmissbrauch ist ein schweres Thema, sehr lange wurde es unter den Teppich gekehrt. Mittlerweile beschäftigen sich aber auch Jugendbücher mit der schwierigen Materie. Fünf davon werden hier vorgestellt.

Von Sylvia Schwab | 30.04.2011
    "Rotkäppchen muss weinen", so heißt ein Jugendbuch aus dem Jahr 2009. Seine Autorin: Beate Teresa Hanika. Sein Thema: Sexueller Missbrauch eines Mädchens durch seinen Großvater - über viele Jahre hinweg.

    Wer hätte damals gedacht, dass dieser Debüt-Roman einen solchen Erfolg haben und mit so hohen Verkaufszahlen und so vielen Preisen belohnt würde? Wer will so etwas Schreckliches überhaupt lesen? Das wurde Beate Teresa Hanika oft gefragt.

    "Das lesen Erwachsene und Jugendliche, ganz viele Leute, wie sich herausgestellt hat, und der Erfolg beruht darauf, dass es keine reine Missbrauchsgeschichte ist, sondern dazwischen auch leichte Passagen hat, wo man ein wenig abschalten kann von dem schweren Thema."

    Kindesmissbrauch ist ein schweres Thema, da gibt es nichts zu beschönigen. Ein Thema, das aufbringt und von allen Medien reichlich bedient wird. Aber auch ein Thema, das viel zu lange unter den Teppich gekehrt wurde! Jedes Jahr wurden und werden in Deutschland noch immer Tausende von Kindern und Jugendlichen sexuell missbraucht. Seitdem solche Fälle immer häufiger ans Licht der Öffentlichkeit kommen, beschäftigt sich auch die Kinder- und Jugendliteratur mit dem Missbrauch. Wobei die Intention der Autoren durchaus verschieden ist. Möchten die einen vor allem informieren oder aufklären, wollen die anderen zuerst einmal eine gute literarische Geschichte erzählen. Auch Beate Teresa Hanikas Roman "Rotkäppchen muss weinen" ist zuerst einmal ein literarischer Text der unter die Haut geht, weil er so subtil und zugleich deutlich vom Missbrauch des Kindes und seinen inneren Nöten erzählt. Aber:

    "Es ist natürlich toll, wenn man damit etwas erreichen kann. Die Leute ein bisschen aufrütteln oder informieren. Das ist natürlich super und das klappt mit dem Buch auch ganz gut ... Also Jugendliche, sobald sie sich drauf einlassen, finden es ganz gut, ich kenne Schulklassen, die das gelesen haben und das Buch super fanden, also nicht peinlich oder komisch. Da kommen eigentlich immer ganz gute Rückmeldungen."

    In den vergangenen Jahren ist eine ganze Reihe von Bilder-, Kinder- und Jugendbüchern zum Thema Kindesmissbrauch erschienen. Der Jugendroman darf da offensiver vorgehen als das Kinderbuch, deutlicher, drastischer, ja dramatischer werden. Vier neue Jugendbücher zum Thema Missbrauch stellen wir vor. Sie zeigen, wie viele Aspekte dieses Thema hat und wie unterschiedlich man es angehen kann. Und vor allem: dass auch ein so ernster und schwieriger Stoff nicht unbedingt deprimierend wirken muss, sondern spannend erzählt und - ins Positive gewendet werden kann.

    "Was um alles in der Welt hat mich aufgeweckt? Und dann höre ich einen Schrei. Mit einem Ruck sitze ich aufrecht im Bett. Himmel, was war das? Ich schlage die Bettdecke zurück, gehe zum Fenster. Vielleicht kann ich etwas sehen. Ich höre ein Stöhnen und halte mitten in der Bewegung inne. Das kommt nicht von draußen, das kommt aus Jockels Zimmer. "Nein, ich will nicht, bitte" stöhnt Jockel. Wie von der Tarantel gestochen, stürme ich auf den Flur und stehe vor seiner Tür ... Ich öffne die Tür so leise ich kann und schließe sie gleich wieder hinter mir. 'Jockel. Wach auf.' Er wimmert."

    Jockel hat Albträume, schwänzt die Schule und wird immer aggressiver und unberechenbarer. Der früher so sanftmütige 11-Jährige, dessen Traum es ist, Schauspieler zu werden, verändert sich zunehmend, seit er regelmäßig in einer Film-Agentur Schauspiel-Unterricht nimmt. Die Eltern hatten das ausdrücklich verboten! Doch David, der große Bruder und Ich-Erzähler von Adriana Sterns Jugendbuch "Jockels Schweigen" hat die Unterschrift der Eltern für die Anmeldung gefälscht. Darum kann er nun mit niemandem über seine Sorgen um den kleinen Bruder sprechen. Und der schweigt beharrlich, obwohl ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben steht. Was David und seine Eltern viel zu spät begreifen: Jockel wird regelmäßig missbraucht. Darüber reden will er nicht, weil ihn die Organisatoren des Pädophilen-Rings massiv unter Druck setzen.

    "Jockels Schweigen", für Jugendliche ab 15 empfohlen, zeigt, welche Folgen das Schweigen hat. Alle schweigen sie, nicht nur Jockel und David. Auch Davids Freund Chip schweigt. Er wird von dem undurchsichtigen Herrn Kirsch erpresst und muss kleine Jungen für den Missbrauchs-Ring ködern. Und Chips Schwester Julie, die Davids Freundin wird, schweigt ebenfalls, obwohl sie Wichtiges weiß. Das Schweigen, egal warum, aus Angst, aus Rücksichtnahme oder aus Scham - es ist der böse Boden, auf dem der Missbrauch wächst. Eine Einsicht, die alle Bücher zum Thema verbindet.

    Adriana Stern aber schweigt nicht! Sie verpackt ihr schwieriges Thema in eine ebenso spannende wie anrührende Geschichte. Den Akt des Missbrauchs selbst erzählt sie allerdings nicht direkt, sondern vermittelt. David hat dem ekelhaften Herrn Kirsch DVDs geklaut, Beweismittel, um ihn anzeigen zu können. Und die zeigen Unglaubliches:

    "Behaarte Männerhände greifen nach Kindern. Nackte Männerkörper begraben sie unter sich. Erstickte Schreie. Kinderschreie. Albtraum auf weißen Bettlaken."

    Wie schreibt man für Jugendliche über sexuellen Missbrauch? Adriana Stern setzt auf Mehrstimmigkeit: Hochemotional erzählt der Ich-Erzähler David von seinem missbrauchten kleinen Bruder, und zärtlich berichtet er von seiner eigenen Love-Story. Spannend schildert er die kriminellen Machenschaften des Herrn Kirsch und den rasanten Showdown mit Entführung und Polizeieinsatz. Deutlich und konkret kommt schließlich die Botschaft rüber: Redet drüber, schweigt nicht! Und: Informiert Euch, guckt hin! Diese Botschaft wird unterstrichen von der Tatsache, dass der Roman inspiriert wurde von einer - wie es im Nachwort heißt - "traurigen und wahren Begebenheit, die sich 2008 in Berlin zugetragen hat." Wenn sich Fiktion und Information hier auch manchmal aneinander reiben - wirkungsvoll ist diese Mischung bestimmt! Beate Teresa Hanika:

    "Ich glaube, dass das so ist, dass man hauptsächliche Leute aufklärt, die im Umfeld von Missbrauchsopfern leben und dass man die ein bisschen sensibler macht für das Thema und wie sich Menschen verhalten, die vielleicht etwas Schlimmes erleben. Das ist das Wichtigste, was das Buch leistet. Die selber drinstecken, die haben schon eine Strategie, die werden nicht auf ein Buch so anspringen und sagen, jetzt geh ich aber los mit meiner Geschichte und hol mir Hilfe. Das ist unrealistisch, wenn man das erwartet, aber dass man die eine oder andere Freundin, Tante oder Mutter erreicht, .. die dann sich denkt, mit der stimmt was nicht oder mit dem, da ist dann schon viel gewonnen."

    Den größten Teil von "Jockels Schweigen" nimmt Davids fiktives Tagebuch ein, in dem er die Ereignisse selbst in der Ich-Form erzählt. Eingeschoben sind dazwischen aber auch einzelne Szenen, die in der dritten Person gehalten sind. In ihnen steht Chip, Davids Freund, im Mittelpunkt. Sein Alltag, seine belastende Beziehung zur Pädophilen-Szene, seine schrecklichen Erinnerungen. Das, was sein Freund David ja gar nicht wissen kann. Chip wird schon so lange missbraucht, dass er das Gefühl verloren hat, wirklich zu existieren. In dieser kurzen, aber eindrücklichen Nebenhandlung wird deutlich, welche Folgen der Missbrauch hat und wie Traumata sich entwickeln. Adriana Stern filtert also die ganz drastische Wirklichkeit - den Missbrauchs-Akt - bewusst. Sie geht auf Distanz, schildert Chips schlimme Erlebnisse - sozusagen aus dem Off - in der dritten Person und Jockels Leiden aus der Perspektive des Bruders.

    So dramatisch und dezent zugleich kann man über Missbrauch schreiben!

    "Muriel tanzte durch die Küche und fuchtelte dabei im Takt der Musik mit ihrem Löffel in der Luft herum. 'Karma karma karma karma karma chameleon, you come and go, you come and go - oh-oh-oh.' Nick glotzte sie an, als hätte sie sich gerade in rosa Pudding verwandelt, und prompt bekam sie einen Lachanfall. Sie klammerte sich an die Tischkante und bebte vor Lachen. 'Du spinnst doch', sagte Nick. 'Du magst das Lied nicht mal.' 'Karma karma ... ', fing sie wieder an. 'Okay, das reicht, bin schon weg', sagte Nick und sprang auf."

    Immer wenn Nick Dane Musik hört, muss er an seine Mutter denken. An die zärtlich-verrückte Muriel, die sich viel zu jung den Goldenen Schuss setzte. Für den 14-jährigen Jungen, der schon vorher eine Menge Probleme nicht nur in der Schule hatte, beginnt damit eine fast unvorstellbare Leidenszeit. Er zerbricht nur darum nicht, weil er letztendlich psychisch stabil ist und eine wichtige Eigenschaft hat: Ihm fällt immer etwas ein. Ein Ausweg, ein Trost oder einfach ein Lied.

    Melvin Burgess' Jugendbuch "Nicholas Dane" spielt im Jahr 1986 im Raum Manchester. Weil Nicks Vater längst verschwunden ist und sich sonst niemand um ihn kümmern kann, wird Nick nach dem Tod der Mutter in einem Heim für Waisen und schwer erziehbare Jugendliche untergebracht. Es ist geschlossen "wie ein Hundezwinger", und wie Hunde verhalten sich nicht nur die Jungen, sondern auch die Aufseher. Härtester Drill, schlechtes Essen, grauenhafte Prügelstrafen und brutale Schlägereien sorgen für die Einhaltung der Hackordnung und der häuslichen Regeln.

    Doch neben der berechenbaren Grausamkeit des Alltags gibt es noch eine andere, unberechenbare Welt. Die Welt des verständnisvollen stellvertretenden Direktors Mr. Creal, der Wunden mit Süßigkeiten heilt, die Jungen mit Bier und Fernsehen verwöhnt und sich einige von ihnen halb zärtlich, halb drohend gefügig macht. Auch Nicholas Dane. Der bemerkt zu spät, dass er kein Glückspilz ist, sondern Opfer:

    "'Sir, Sir', jammerte Nick. In ihm tobten Entsetzen, Furcht und Scham, alles zugleich. Er versuchte die Hand zur Seite zu schieben, aber Mr. Creal verstärkte den Druck (…). 'Wehr dich nicht, Nick. Ah, da sind wir ja', schmachtete Mr.Creal. Die Finger bewegten sich drängender. 'Siehst du? Ist doch schön', murmelte er, als Nick einen Steifen bekam, obwohl er nicht wollte. 'Na klar, das hast du doch schon oft gemacht, jede Wette. Oder etwa nicht?', zischte er ihm ins Ohr. 'Na, siehst du, komm schon. Ja.' (…)" Es war schrecklich, aber Nick wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Mr Creal drückte seinen Kopf gegen ihn, presste seine Beine fest nach unten und bearbeitete ich mit der Hand. Es war schnell vorbei."

    "Nicholas Dane" ist für Jugendliche ab 16 empfohlen. Den Missbrauch selbst schildert Melvin Burgess allerdings nur dieses eine Mal. Doch die latent lauernde Gefahr, der Kreislauf aus sexueller Gewalt, Hass, Schuld- und Schamgefühlen - diese ganze Skala der Emotionen ist für Nick mindestens genau so beängstigend. Das Allerschlimmste, Nicks Vergewaltigung durch drei Männer, deutet er allerdings nur in drei knappen Sätzen an.

    Wieder ist zu fragen: Wie weit kann, soll, darf ein Jugendbuch ins Detail gehen? Beate Teresa Hanika, Autorin des Jugendbuchs "Rotkäppchen muss weinen", meint:

    "Ich denke, Jugendliche können extrem viel aushalten in der Literatur. Ich weiß nicht, ob es gut ist, aber ich glaube, man kann Jugendlichen genau so viel zumuten wie Erwachsenen."

    Von den vier hier vorgestellten Büchern mutet "Nicholas Dane" seinen jungen Lesern am meisten zu. Und: Das Buch ist als einziges durchgehend in der dritten Person erzählt. Das ist sicher kein Zufall, denn auf diese Weise können Autor und Leser besser Distanz halten zu Nicks Leid. Außerdem gibt die Perspektive des allwissenden Erzählers dem Autor immer wieder die willkommene Gelegenheit, sich mit Hinweisen, Erklärungen, Kommentaren und Vorausdeutungen ins Geschehen einzumischen oder auch direkt an den Leser zu wenden. Was oft etwas nervig ist, wenn er zum Beispiel von "unserem Nick Dane" spricht und manchmal auch bevormundend wirkt, weil die pädagogische Absicht allzu deutlich spürbar wird. Auch sprachlich, gerade bei der Schilderung von Gefühlen, wirkt der Roman manchmal hilflos oder klischeehaft.

    Wie bei Adriana Stern signalisieren das Nachwort, hier "Nachspiel" genannt, und eine Liste mit Beratungsstellen, dass es für beide Autoren ebenso wichtig ist, Jugendliche zu informieren, wie ihnen eine gute Geschichte zu erzählen. Adriana Stern bietet Hilfe an, Melvin Burgess kommt dagegen eher pädagogisch rüber. Er stellt die Fiktion in den Dienst der Demonstration. So deutlich und zugleich gut gemeint kann ein Jugendbuch über sexuellen Missbrauch sein!

    "Ich fange an zu lachen und merke, wie ich im Takt der Musik mit dem Kopf wackle. Irgendwie ist alles so locker hier. Vielleicht kann ich den beiden nachher ja doch sagen, dass ich nichts mehr von früher weiß. Vielleicht gibt es ja eine total einfache Erklärung."

    Eine Erklärung gibt es schon dafür, dass Mia sich überhaupt nicht mehr an den Sommer erinnern kann, den sie als Sechsjährige auf dem Dorf verbrachte. Bei ihrem geliebten Onkel Tim, mit ihren Freunden Beni, Mops und Marie. Aber einfach ist diese Erklärung nicht!

    In ihrem Jugendbuch "Die verbotene Zeit" erzählt die Autorin Katrin Stehle von der sechzehnjährigen Mia, die eigentlich alles hat, was man sich nur wünschen kann: nette Eltern, lustige Freundinnen und einen attraktiven Freund. Aber wirklich glücklich ist Mia trotzdem nicht. Von Tobias fühlt sie sich unter Druck gesetzt, denn Sex macht ihr Angst. Und immer wieder hat sie diese schrecklichen Albträume:

    "Ich bin in einem dichten Wald in der Nähe eines Steinbruchs. Plötzlich ist der ganze Boden voller Scherben, Glasscherben in allen Farben. Ein paar zerbrochene Hälse liegen auch herum. Ich versuche die Flasche zusammenzusetzen. Von irgendwoher kommt fröhliche Musik. Die Musik bricht ab. Schatten kommen aus der Dunkelheit auf mich zu. Arme halten mich fest, Hände krallen sich in meine nackten Oberarme. Ich versuche, mich loszureißen. Es werden immer mehr Arme, wie eine Qualle legen sie sich um mich. Sie bekommen Saugnäpfe und sind überall an meinem Körper. Ich schreie."

    Mias Albträume sind eindeutig, auch für den Leser aufwühlend und äußerst bedrängend. Was genau passiert ist in jenem verlorenen, vergessenen Sommer erfährt sie nur schrittweise: Sie wurde im Wald von ein paar Jugendlichen missbraucht. Vergewaltigt. Ihr kleiner Freund Beni musste zusehen, panisch vor Schrecken reglos hinter einem Busch versteckt. Die Tat selbst wird nur angedeutet, wäre auch zu grauenhaft für ein Jugendbuch. Aber Mias Albträume offenbaren das Trauma.

    Katrin Stehle geht es - wie allen Autoren der vier vorgestellten Bücher - weniger um die Tat selbst als um die Folgen des Missbrauchs. Mia kann sich nicht erinnern, das Vergessen schützt sie vor dem Schmerz. Und ihre Eltern haben nie mit ihr darüber gesprochen. Denn die Mutter hat als Kind selbst einen Missbrauch erlebt und will Mia vor ihren Erinnerungen bewahren.

    Katrin Stehle zoomt sich noch näher an das missbrauchte Kind heran als Adriana Stern oder Melvin Burgess. Erzählt sie doch in der Ich-Form aus der Perspektive des Opfers selbst, sozusagen von innen heraus. In atemlosen Sätzen schildert das Mädchen seinen eigenen Weg in die Vergangenheit. Dass diese Konfrontation mit ihren Erinnerungen gut und befreiend ausgeht, ist nicht selbstverständlich, und darum wichtig! Für Mia, für die Leser, aber wohl auch für die Autorin - wie Beate Teresa Hanika aus eigener Erfahrung bestätigt.

    "Es gibt ja auch viele Jugendbücher, die kein positives Ende haben. Ich hab mir nur für meine Bücher vorgenommen, dass ich meine Helden nicht wirklich hängen lassen will. Das für die das gut ausgeht, denn das Leben ist ja schon hart genug. Es macht mir auch nicht wirklich Spaß, etwas zu schreiben, was so ein wirklich deprimierendes Ende hat."

    Ihren Lesern, Jugendlichen ab 13, mutet Katrin Stehle allerdings einige Stereotypen zu. Der lieblose alte wird durch den verständnisvollen neuen Freund ersetzt; Mia gelingt es, ihre Erlebnisse zeichnend zu verarbeiten und eine lang ersehnte mail leitet das verdiente Happy-End ein. Davon ist einiges vorhersehbar, anderes etwas melodramatisch. Auf der anderen Seite, das muss man realistisch sehen, sind es gerade diese klischeehaft-vertrauten Motive, die Mias Missbrauchs-Geschichte in einen positiven, Mut machenden Jugendroman verwandeln. Wobei das Buch die Gattungsbezeichnung "Roman" nicht trägt. Wie übrigens auch Adriana Sterns "Jockels Schweigen" und Melvin Burgess' "Nicholas Dane" nicht als "Romane" auftreten. Doch egal, wie man das Buch nennt, Katrin Stehles "Die verbotene Zeit" zeigt: So schlicht erfunden und zugleich so eindringlich kann eine Missbrauchs-Geschichte erzählt werden!

    "Ich stell meinen iPod an, scroll durchs Menü und entscheid mich für Inside Me. Ein Moment Stille, das Ticken eines Schlagzeugs, dann setzt der Bass ein, die Gitarren fangen an zu wummern und ich seh zu viel."

    Inside me - in mir - Dawn findet dort zu viele Erinnerungen, die sie nicht aussprechen kann. Was sie trotzdem erzählt, wie sie erzählt, das wummert und hämmert so schmerzhaft, dass man bald spürt, sie ist tief verletzt.

    Dawn ist 15 Jahr alt und die Ich-Erzählerin von Kevin Brooks neuem Jugendroman "Killing God" für Leser ab 14. Sie findet sich hässlich und unattraktiv und hängt nur in schlabbrige Klamotten rum. Dawns Vater, Junkie und Alkoholiker, ist vor zwei Jahren verschwunden. Unter den Dielenbrettern des Schlafzimmers ließ er eine Sporttasche voll Geld und eine Pistole zurück. Und Dawns Mutter verschläft - pillen-, alkohol- und fernsehsüchtig - ihre Tage auf der Couch im Wohnzimmer. Das alles ist schlimm. Doch das Schlimmste verschweigt Dawn lange:

    "Die Höhle in meinem Kopf wird immer enger und die Höhle in meinem Kopf wird immer dunkler und die Höhle in meinem Kopf wird immer kälter und ich glaub, wenn ich nicht bald aus ihr rauskomm(!), bringt mich die Höhle um. Dawn ist eine Tochter. Dawn ist ein Sexobjekt. Ich heiß Dawn. Ich bin dreizehn Jahre alt. Gott hilf mir."

    Und da Gott ihr nicht geholfen hat, damals, als der Vater sie besoffen missbrauchte, will Dawn ihn, Gott, umbringen. Mit wütenden, wuchtigen Worten. In klaren, kurzen, schnörkellosen Sätzen, die wie beiläufig dahergesagt wirken oder grell wie Hilferufe. In intensiven, durchdringenden Bildern, die wehtun wie Ohrfeigen. In einem vielschichtigen Textgeflecht aus Tagebuch, Monolog, Fragebögen und Songs. Den Vater liebt sie trotzdem noch.

    Ganz nah schreibt sich Kevin Brooks ran an das Thema. Lässt Dawn in der Ich-Form erzählen über das, was erst zwei Jahre zurück liegt. Außerdem redet sie den Leser immer wieder direkt an, bezieht ihn ein in ihr Projekt, Gott zu töten. Kein Wunder, dass "Killing God" als einziges der vier vorgestellten Bücher die Gattungsbezeichnung Roman trägt und keinen Anhang mit Adressen für Missbrauchsopfer hat. Kevin Brooks hat, ohne jede pädagogische Intention, ganz einfach "nur" - in Anführungszeichen - einen Roman geschrieben: ein einfühlsames, tapferes und trotziges Stück Jugendliteratur.

    Gott ist schuld an dem, was passiert ist, weil er Dawns Vater verführt hat. Ihren rührenden, zärtlichen, angehimmelten Dad. Den geliebten Dealer und Kriminellen. Den Mann, der sie vergewaltigt hat.

    "Alles hält an und ist tot. Und ich bin nicht mehr Dawn. Ich bin ein erstarrtes Ding, das vollkommen still liegt und seinen Körper hart wie Stein werden lässt und versucht, nicht zu fühlen, was geschieht ... Aber ich fühl es. Mehr kann ich nicht sagen. Ich kann es nicht noch mal durchstehen. Ich kann mich nicht erinnern."

    Dass Dawns Erzählung die Kraft besitzt für Witz und Selbstironie; dass die ganze Geschichte wie ein Thriller aufgebaut ist bis hin zum furiosen Schluss und dass Kevin Brooks seinen Figuren und Lesern ein Ende gönnt, das zwar nicht happy ist, aber eine Erlösung - das alles macht "Killing God" zu einem eindrucksvollen machenden Jugendroman.

    Dazu kommt die Rolle, die der Musik zufällt. Sie gibt - mehr noch als in den anderen Büchern - den Ton an und den Rhythmus vor. Brooks, der selber Rock'n'Roll-Star werden wollte, webt die Titel und Texte der Band "The Jesus and Mary Chain" wie Widerhaken in seinen Roman ein. Die Musik ist für Dawn Fluchtort, Rauschort, Traumort und Soundtrack ihres Lebens. So großartig-einfach und so melodiös zugleich kann man auch über Missbrauch schreiben!

    Ob dezent oder dramatisch, erfunden oder authentisch, emotional oder distanziert - Jugendbücher zum Thema Missbrauch gehen sehr verschiedene Wege: Was sie aber verbindet: Alle sind sie wichtig!


    Literaturliste:

    Kevin Brooks: Killing God. 272 Seiten, dtv
    Melvin Burgess: Nicholas Dane, 448 Seiten, Carlsen
    Beate Teresa Hanika: Rotkäppchen muss weinen, 222 Seiten, Fischer
    Katrin Stehle: Die verbotene Zeit, 224 Seiten, Gabriel Verlag
    Adriana Stern: Jockels Schweigen, 320 Seiten, Jacoby & Stuart