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Miqui Otero: „Simón“
Bücher machen noch kein Leben

Der spanische Journalist und Autor Miqui Otero fragt in seinem neuen Roman danach, was die Vorstellungswelten der Literatur für das reale Leben bedeuten. „Simón“ ist ein ausschweifendes Familienepos aus einem Land in der Krise.

Von Cornelius Wüllenkemper | 02.11.2022
Miqui Otero: "Simón"
Als Chronist Barcelonas wird Miqui Otero vom Verlag angekündigt. Sein Roman "Simón" ist allerdings eher ein leicht sentimentales Märchen über die Antithese von Kunst und Leben. (Portraitfoto: Elena Blanco / Buchcover: Klett-Cotta)
„Wenn alles vorbei ist, wirst du weinen.“ Der erste Satz ist ein wiederkehrendes Motiv in Miqui Oteros Roman. Es lässt keinen Zweifel daran, dass diese Geschichte eine traurige sein wird. In dieser Hinsicht hält Otero Wort, denn einfach hat es in seinem Roman kaum jemand. Glücklich ist niemand. Die spanische Wirklichkeit in den Jahren 1992 bis 2018, von denen Otero in den drei Teilen seines Romans erzählt, ist geprägt von gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Niedergang, von persönlichen Krisen, Hoffnungslosigkeit und einer Schere der Ungleichheit, die sich erbarmungslos weitet. Diese Ungleichheit nimmt ihren Anfang, als Simón, der Held dieses Romans, 1984 geboren wird - über einer Kneipe in Barcelona.
„Wer zur Tür hereinkam, für den blieb die Zeit stehen, wie wenn man ein Kino oder ein Theater betritt. So wie Simón sich nicht mehr daran erinnerte, dass er die Kneipe jemals betreten hatte (er war praktisch dort geboren), so erinnerten sich seine Eltern und sein Onkel und seine Tante nicht mehr daran, wann sie zum letzten Mal über die Türschwelle nach draußen getreten waren, um Luft zu schnappen oder eine Kippe zu rauchen.“

Bühne für den Niedergang des Neoliberalismus

Miqui Otero inszeniert die Kneipe als Bühne des Niedergangs einer neoliberalen Gesellschaft voller Unglücklicher, Alkoholiker und Nostalgiker.
Sie hängen einer Vergangenheit nach, in der es, wie es einmal heißt, noch öffentliche Telefonzellen gab und als Autofahrer noch durch Aufblenden vor Verkehrskontrollen warnten. Der kleine Simón lernt rasch, dass Lebensglück und echte Freundschaften nicht in der Wirklichkeit, sondern in Büchern zu finden sind. Die bringt sein Cousin Rico an jedem Sonntagmorgen vom Flohmarkt mit. Er nennt sie „Freie Bücher“ und versteckt sie, so dass Simón sie wie auf einer Schnitzeljagd aufspüren muss.
"'Die Freien Bücher, Simón, sind wie Fechten: Sie sind eine Gefahr für Leib und Leben und feiern es zugleich', sagte Rico. 'Ah.' Auf diesen Einsilber griff Simón häufig zurück: Er übertünchte, dass man etwas nicht wusste, und legte einen nicht so fest wie ein Ja. 'Ich will nicht nur, dass du die Bücher lebst. Ich will, dass du in ihnen lebst.'"

Kann Literatur vor der Wirklichkeit retten?

Ist die Liebe zur Literatur mächtig genug, um sich gegen die grausame Wirklichkeit zu stemmen? Das ist die Grundfrage dieser Geschichte. Simón fühlt sich bald selbst wie ein Romanheld. Mit elf Jahren ist sein größter Wunsch „heilig zu bleiben“, heldenhafter und hoffnungsvoller als die anderen. Er ist ein einsamer Außenseiter, der seinem geliebten, plötzlich verschwundenen Cousin Rico nachtrauert. Was niemand weiß: Rico ist vor den Schuldeneintreibern eines seiner Drogengeschäfte aus Barcelona geflohen.
Diese Grundkonstellation dient Miqui Otero als Hintergrund für allerhand gegenwartsrelevante Themen. Simón beginnt eine Lehre als Koch in einem Gourmetrestaurant und erlebt die erniedrigende Behandlung auf dem Ausbildungsmarkt. Seine Kollegin Candela hat als gebürtige Dominikanerin mit postkolonialer Diskriminierung und sexueller Belästigung zu kämpfen, während Simóns Freundin Estela sich gegen die globale Nahrungsmittelwirtschaft engagiert. Estela hat grünlich schimmernde Haare, weil ihr Vater, auch er ein Alkoholiker, eine Polierwerkstatt betreibt. Das allein macht sie zur Außenseiterin unter den Benachteiligten. Ihre Mutter wiederum verkauft alte Bücher auf dem Flohmarkt und verliert darüber den Verstand.

Ein überdramatisiertes Panorama

Dies sind nur einige Stationen aus einer ganzen Reihe von überdramatisierten Szenen und Konstellationen. Sie hinterlassen den Eindruck, als gehe es dem Erzähler nicht um eine konsistente Geschichte, sondern um ein rein emotionales Panorama seiner Figuren.
„Manch einer wird sagen, dass Schriftsteller lügen, aber seien wir wenigstens mit den Figuren gnädig, denn manchmal sind sie tatsächlich ehrlich. Manch einer wird sagen, dass Simón übertrieb, aber vielleicht ist der Leser kein Jugendlicher oder, schlimmer noch, vielleicht ist er ein Erwachsener, der vergessen hat, wie sich in diesem Alter alles anfühlt.“
Ein paar Jahre später hat Simón das konventionelle Berufsleben aufgegeben. Als Billard-Meister und Gastro-Experte reist er an der Seite eines reichen Freundes durch die Welt. Dabei erlebt er die menschlichen Niederungen der privilegierten Gesellschaft. Erfindung oder Wahrheit?

Raunende Lebensweisheiten, hochfahrende Gefühle

Miqui Oteros Erzähler verfährt nach einem allzu einfachen Prinzip. Unfertig und unglaubwürdig wirkende Handlungswendungen oder Figuren sind für ihn Teil der Gestaltungsfreiheit jeder fiktionalen Geschichte. Was er auftischt, sind vor allem raunende Lebensweisheiten, schablonenhafte Dramen und hochfahrende Gefühle. Was Oteros Erzähler zu ahnen scheint, wenn er vorauseilend schreibt:
„Simón hatte bereits vor einiger Zeit jede epische Lesart seines Lebens und seiner Zukunft abgeschüttelt, und der Literaturkritiker, der so manche legendäre Figur als flach oder effekthascherisch verurteilte, war nichts anderes als der Lauf der Zeit.“
Am Ende stellt sich heraus, dass Simón und sein Cousin Rico auf ihre je eigene Art daran scheitern, abseits der Heimat ein Leben wie im Roman zu führen. Die Realität dreht sich weiter während ihrer Abwesenheit. Die Kneipe der Familie ist geschlossen, alte Bindungen sind aufgelöst, und zudem wird Spanien von der Wirtschaftskrise und islamistischem Terror erschüttert.
Die zeitgeschichtliche Ebene, die die krisenhafte, allzu oft auch larmoyante Grundstimmung dieses Romans erklären könnte, kommt leider zu kurz. „Wenn alles vorbei ist, wirst du weinen“ - um das Leitmotiv seiner Geschichte wie eine Prophezeiung zu erfüllen, zieht der Autor alle emotionalen Register. Miqui Otero ist kein Chronist Barcelonas, wie der Verlag ihn präsentiert, sondern der Erzähler eines ziemlich gefühligen Märchens über die krude Wirklichkeit jenseits der Vorstellung vom eigenen Leben. In einem Nachtrag erhebt der Autor allegorisch sein Glas auf die Bücher, die ihn prägten, auf seine Freunde und sogar auf sich selbst. Etwas weniger Prätention hätte seiner Geschichte in vieler Hinsicht gutgetan.
Miqui Otero: „Simón“
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Klett-Cotta, Stuttgart
442 Seiten, 25 Euro