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Bücher von Alexander von Humboldt und Ludwig Fischer
Naturerforschung mit literarischem Duktus

Alexander von Humboldt nannte es sein Lieblingswerk: die "Ansichten der Natur" über seine fünf Jahre dauernde Amerikareise. Warum der geniale Naturforscher auch inspirierend für die Literatur war, erklärt Ludwig Fischer. Vor allem fragt Fischer nach der aktuellen Notwendigkeit des "Nature Writing".

Von Cornelia Jentzsch | 17.06.2019
Zu sehen sind die beiden Buchcover "Ansichten der Natur" von Alexander von Humboldt und "Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur" von Ludwig Fischer vor dem Hintergrund eines Urwaldes.
Alexander von Humboldt, der im September 250. Geburtstag hat, bekommt auch in Ludwig Fischers Buch zum Nature Writing seinen Platz (Buchcover Humboldt: Die Andere Bibliothek/ Buchcover Fischer: Verlag Matthes & Seitz Berlin)
Im Sommer des Jahres 1799 besteigt Alexander von Humboldt die "Pizarro", eine im Hafen des spanischen La Coruña vor Anker liegende Korvette. In seinem Gepäck führt Humboldt etwa 50 wissenschaftliche Instrumente mit sich - neben Fernrohren, Teleskop und nautischen Instrumenten auch ein Inklinatorium zur Messung der Erdmagnetfeldlinienneigung, ein Cyanometer zur Bestimmung der Himmelsbläue, Messgeräte für Luftgüte, -feuchte und -druck, ein Hydrometer für Dichte und Gewicht von Flüssigkeiten und ein Elektrometer zum Messen von Ladungen und Spannungen. Ein ganzes wissenschaftliches Programm deutet sich hier an. Das alles sei aber nicht Hauptzweck seiner Reise, schreibt Humboldt in einem Brief an den Salzburger Naturforscher und Staatsmann Karl Freiherr von Moll. Ihm gehe es um das Zusammenwirken der Kräfte und um den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt. Diese Harmonie wolle er untersuchen und beschreiben.
Legendäre Forschungsreise
Nach über einem Monat erreicht das Schiff den Hafen von Cumana in Venezuela. Humboldts legendäre Forschungsreise durch Amerika beginnt, sie wird fünf Jahre dauern. Einen ersten ausgewählten Eindruck dieser Reise veröffentlicht Alexander von Humboldt drei Jahre nach seiner Rückkehr im Buch "Ansichten der Natur". Sein Lieblingswerk, wie er es später nannte.
"Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ocean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexicanischer Gebirge, entstanden sind. [...] Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe."
In diesem Buch berichtet Alexander von Humboldt über geografische und klimatische Verhältnisse, er schildert das nächtliche Tierleben im Urwald, beschreibt seine Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse oder berichtet vom letzten Herrscher des Inkareiches, Atahualpa. Ihn interessieren neben der Natur in allen ihren Ausformungen ebenso die Menschen, die sich je nach Situation in ihr eingerichtet haben wie jene Postausträger, die ihre Briefe in einem Fluss schwimmend vor Wasser geschützt auf dem Kopf transportieren.
Enthalten ist zudem Humboldts einzige literarische Erzählung "Die Lebenskraft oder der rhodische Genius", ursprünglich veröffentlicht in Schillers Zeitschrift "Die Horen". Hier erklärt er anhand einer Parabel sein Naturverständnis. Humboldts Studien in Chemie und Physiologie trugen dazu bei, dass er die bis dahin gültige allgemeine Idee einer in allem gleichermaßen wirkenden Lebenskraft verwirft. Er unterteilt stattdessen in belebte und unbelebte Stoffe, die miteinander im Austausch stehen.
Ständige Korrespondenz
Der Band "Ansichten der Natur" macht anschaulich, wie er zu seinem außergewöhnlichen enzyklopädischen Wissen kam. Auf seiner Reise durch Amerika konnte er deshalb die neuesten wissenschaftlichen Instrumente nutzen und wusste stets über den Stand der Forschungen Bescheid, weil er sich in ständiger länderübergreifender Korrespondenz aktuelle Forschungsergebnisse und Reiseberichte beschaffte. Was er tatsächlich mit seinem Reisebericht bezweckte, schrieb er später an seinen Freund Karl August Varnhagen von Ense:
"Ein Buch von der Natur muss den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen. Worauf ich aber besonders wie in meinen ‚Ansichten der Natur’ geachtet, und worin meine Manier von Forster und Chateaubriand ganz verschieden ist, ich habe gesucht, immer wahr beschreibend, bezeichnend, selbst scientifisch wahr zu sein, ohne in die dürren Regionen des Wissens zu gelangen."
Alexander von Humboldts große Lebensidee war, den unter der Decke der Erscheinungen verhüllten Geist der Natur zu ergreifen. Er wusste um die Gefahr trockener Wissenschaftlichkeit, langer Statistiken und blinden Messwahns. Ihn trieb weniger ein Wille zur Leistung, sondern eine grandiose Neugier. Humboldt bewahrte sich den Respekt vor den diffizil austarierten Wirkungskräften und der Großartigkeit der Natur. Er begriff sie als komplex wirkendes Ganzes - sie war ihm, wie er sagte, Einheit in der Vielfalt. Die Natur vermittelte Humboldt nicht nur als empirisch erkennbare, sondern vor allem fühlbare und in ihrer Substanz sinnlich erfahrbare Welt. Diesen radikalen Ansatz beschreibt die Historikerin Andrea Wulf in ihrem Buch "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur": Humboldt sei der erste, der Pflanzen nicht klassifizierte, sondern sie als Lebensformen eines bestimmten Standorts und Klimas erkannte und damit die globale Kraft der Natur sah.
Humboldts Rolle für die Literatur
Auch für die Literatur spielte Humboldt eine wichtige Rolle. Der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Naturtheoretiker Ludwig Fischer erklärt in seinem soeben erschienenen Buch "Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur":
"Alexander von Humboldt wurde, weil sich in vielen seiner Schriften genaueste Naturerkundung, ja über weite Strecken dokumentierte, exakte Naturerforschung mit einem bemerkenswerten literarischen Duktus der Darstellung verband, nicht nur für Henry David Thoreau zu einem bewunderten Vorbild. Sein Einfluss auf das frühe ,Nature Writing' ist enorm. Umso erstaunlicher, dass eine vergleichbare Spur in der deutschsprachigen Literatur nicht zu erkennen ist. Aber bei Humboldt selbst findet sich ein Hinweis darauf, weshalb die literarisch vergegenwärtige Erkundung von Natur, wie sie in England und den USA sich als ,Nature Writing' zu entfalten begann, in Deutschland unter Verdacht geriet, so dass Wissenschaftsprosa, Natur-Sachbücher und Naturpoesie deutlich getrennte Wege gingen."
Mit diesem Nature Writing, im 18. und 19. Jahrhundert in der anglophonen Literatur entstanden, beschäftigt sich Ludwig Fischer in seinem hochaktuellen Buch. Fischer fragt nach der heutigen gesellschaftlichen Brisanz dieser literarischen Disziplin und ihrer möglichen Rolle für die deutschsprachige Literatur. Eigentlich aber ist Fischers Buch eine polemische Untersuchung jenes Platzes, den die Natur in unserem gegenwärtigen Denken einnimmt.
"In Deutschland brach nach dem Vormärz und der gescheiterten bürgerlich-liberalen Revolution die Entwicklungslinie ab, die mit den Werken von Georg Forster und Alexander von Humboldt angelegt war – beide haben übrigens nicht ohne Grund entscheidende Förderung für ihre Arbeiten im Ausland, in England, Frankreich und auch Russland erhalten."
Ein heutiges "Nature Writing"
Bis heute unterliegen literarisch verarbeitete Naturerfahrungen, so Fischer, entweder dem Verdacht einer unverhältnismäßigen Romantisierung und Idyllisierung oder dem Argwohn regressiver Vorstellungen von Heimat und Ursprünglichkeit. Naturvorstellungen und Naturverständnisse sind laut Fischer immer kulturell bestimmt und sozial wie historisch begründete Konstruktionen. Ein heutiges "Nature Writing" müsse berücksichtigen, dass unmittelbare Erfahrungen in und an der Natur nicht mehr möglich sind. Davon gehen auch postmoderne Theorien aus. Natur ist inzwischen weltweit kulturell überformt oder zumindest vom Menschen beeinflusst. Aufschlussreich ist Fischers Hinweis, dass viele Natives die Unterscheidung in Natur und Kultur, also in vom Menschen Unberührtes und von ihm Gestaltetes, überhaupt nicht kennen.
",Nature Writing' widmet sich heute vorrangig den so genannten Kulturlandschaften, bis hin zu den urbanen Brachen und den ,Verwilderungen' in den Techno-Räumen. Und selbst wo vorgeblich ,unberührte Wildnis' erkundet und beschrieben wird, geht es immer um die Stellung der erkundenden und tätigen Menschen, nicht um den Entwurf einer idyllischen oder erhabenen ,Natur' ohne ihn."
Den Verlust unmittelbar erfahrbarer Natur, den wir uns selbst zuzuschreiben haben, müssen wir teuer bezahlen. Wir meinen die auf einen Rohstofflieferanten reduzierte Natur im Griff zu haben. Sprechen wir jetzt angesichts der erschreckenden Klimaveränderung von einer Rache der Natur, so Fischer, verkennen wir unsere Rolle als Verursacher und Leidender, also als Doppelwesen im Naturgeschehen. Ein neues deutschsprachiges Nature Writing könnte hier eine aufklärende Rolle spielen. Denn diese Art Literatur erfasst nicht nur die Natur in all ihrer Faszination, sondern bezieht die Selbstreflexion des Menschen inmitten der Natur mit ein. Es geht einem Nature Writer vor allem um den Menschen und sein Verhältnis zur Natur, also um eine schonungslose Selbstbefragung an den Quellen des biologischen Ursprungs.
Vertrauensvolles Verhältnis zur Natur
Ausgehend von den Moor-Renaturierungen in Deutschland empfiehlt Ludwig Fischer ein abwartend-vertrauensvolles Verhältnis zur Natur :
"Abschied von einem Begriff wie ,Renaturierung' – nicht ,zurück in einen möglichst natürlichen Zustand der Selbstregulation', sondern offen lassen, was die zehnte oder zwanzigste Generation nach uns – sofern dann Menschen leben, die das Erbe eines Vertrauens in ,eigentätige Natur' annehmen wollen oder können – als ,Naturzustände' vorfinden wird."
Alexander von Humboldt: "Ansichten der Natur"
Die Andere Bibliothek, Berlin. 512 Seiten, 24 Euro.
Ludwig Fischer: "Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur"
Verlag Matthes & Seitz Berlin, Berlin. 352 Seiten, 30 Euro.