Bürgerbeteiligung
Wunschliste an die EU

Mitbestimmung in der Europäischen Union? Viele Bürger haben eher ein Gefühl der Machtlosigkeit entwickelt. Kein Wunder also, dass auch die Wahlbeteiligung bei Europawahlen kontinuierlich gesunken ist. Die Bürgerbeauftragte der EU will das so nicht weiter hinnehmen und fragt: Was brauchen die EU-Bürger, um sich besser als Teil des Ganzen zu verstehen?

Von Thomas Otto |
    Etwa 300 Teilnehmer haben sich in einem der großen Sitzungssäle des EU-Parlaments in Brüssel eingefunden. Eingeladen hat Emily O'Reilly, die Bürgerbeauftragte oder Ombudsfrau der EU. Ihre Aufgabe ist es, Bürgerbeschwerden über die EU-Institutionen nachzugehen.
    "Die Menschen würden zu einer Institution oder einer Regierung stehen, wenn sie auf diese auch Einfluss hätten. Wenn sie nicht das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Stimme etwas bewegen können, dann werden sich viele natürlich nicht als Teil des Ganzen fühlen."
    Deshalb hatte sich O'Reilly zum Ziel gemacht, die Wünsche der Bürger an das neue EU-Parlament zu sammeln. Eine EU-Wish-List soll am Ende daraus entstehen.
    Großbritannien, Irland, die Niederlande, Rumänien, Dänemark – mit Jugendlichen aus der ganzen EU hat Emilly O'Reilly bereits interviews führen lassen und diese im Netz veröffentlicht. Nun sind alle Bürger der EU gefragt – entweder im EU-Parlament in Brüssel oder über das Netz per Youtube und Twitter. Und auch wenn nur wenige Twitter-Nutzer zu Wort kommen, im Saal melden sich umso mehr Teilnehmer: Bürgerbeteiligung, mehr Einsatz der Mitgliedsstaaten, die Legalisierung von Cannabis, der Wunsch nach einer höheren Wahlbeteiligung und ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis in der EU.
    Die Wünsche der Teilnehmer an das neue EU-Parlament sind vielfältig. Ein Wort fällt aber immer wieder: Demokratie. Die kommt vielen zu kurz. Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments und einer der möglichen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, teilt diese Kritik.
    "Wohin auch immer es geht, es braucht eine Demokratie über die Staaten hinaus. Man verschiebt die nationale Souveränität auf eine überstaatliche Ebene. Aber man vergisst die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Exekutive und Justizsystem. Damit fehlt es an demokratischer Verantwortung und Verantwortbarkeit. Deshalb bestehe ich so stark darauf, das zu tun, was wir in den Ländern gelernt haben: Die Bürger mit einzubeziehen."
    Mangelnde Demokratie und fehlende Informationen
    Damit, dass die Bürger nun mehr Einfluss auf die Wahl das Kommissionspräsidenten haben, werde die EU demokratischer, so Schulz. Den Besuchern im Saal ist das aber nicht genug. Denn bei der Frage der Mitbestimmung liegt für viele das Problem tiefer, findet auch diese junge Teilnehmerin:
    "Seit über einer Stunde reden wir über mangelnde Demokratie. In meinen Augen gibt es aber etwas, das vorher angesprochen werden sollte: die mangelnde Information. Selbst wenn sich die Bürger mehr einbringen können, wissen sie nicht wie. Ich habe an einem Projekt in einer Schule teilgenommen. Die Hälfte der Schüler wird an der Wahl teilnehmen dürfen. Keiner von ihnen wusste, dass und wie sie wählen können. Das ist für mich einer der ersten Punkte, die angesprochen werden müssen.”
    Für Kommissionspräsident Barroso zeigt das, dass es an einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit fehlt. Und das schlägt sich unter anderem bei der Wahlbeteiligung nieder, die kontinuierlich sinkt. Ohne wirkliche europäische Parteien im Parlament und ohne eine EU-weite öffentliche Debatte könnten sich die Menschen auch nicht mit der EU identifizieren, findet Barroso.
    "Wenn in einem Nationalstaat etwas schief läuft, können die Menschen die Regierung dafür verantwortlich machen. In Europa ist das viel komplexer. Wir sind 28 Demokratien plus die EU-Institutionen. Es ist viel schwerer, alle Informationen zu lesen und zu verstehen. Und mit diesem Problem müssen wir offen umgehen."
    Martin Schulz am Rednerpult im Europaparlament
    Auch Martin Schulz nahm an der Diskussion teil (dpa / Patrick Seeger)
    Martin Schulz: Blame Game beenden
    Die Bürger sollten die Dinge kritisieren, mit denen sie nicht zufrieden sind. Aber sie sollten der EU nicht den Rücken zukehren, mahnt Barroso. Auch wenn viele Menschen das Vertrauen in die EU verloren hätten, wie Parlamentspräsident Schulz betonte, die Schuld daran liege nicht allein bei der EU:
    "Mein Wunsch ist, dass wir das beenden, was ich als 'Blame Game' bezeichne. Wenn es im Rat einen Erfolg gibt, dann hört man von 28 verschiedenen Staatschefs das Gleiche: 'Ich habe für mein Land erreicht ... ' Gibt es keinen Erfolg, liege das an der Inkompetenz der EU. Die gleichen Leute bezeichnen ihr Versagen als Versagen der EU und ihren Erfolg als eigenen Sieg. Dieses 'Blame Game' zerstört den Geist Europas."
    Interaktiv mit den Bürgern der EU zu diskutieren, das hatte sich die Bürgerbeauftragte O'Reilly zum Ziel gesetzt, am Ende wurde es dann doch eine klassische Saalveranstaltung. Wirklich zu Wort kamen nur die, die an diesem Morgen auch in Brüssel dabei waren. Und das waren keine ganz normalen EU-Bürger. Denn von den etwa 300 Gästen im Saal gehörte nur eine Handvoll nicht zu irgendeiner der vielen Organisationen und Interessenvertretungen, die hier in Brüssel arbeiten.