
An Weihnachten vor 30 Jahren begann in Liberia einer der blutigsten Bürgerkriege der Geschichte. In den folgenden 14 Jahren wurden mehr als 250.000 Menschen ermordet, rund ein Zehntel der damaligen Bevölkerung. Eine Million floh ins Ausland. Im ganzen Land zogen bewaffnete Banden marodierend durch die Dörfer, brandschatzten, mordeten und vergewaltigten.
Inzwischen herrscht in dem westafrikanischen Land Frieden - aber die Aufarbeitung der Kriegsgräuel stockt. Die Situation erinnert in Vielem an die Bundesrepublik in den späten 1950er und frühen 60er-Jahren: Bis auf wenige Ausnahmen sind die Täter in Liberia ungestraft davon gekommen. Kaum eine Behörde, in der nicht auch Mörder, Folterknechte und Vergewaltiger arbeiten. Und auch die alten Warlords sind zurück. Viele haben ihre Macht in Friedenszeiten nicht verloren und einige von ihnen wie der Pastor und Kriegsverbrecher Prince Johnson sind sogar in die Politik gegangen.
"Liberia in seiner heutigen Form wurde nicht zuletzt durch den transatlantischen Sklavenhandel in die Vereinigten Staaten geprägt. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte eine Gruppe einflussreicher weißer Amerikaner den Plan, befreite Sklaven zurück nach Afrika zu bringen. Und tatsächlich siedelte die 'amerikanische Kolonisierungsgesellschaft' ab 1822 befreite Sklaven in der Gegend an, die später Liberia werden sollte."
Aus den ehemaligen Sklaven waren über Nacht Kolonialherren geworden, die die einheimische Bevölkerung für sich auf ihren Baumwoll-, Bananen-, und Kautschukplantagen schuften ließ.
Die Herrschaft der "Americo-Liberians" wurde erst gebrochen, als ein gewisser Samuel Doe, ein unbekannter Offizier mittleren Rangs, 1980 mit einer Handvoll Männer den Präsidentenpalast stürmte und den Präsidenten in seinem Schlafzimmer erschoss.
Doe machte sich auf einen Rachefeldzug gegen die Ethnien der Putschisten. Tausende fielen seiner Vergeltung zum Opfer. Doch auch das sollte nur das Vorspiel sein. Bis zum Ausbruch der Katastrophe vergingen noch einmal fünf Jahre. Und dann, an Heiligabend vor genau 30 Jahren öffneten sich die Tore der Hölle.
Es war der Beginn des liberianischen Bürgerkrieges, der zu einem der blutigsten Konflikte in der Geschichte Afrikas werden und die gesamte Region ins Chaos stürzen sollte. Im Bericht heißt es weiter:
"Und noch vor dem Ende des nächsten Jahres war die Hauptstadt gefallen und der damalige Präsident Samuel Doe von einem Rebellenführer aus der Provinz Nimba gefangen genommen und zu Tode gefoltert worden."
Der "Rebellenführer aus Nimba" von dem hier die Rede ist, ist niemand anderer als Prince Johnson. Derselbe Mann, der heute sonntags in einer Kirche am Stadtrand von Monrovia predigt. Es gibt ein Video, das die Ermordung von Präsident Samuel Doe zeigt. Man sieht Doe in Unterhose auf dem Boden sitzen, umringt von uniformierten Männern. Die Hände sind ihm auf dem Rücken gefesselt, die Beine zusammengebunden.
"Prince, ich flehe dich an", bettelt Doe in dem Video. Noch lächelt er, versucht Prince Johnson zu schmeicheln. "Wenn zwei Männer kämpfen, dann gewinnt einer und der andere verliert. Du hast gewonnen, Prince."
Prince Johnson ist der Triumph deutlich anzusehen. Er hat den Jäger gejagt und gestellt. Die Beute liegt wimmernd vor ihm. Prince Johnson lehnt sich grinsend in seinem schwarzen Ledersessel zurück. Ein Uniformierter reicht ihm eine weitere Dose Bier.

Im Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission finden sich konkrete Handlungsempfehlungen. Kernpunkt ist die Einrichtung eines Sondergerichts für Kriegsverbrechen. Der zweite wichtige Punkt ist die Forderung, dass alle, die einer kriegsführenden Partei angehört haben, alle Anführer, politischen Entscheider, Geldgeber, Organisatoren und Kommandeure bestraft werden müssen.

Nathaniel Kwabo ist Direktor der Wahrheits- und Versöhnungskommission und war mitverantwortlich für die Entscheidung Sirleaf in diese Liste aufzunehmen: "Es gab einige, die Sirleaf zu Recht oder zu Unrecht beschuldigt haben, eine entscheidende Rolle im Krieg gespielt zu haben."
Angesichts der Regeln der Kommission sei eine andere Entscheidung in ihrem Fall daher kaum möglich gewesen. "Das hat ihr natürlich kaum einen Anreiz gegeben, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen."
Der Vorwurf gegen Ellen Johnson-Sirleaf: Sie soll zumindest zu Beginn des Krieges Charles Taylor unterstützt haben. Die Frage ist: in welchem Umfang und wie lange? In ihrer Autobiografie erzählt die ehemalige Präsidentin, dass sie Charles Taylor 1989 10.000 Dollar von einer liberianischen Diaspora-Gruppe in den USA geschickt habe, um Nahrungsmittel für seine Truppe zu beschaffen. Das sei allerdings zu einer Zeit gewesen, so Sirleaf, bevor irgendwer hätte ahnen können, welche Gewalt Taylor über das Land bringen würde.
Zwei Jahre nach Erscheinen des Berichts steht am 11. Oktober 2011 Sirleafs Wiederwahl an. Nur wenige Tage vor der Wahl tritt in Oslo ein Herr mit weißen Haaren und randloser Brille vor die Presse und verkündet:
"Ladies and Gentlemen, the nobel peace prize for 2011 is to be divided into three equal parts between Ellen Johnson-Sirleaf, Leymah Gbowee and Tawakkul Karman."
Ellen Johnson Sirleaf erhält den Friedensnobelpreis. Vier Tage vor dem ersten Wahlgang. Und eine Woche danach verkündet der Kriegsverbrecher Prince Johnson, dass er Ellen Johnson-Sirleaf im zweiten Wahlgang unterstützen werde. Der Grund: Der Gegenkandidat hatte sich ausdrücklich für die Umsetzung der Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission und damit die Einrichtung eines Sondergerichts für Kriegsverbrechen ausgesprochen. Sirleaf hingegen hatte in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, wie halbherzig sie mit den Vorschlägen der Kommission umging.
Und wie reagierte die frischgebackene Friedensnobelpreisträgerin auf die Unterstützungserklärung des Hauptkriegsverbrechers Prince Johnson? Gar nicht. Schweigend nahm sie die Unterstützung an. Und da ihr Gegenkandidat wegen Vorwürfen der Wahlmanipulation zum Boykott der Stichwahl aufrief, gewann Sirleaf am Ende mit überwältigenden 90,7 Prozent. Damit war klar, dass das Sondergericht für Kriegsverbrechen in absehbarer Zeit nicht kommen würde.
"Viele Kriegsverbrecher sind durch den Krieg zu großem Wohlstand gekommen und konnten sich deshalb später den Weg nach Europa, in die USA oder nach Kanada erkaufen. Die Täter haben jetzt ein angenehmes Leben irgendwo im Westen, während ihre Opfer hier leben, unter der Armut leiden und nie Gerechtigkeit bekommen haben. Oft wurden ihre Leben für immer zerstört."
Da es in Liberia selbst bis zur Einrichtung eines Sondergerichts für Kriegsverbrechen keine Möglichkeit zur Verfolgung von Verstößen gegen internationales humanitäres Recht gibt, arbeiten Hassan Bility und seine Kollegen eng mit internationalen Behörden zusammen. "Wir sammeln hier die Beweise und übergeben sie dann an die jeweiligen Ermittlungsbehörden."
Acht mutmaßliche Kriegsverbrecher haben Hassan Bility und sein kleines Team vom Global Justice Research Project schon vor Gericht gebracht. Darunter eine Ex-Frau von Charles Taylor, einen ehemaligen Verteidigungsminister Taylors sowie eine Offizierin, die entscheidend für den systematischen Beschuss von Wohngebieten in Monrovia und den Tod ungezählter Zivilisten verantwortlich sein soll.
Tiawan Gongloe, Präsident des Anwaltsverbandes und wichtigster Jurist des Landes sagt: "Wir müssen endlich Frieden finden. Wir hatten hier einen grausamen Bruderkrieg. Menschen haben ihre Nachbarn ermordet, ihre Brüder. Nie wieder! Und der einzige Weg, nicht in die alten Fallen zu tappen ist, die Täter zur Verantwortung zu ziehen."
Während manche Täter wie Prince Johnson alles tun, um einer Strafe zu entgehen, gibt es auch einige wenige andere, die bereuen und bereit sind, für ihre Taten zu büßen. Aber niemand tut das so offen und explizit wie Joshua Blahyi, der Mann, den man während des Krieges "General Butt Naked" nannte.
Die Geschichte von Joshua Blahyi ist die Geschichte einer Wandlung vom Saulus zum Paulus. Als "Butt Naked" zog er an der Seite des Präsidenten Samuel Doe mit einer Heerschar von Kindersoldaten im Drogenrausch gegen den anrückenden Charles Taylor in den Krieg. Seine Kraft, seine Erfolge, seine Macht schöpfte er dabei nicht aus taktischer Überlegenheit oder militärischem Kalkül, sondern aus okkulten Ritualen und traditioneller Hexerei.

Noch während des Krieges, so erzählt es Blayhi, sei ihm plötzlich während eines Gefechts der Herr erschienen. Es sei gewesen, als habe ihm jemand einen Schleier von den Augen gerissen, plötzlich habe er gesehen, was er getan habe. Seitdem reist Blahyi durchs Land, predigt das Evangelium und bittet Opfer um Vergebung. Er war der erste der wichtigen Kriegsverbrecher, der vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission erschien und er half, entscheidend mit auch andere Generäle und Anführer zum Reden zu bewegen.
Es ist kurz nach Mitternacht. Die Sterne funkeln über dem kleinen Anwesen am äußersten Stadtrand von Monrovia. Joshua Blahyi ist gerade erst von einer Missionsreise nach Guinea, einem Kreuzzug, wie er es nennt, zurückgekommen. "Ich fürchte mich nicht vor dem jüngsten Tag. Gott hat mir vergeben. Meine Strafe muss hier auf Erden sein."
Ein Teil davon, so sieht er es, ist seine Missionstätigkeit. In gerade einmal dreieinhalb Stunden wird er wieder aufstehen und noch lange vor Sonnenaufgang aufbrechen, um ein paar Missionare nach Sierra Leone zu begleiten. Aber Blahyi versteht Strafe auch in einem ganz weltlichen Sinne:
"Ich hoffe, dass ich eines Tages der Erste sein darf, der vor dem Kriegsverbrechergericht erscheint. Ich will, dass in meinem Land Gerechtigkeit herrscht. Wenn ich dafür ins Gefängnis muss, dann kann ich damit leben. Es das einzig Richtige. Manche Dinge dürfen nicht ungestraft bleiben. Deshalb fordere ich alle Liberianer auf: Lasst nicht zu, dass die Verbrecher ihre Sünden verstecken. Lasst nicht zu, dass die Täter straffrei bleiben."