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Bürgermeister zu Corona-Lockerungsbeschlüssen
"Hoffe, dass jetzt nicht wieder Kreativität ausbricht"

Die Lockerungsbeschlüsse für Geschäfte werden für die Kommunen weiteren Kontrollaufwand bedeuten, fürchtet der Bürgermeister von Lübeck, Jan Lindenau (SPD). Er hoffe darauf, dass es nicht zu allzu kreativen Auslegungen der neuen Bestimmungen durch den Handel komme, sagte er im Dlf.

Jan Lindenau im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 16.04.2020
Menschen stehen während der Corona-Krise vor einem Geschäft an
Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau sieht bei den Lockerungsbestimmungen für Geschäfte Interpretationsspielraum für den Handel (imago / / Ralph Peters)
Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder haben sich auf erste vorsichtige Lockerungen in der Coronavirus-Krise verständigt. Unter anderem können Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 Quadratmetern ab kommendem Montag (20.4.) unter Auflagen wieder öffnen. Unabhängig von der Größe ihres Geschäfts dürfen auch Buch-, Auto- und Fahrradhändler wieder Kunden begrüßen. Die allgemeinen Kontaktbeschränkungen belieben jedoch weiter zunächst bis zum 3. Mai in Kraft.
Der Schulbetrieb soll jedoch ab dem 4. Mai schrittweise wieder aufgenommen werden, beginnend mit den Abschlussklassen, den Klassen, die im kommenden Jahr Prüfungen ablegen, und den obersten Grundschulklassen. Anstehende Prüfungen der Abschlussklassen dieses Schuljahres können aber auch vorher schon stattfinden. Was das für die Städte und Kommunen bedeutet, hat der Bürgermeister von Lübeck, Jan Lindenau (SPD), im Interview mit dem Dlf erläutert.
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"Es wird Differenzierungsbedarf geben"
Jürgen Zurheide: Was heißt das bei Ihnen, Geschäfte bis 800 Quadratmeter dürfen öffnen? Wer kontrolliert das? Wie viele Menschen können Sie da losschicken?
Jan Lindenau: Na ja, zunächst einmal sind die Ordnungskräfte ja schon seit Wochen aktiv, um Kontrollen auch durchzuführen. Das heißt, wir sind hier auch mit den größeren Einkaufszentren schon länger im engen Austausch. Von daher wird das jetzt in den nächsten Tagen abzustimmen sein. Die für uns erste wichtige Entscheidung ist: Gilt diese 800 Quadratmeter tatsächlich? Denn es gibt ja sowohl Ankündigungen, dass einige Bundesländer die Größe anders handhaben wollen. Und auch die Regelung, die hier vereinbart worden ist, heißt ja bis zu 800 Quadratmeter. Das heißt für uns, kann es sich möglicherweise in Schleswig-Holstein noch anders darstellen als in anderen Bundesländern? Von daher warten wir zunächst mal die morgigen Kabinettsberatungen ab.
Jan Lindenau (SPD), Bürgermeister von Lübeck, sitzt in seinem Amtszimmer
Jan Lindenau (SPD), Bürgermeister von Lübeck, sitzt in seinem Amtszimmer (dpa/Carsten Rehder)
Aber ganz klar ist, es wird auch da Differenzierungsbedarf geben. Denn wir haben ja auch viele Einkaufszentren mit Shop-in-Shop-Lösungen. Da stellt sich auch die Frage, wie wird das definiert: Ist nun ein einzelner Shop zu betrachten oder das ganze Center? Die Diskussionen haben sich in den letzten Wochen und Monaten immer schon wieder aufgekeimt. Von daher gehe ich davon aus, die werden auch jetzt wieder losgehen.
Am Ziel "abstandshaltende Regelungen" orientieren
Zurheide: Die entscheidende Frage, die dahinter steht, ist eigentlich eine ganz andere: Ist es wirklich wichtig, ob man da die 800 Quadratmeter hat, oder muss man nicht sagen, es müssen bestimmte Voraussetzungen da sein. Man braucht Platz, Abstandsregeln und all das, was wir in den letzten Tagen beim Bäcker jeden Morgen und überall gelernt haben. Das müssen wir übertragen. Das ist ja die eigentliche schwierige Aufgabe, oder?
Lindenau: Das ist die eigentlich schwierige Aufgabe, und ich sage an dieser Stelle auch ganz offen: Wir haben sehr häufig gerade in dem Bereich des Handels immer wieder auch kreative Auslegungssituationen erlebt.
Zurheide: Ist das positiv oder negativ? Ich weiß nicht genau, was ich da jetzt raushören soll.
Lindenau: Ich will das schon eher negativ beurteilen. Denn wenn Sie plötzlich feststellen, dass eine Eisdiele durch das Aufstellen auf dem Parkplatz plötzlich zu einer Drive-in-Lösung wird, in der Hoffnung, dass man dann doch öffnen kann, weil dann die Autos vorfahren, um sich eine Kugel Eis zu kaufen. Oder wenn Sie feststellen, dass man sagt, eine Shop-in-Shop-Lösung ist ja kein Einzelhandel, sondern ein Center, deswegen sind wir nicht davon betroffen, weil wir sind ein Center und kein Einzelhandel. Das sind die weniger kreativen guten Situationen.
Ich glaube, wir haben lange in den letzten Wochen miteinander lernen müssen, dass es eher um das Ziel geht als um die Definition. Von daher hoffe ich, dass diese Kreativität jetzt auch bei Flächen und Quadratmeter-Berechnungen nicht wieder neu ausbricht, sondern dass wir uns alle an dem Ziel orientieren, nämlich zu sagen, möglichst abstandshaltende Regelungen, keine Überfüllung von Märkten. Wir kennen die Probleme auch jetzt schon vor Baumärkten, die am Wochenende zu großen Pilgerstätten werden. All diese Themen werden jetzt in der Fläche auftauchen und von daher mit Sicherheit auch mit einem deutlich höheren Kontrollaufwand belegt werden müssen.
Zur Not Kontrollen verstärken
Zurheide: Meine Grundfrage war: Können Sie das überhaupt schaffen? Sie haben gerade gesagt, natürlich haben wir Personal. Sie haben das ein bisschen gelernt. Aber das ist doch eigentlich eine Aufgabe, die ein ganzes Stück auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen setzt. Sollte man da nicht mehr drauf hoffen oder setzen können?
Lindenau: Ich muss gestehen, wir erleben ja bei den Menschen, dass sie viel zurückhaltender sind als das, was ich vermeintlich im Moment glaube, was Politik sich traut. Das ist zumindest das, was wir hier erleben werden. Auf der einen Seite: Über Ostern gab es ja gewisse Lockerungen in der Frage, wie viele Menschen dürfen sich in Schleswig-Holstein zusammen treffen, in der Familie bis zu zehn Personen. Dann hat man festgestellt, dass die Realität eher war, dass die meisten Menschen eher doch in kleinen Gruppen zuhause geblieben sind, oder nur in kleinen Gruppen unterwegs waren. Das heißt, bei den Menschen hat man mit Ausnahme dieser zentralen Anlaufpunkte wie isolierte Baumärkte oder Ähnlichem schon sehr viel Verständnis und auf die Abstandsregelungen wird auch geachtet.
Nur die Frage ist auch immer, mit wieviel Not am Ende so ein langer Prozess sich auch im Wirtschaftsbereich, im Einzelhandel niederschlägt, und umso größer die finanzielle und wirtschaftliche Not wird, umso kreativer werden auch die Lösungen. Das sind genau die Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Ich habe auf der einen Seite Verständnis für die jeweilige Situation des einzelnen. Letztendlich sind wir aber als Kommunen und als Ordnungsbehörden dafür da, auch die Regeln durchzusetzen, und deswegen werden wir zur Not auch verstärkt – wir koordinieren ja eng auch mit der Landespolizei – in Kooperation die Kontrollen intensivieren müssen, das heißt kommunaler Ordnungsdienst und Landespolizei auch gemeinsam.
Erhebliche Lieferengpässe bei Schutzmasken
Zurheide: Dann ist die andere Frage Masken. Ist das eher der Appell? Das steht nicht in diesen Papieren drin. Es gibt Hinweise, man sollte doch bitte, aber es gibt keine Verpflichtung. Hätten Sie sich da eine klare Linie gewünscht?
Lindenau: Ich glaube, man kann im Moment verbindlich nichts anderes aufschreiben als einen Appell. Denn würde man es verbindlich tun, würde das bedeuten, es muss ja entsprechende Möglichkeiten geben, auch Masken zu beschaffen. Wir stellen gegenwärtig nach wie vor fest, dass es erhebliche Lieferengpässe gibt und wir schon Mühe haben, medizinisches Personal und Pflegepersonal korrekt auszustatten. Würden wir das jetzt auf die gesamte Bevölkerung ausdehnen, hätten wir ein Problem mit der gesamten Versorgung, und ich glaube, da ist es nur richtig, deutlich zu machen: Ja, nutzt Möglichkeiten, indem ihr Mundschutz selber produziert, näht und Ähnliches mehr und damit andere auch schützt. Aber lasst die Masken, die es im klassischen medizinischen Handel gibt, wirklich für Pflege und Krankenhäuser. Ich glaube, das ist im Moment der richtige Appell, weil alles andere wäre eher eine öffentliche Enttäuschung, weil keine Liefermöglichkeiten für wirkliche Schutzmasken im Moment da sind.
Zurheide: Kommen wir jetzt auf Schulen, Kindergärten und dieses Thema zu sprechen. Das ist ja eine andere, ganz wichtige Sache. Nur mal kurz: Sie haben eine Einwohnerzahl von etwas über 200.000. Wie viele Schulen, wie viele Schüler haben Sie in Lübeck?
Lindenau: Wir haben knapp 7000 Schülerinnen und Schüler und das ist eine logistische Herausforderung. Wir planen ja gegenwärtig - das Land Schleswig-Holstein hat schon für nächste Woche Abiturprüfungen angesetzt -, dort die gesamten Schutzmaßnahmen und auch die Raumkapazitäten neu zu sortieren, um die Abstandsregelungen einzuhalten, Desinfektionsspender und auch zusätzliche Reinigungsintervalle in Sanitäranlagen und Ähnliches mehr sicherzustellen.
Abiturprüfungen als "logistische Meisterleistung"
Zurheide: Das müssen Sie übrigens als Stadt machen. Das ist genau eine kommunale Aufgabe.
Lindenau: Ja, das ist richtig, und das liest sich auch in dem Papier im Moment relativ lang. Da gibt es nur einen Satz: Die kommunalen Schulträger haben das bitte sicherzustellen.
Zurheide: Darüber haben Sie sich gefreut?
Lindenau: Ja. Wie gesagt: Dadurch, dass wir schon ein bisschen vorbereitet waren durch die Ankündigungen, es sollen Abiturprüfungen stattfinden, waren wir ein bisschen vorbereitet. Aber es ist und bleibt natürlich eine logistische Meisterleistung. Wir reden über 26 Schulstandorte mit unterschiedlichen Anforderungen, mit unterschiedlichen Raumgrößen und Kapazitäten. All das muss logistisch entsprechend sichergestellt sein. Die Auslieferung von Desinfektionsmitteln - da haben wir an der Stelle ein bisschen Glück, das ist in Schleswig-Holstein schon vorbereitet worden mit dem Apothekerverband.
Aber trotz alledem: Es bleibt natürlich innerhalb weniger Tage – die Entscheidung ist zwei, drei Tage alt – und dann das in der Breite logistisch für viele Bereiche, auch für viele Menschen, die natürlich auch in solchen Situationen neu unterwegs sind. Das sicherzustellen, ist schon eine wesentliche Herausforderung, der man sich stellen muss und wo auch wirklich alle Hand in Hand arbeiten müssen. Da muss ich allerdings sage, das gilt für mich seit Beginn der Pandemie, dass man schon feststellt, dass die Behörden und auch die einzelnen Institutionen untereinander wirklich lösungsorientiert unterwegs sind. Das, muss ich gestehen, ist auch in so einer schwierigen Lage wirklich etwas Positives, wo man sagen muss, es wird nicht das Problem gewälzt, sondern es wird nach Lösungen gesucht.
Kommunen brauchen klare Regelungen der Landesregierung
Zurheide: Ganz kurz zum Schluss, nur mit ein, zwei Sätzen. Was erwarten Sie von der Landesregierung?
Lindenau: Klare Anweisungen und Regelungen, nicht so Zwischenlösungen nach dem Motto, wir versuchen mal hier und wir versuchen mal da. Sondern entweder zu sagen, wir machen auf, oder wir lassen zu, und zwar klar definiert, und darüber hinaus eine weiterhin gute Kommunikation mit den Kommunen auch in der Abstimmung über praktische Umsetzung. Das hat sich in den letzten Wochen bewährt und ich hoffe, dass das so weitergeht und dass wir jetzt nicht vor dem Hintergrund neuer Freiheitsgefühle plötzlich sagen, das muss alles vor Ort geregelt werden, sondern im Zusammenspiel das Thema weiterzubehandeln, wäre mein größter Wunsch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.