Montag, 06. Mai 2024

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Bullmann (SPD) zu EU-Gipfel mit May
"Der Brexit hat fertig"

Die britische Premierministerin Theresa May müsse den Weg frei machen für Neuwahlen oder ein neues Referendum, sagte der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann im Dlf. Die EU sollte den Briten bei ihrem heutigen Gipfel noch einen Aufschub gewährten - aber nur unter Bedingungen.

Udo Bullmann im Gespräch mit Sandra Schulz | 10.04.2019
Angela Merkel (l, CDU) empfängt die britische Premierministerin Theresa May im Bundeskanzleramt zu einem Gespräch.
Vor dem EU-Gipfel traf sich Theresa May noch mit Angela Merkel. Die hat eine Vorstellung von der Richtung. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Sandra Schulz: Der 12. April, also übermorgen, das ist der Termin, den die EU-Staats- und Regierungschefs vor drei Wochen als Austrittstermin verabredet hatten. Heute beraten sie auf dem nächsten Sondergipfel über eine weitere Verlängerung. Es deutet sich an, dass sie kommt. Mitgehört hat Udo Bullmann, im Europäischen Parlament Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokraten, und gemeinsam mit Katarina Barley ist er SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai. Schönen guten Morgen!
Udo Bullmann: Schönen guten Morgen, Frau Schulz!
Schulz: Was ist Ihre Erwartung? Kommt der nächste Aufschub?
Bullmann: Ja. Ich denke, er wird kommen. Niemand hat ein Interesse an dem harten Brexit. Er wird Großbritannien schweren Schaden zufügen. Aber auch bei uns auf dem Kontinent wird er nichts Gutes anrichten. Insofern macht es Sinn. Allerdings ja: unter Bedingungen.
"Die Tory-Partei hat abgewirtschaftet"
Schulz: Hat denn jemand ein Interesse daran, diese Hängepartie zu verlängern?
Bullmann: Nein. Niemand hat ein Interesse daran, die Hängepartie zu verlängern. Nur die Situation ist folgende: Diejenigen, die das Votum für den Brexit in Großbritannien herbeigeführt haben, waren sich nie im Klaren über die Konsequenzen, insbesondere für die britische Bevölkerung. Dort hat sich das Klima mittlerweile heftig gedreht. Das sehen wir an den großen Demonstrationen. Über eine Million Menschen in London zeigen uns regelmäßig, was sie davon halten. Und jetzt: Das System ist am Ende. Die Tory-Partei hat abgewirtschaftet. Meines Erachtens muss man sowieso das Volk fragen in Großbritannien.
Udo Bullmann, Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament und gemeinsam mit Katarina Barley ist er SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai.
Udo Bullmann, Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament und gemeinsam mit Katarina Barley ist er SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai. (dpa / Markus Scholz)
Schulz: Dieses Werben von Ihnen haben wir im Ohr. Darauf möchte ich auch gleich mit Ihnen noch zu sprechen kommen. Sie sagen gerade, wenn es diesen Aufschub gibt, dann aber zu Bedingungen. Zu welchen?
Bullmann: Vor allem ist richtigerweise gesagt worden, Großbritannien wird dann nicht wesentliche Entscheidungen blockieren können. Das wird auch kaum möglich sein, will ich sagen, denn die Entscheidungen im Rat fallen kaum so spitz. Meistens wird man bei Gesetzgebungen sich auf der Ratsseite vorher verständigen. Die wichtigsten Entscheidungen fallen ohnehin im Europäischen Parlament. Der Kommissionspräsident, um den es auch im Kern geht, muss zweimal durch das Europäische Parlament. Jemand, der hier keine Mehrheit hat, hat keine Chance. Die Blockadeoptionen der Briten sind nicht so stark, wie man das in den Tönen der Brexitiers gerade vernehmen kann. Ich glaube, das ist internes Tory-Geheule, was da angestellt wird. Die Europäer werden sich am Ende davon nicht abschrecken lassen.
"Der Schaden ist schon eingetreten"
Schulz: Das klingt jetzt in den Ohren mancher Hörer möglicherweise widersprüchlich, wenn Sie sagen, es gäbe da kaum Blockademöglichkeiten. Ist es nicht seit zwei, seit zweieinhalb Jahren Fakt, dass die Briten die Europäische Union blockieren?
Bullmann: Ja, sie blockieren sich vor allen Dingen selbst. Das was man da sehen kann ist, wie Ideologen ein Land zugrunde richten. Der Schaden ist schon eingetreten in Großbritannien. Er wird weiter eintreten, vor allen Dingen auf der Insel. Natürlich muss sich Europa davon befreien. Aber Harakiri können wir uns nicht leisten, auch im eigenen Interesse. Ich glaube, die Stimmen, die zur Vernunft raten, die jetzt sagen, lasst uns das nicht bis Ende Juni machen, es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass die ihr Ding geregelt kriegen im Parlament, die brauchen Zeit für ein zweites Referendum, gebt ihnen bis zum Ende des Jahres oder vielleicht sogar länger, aber in einem Jahr muss das geregelt sein – ich glaube, dass das vernünftig ist und am Ende für beide Seiten sich auszahlten wird.
Bexit ist "kein Grund, Bürgerrechte einzuschränken"
Schulz: Das haben wir vor zwei Jahren auch gesagt, als der Scheidungsantrag eingereicht wurde. – Jetzt wird ja immer als Bedingung genannt, als harte Bedingung für eine weitere Verlängerung, dass die Briten dann auch bei der Europawahl mitmachen "müssen". Warum ist das überhaupt eine harte Bedingung? Stürzt das nicht eher die Europäische Union ins Chaos?
Bullmann: Man muss die Sache von der anderen Seite aufziehen. Wir haben Bürgerrechte in der Europäischen Union und jede Bürgerin und jeder Bürger der Europäischen Union hat ein Recht, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen, solange das Land Mitglied ist. Jede Bürgerin, jeder Bürger in Großbritannien könnte sofort klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Wenn die eigene politische Klasse zu dumm ist herauszufinden, was sie in Westminster will, ist das noch lange kein Grund, Bürgerrechte einzuschränken. Der Europäische Gerichtshof würde sofort sehr eindeutig entscheiden. Das ist der Hintergrund, warum jetzt bis zum 12. April in Großbritannien die Entscheidung fallen muss, ob man an den Wahlen teilnehmen will. An den Wahlen teilzunehmen, ist eine Vorbedingung, eine juristische, gesetzliche Vorbedingung, eine Verlängerung bekommen zu können. Wollen sie das nicht, sind sie im harten Brexit.
"Die Nächste Generation muss sich einmischen"
Schulz: Aber es würden Ende Mai Bürgerinnen und Bürger eines Landes an die Wahlurnen gerufen, das ja eigentlich nichts lieber will als raus aus der Europäischen Union. Nichts leichter, als für Populisten zu sagen: Schaut mal, diese Europäische Union, die kriegt ja gar nichts gebacken. Einen Schaden der europäischen Wahlen, den sehen Sie oder fürchten Sie nicht?
Bullmann: Frau Schulz, wir wissen, dass es ein gespaltenes Land ist. Auch vor zwei Jahren haben nahezu die Hälfte der Briten gar nicht raus wollen, sondern wollten votieren für einen Verbleib in der Europäischen Union. Von den Umfragen wissen wir, heute sind es weitaus mehr als 50 Prozent, die bleiben wollen. Deswegen sage ich: Die einzig sinnvolle Auslösung ist ein zweites Referendum, oder, wenn das blockiert bleibt, dann sollen sie zu Neuwahlen gehen. Aber die Tory-Partei hat abgewirtschaftet. Man muss das Volk fragen. Es geht um die Zukunft der nächsten Generation. Die hat ein Recht, sich jetzt einzumischen.
Schulz: Warum hat Labour dann bei der Frage eines zweiten Referendums so lange herumgeeiert?
Bullmann: Ja weil das britische Mehrheitsrecht so gestaltet ist, dass die meisten Abgeordneten der Labour Party entweder in Wahlkreisen sitzen, die hart für den Verbleib sind oder hart für das Austreten sind. Das ist keine ganz einfache Situation für Jeremy Corbyn. Trotzdem bin ich mir sicher, dass auch die Mehrheit der Labour-Mitglieder dafür votieren wird, dass Großbritannien in der Europäischen Union verbleibt.
Zwei Optionen: "Zollunion oder neues Referendum"
Schulz: Jetzt ist die Forderung nach einem zweiten Referendum ja auch eine der Forderungen, mit denen Jeremy Corbyn in diese Verhandlungen mit Theresa May geht. Was, wenn er das nicht durchbekommt?
Bullmann: Es gibt eigentlich nur noch zwei Lösungen. Entweder die Theresa May Position bewegt sich auf Labour zu, und das bedeutet dann, man wählt eine Lösung, die näher angesiedelt ist an der Europäischen Union, etwa die sogenannte Zollunion. Das würde uns in vielerlei Hinsicht wirklich helfen, weil es auch die Frage einer Grenze zwischen Nordirland und Irland löst. Die Zollunion bedeutet, dass wir viele Probleme nicht mehr haben, dass es keinen neuen Nordirland-Konflikt geben wird. Insofern würden wir das aus Sicht des Europäischen Parlaments begrüßen. Wenn das aber die Tory-Partei spaltet, wenn das nicht möglich ist, in Westminster herzustellen, ja dann müssen sie das Volk fragen. Das ist meine feste Überzeugung.
"Weiteren Zirkus können wir uns nicht leisten"
Schulz: Und wenn Theresa May das anders sieht, was sie ja wahrscheinlich, angesichts der Meinungslage in ihrem Lager, bei den Konservativen, anders sehen muss, was dann? Soll Jeremy Corbyn dann in die Falle tappen, die er sich mit dieser Bedingung selbst gestellt hat?
Bullmann: Das ist die Situation der heutigen Nacht. Die Europäer müssen in der Tat darauf bestehen, dass, wenn es eine Verlängerung über den 30. Juni hinaus gibt, Theresa May klar auf den Tisch legt, auf welche Art und Weise sie die Blockade der britischen Politik lösen will. Da sollten alle mit einer Stimme sprechen, weil weiteren Zirkus können wir uns nicht leisten.
Schulz: Wie zuversichtlich sind Sie denn, dass Theresa May, nachdem sie diese Frage ja ixmal gestellt bekommen hat, dass sie nun ausgerechnet heute, am 10. April, zwei Tage vor dem technischen nächsten Austrittsdatum, dass sie heute plötzlich die Lösung vorlegt?
Bullmann: Der Brexit hat fertig, könnte man salopp sagen. Ich glaube, dass auch in Großbritannien die Wahrnehmung gewachsen ist, dass man sich nicht länger von Ideologen an der Nase herumführen lässt. Wenn sie noch einen Funken Verantwortung für ihr Land hat, dann gibt sie den Weg frei, entweder für Neuwahlen, oder ein neues Referendum. Die Mehrheiten sind knapp! Die Tory-Partei kann die Abstimmung freigeben für eine Zollunion. Dann wäre das noch der letzte Weg zu einer parlamentarischen Lösung.
"Ohne Lösungen ist das britische politische System am Ende"
Schulz: Es sind im Moment ja unterschiedliche Zeitpunkte in der Diskussion: 30. Juni hatte May gefordert. 31. 12. Wird genannt, 31. März. Welches Datum wäre am besten?
Bullmann: Na ja. Dass sie bis Ende Juni eine Lösung finden, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Donald Tusk recht hat, wenn er sagt, wir wollen nicht die Zeit bis Ende Juni damit verbringen, uns alle acht Tage zu sehen und uns in die Augen zu gucken und zu merken, dass nichts geht. Ich finde, dass eine Lösung mindestens bis zum Ende des Jahres her sollte, aber dann bitte mit der Auflage, das zweite Referendum zu machen.
Schulz: Jetzt muss ich die Frage leider noch mal stellen, weil ich es immer noch nicht verstanden habe. Wir sind aus einer Lage herausgekommen, dass die EU und die britische Regierung zwei Jahre hatten, einen Brexit-Deal einzutüten, zu stemmen, dass der in London durchs britische Unterhaus geht. Da haben die zwei Jahre nicht gereicht. Warum soll da jetzt ein dreiviertel Jahr reichen?
Bullmann: Die Regierungschefin hat zwei Jahre nicht mit der Opposition gesprochen. Ich glaube, es ist sehr offensichtlich geworden, dass ihre eigene Partei nicht mehr in der Lage ist, in der Regierungsverantwortung zu einer Lösung zu finden. Das hat auch in Großbritannien jeder verstanden. Das hat die britische Arbeitnehmerschaft verstanden. Das hat die britische Industrie verstanden. Ich glaube, dass sie mit dieser "tu nichts"-Politik nicht mehr zurande kommt und dass das britische politische System am Ende ist, wenn es nicht klare Lösungen gibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.