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Bund Deutscher Sozialrichter erwartet höhere Hartz IV-Regelsätze für Kinder

Silvia Engels: Welchen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben Kinder, deren Eltern langzeitarbeitslos sind? Bislang haben sie eigene genormte Hartz-IV-Regelsätze. Doch ist diese Festlegung verfassungsgemäß? Mit dieser Frage befasst sich heute das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Hans-Peter Jung im Gespräch mit Silvia Engels | 20.10.2009
    Am Telefon ist nun Hans-Peter Jung, er ist der Vorsitzende des Bundes Deutscher Sozialrichter. Guten Morgen, Herr Jung.

    Hans-Peter Jung: Guten Morgen!

    Engels: Sie sind auch vorsitzender Richter am Landessozialgericht Essen. Welche Erfahrungen haben Sie vor Gericht gemacht? Geht es da häufig um das Geld für Kinder von Hartz-IV-Empfängern?

    Jung: Das ist eine von mehreren Großbaustellen, wie man vielleicht sagen kann, im Bereich der Hartz-IV-Regelungen. Neben Kosten der Unterkunft und einigen anderen Dingen sind es aber gerade auch die Regelleistungen für Kinder.

    Engels: Hat ein Sozialrichter denn derzeit die Möglichkeit, Kindern von Hartz-IV-Empfängern irgendwie mehr staatliches Geld über den Regelsatz hinaus zu bewilligen, oder ist das festgefahren?

    Jung: Der Richter – das gilt für alle Gerichte, vom Sozialgericht bis zum Bundessozialgericht – ist an das Gesetzesrecht gebunden. Das heißt, er darf nicht darüber hinaus Leistungen zusprechen. Aber er darf das tun, was das Bundessozialgericht und das hessische Landessozialgericht ja getan haben mit ihren Vorlagebeschlüssen an das Bundesverfassungsgericht, das allein befugt ist, über die Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Regelungen zu befinden. Immerhin hat das ja inzwischen schon ansatzweise etwas bewirkt. Der Gesetzgeber hat ja zum 1. Juli 2009 eine weitere Differenzierungsstufe für die 6 bis 13 Jahre alten Kinder mit 70 Prozent des Regelsatzes für Erwachsene eingeführt.

    Allerdings, man sieht es schon an der Regelung, die er nur hinten an das Gesetz quasi drangeklebt hat und zeitlich befristet hat, sodass auch der Gesetzgeber wieder einmal das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber ansieht und auf dessen Entscheidung wartet.

    Engels: Alle Anhebungen auf 70 Prozent, die Sie auch gerade erwähnt haben, sind im Moment nur Anhebungen auf Zeit. Nun ist es ja so, dass alle Eltern wissen, dass Kinder in bestimmten Phasen besondere Ausgaben erfordern: allein die Kleidung für wachsende Kinder, Nachhilfestunden oder Schulmaterial. Können Sie das als Richter denn derzeit überhaupt berücksichtigen?

    Jung: Es gibt schon Möglichkeiten, die auch der Gesetzgeber quasi als Nachbesserung inzwischen eingeführt hat, etwa die Leistung von 100 Euro pro Schuljahr, die er eingeführt hat. Es gibt die Möglichkeit, über § 23 SGB II bei dringendem unabwendbarem Bedarf auch weitere Leistungen zuzusprechen, und es gibt etwa einmalige Leistungen, die so langsam wieder zurückkehren ins Gesetz, wie etwa bei mehrtägigen Klassenfahrten, wo noch zusätzliche finanzielle Leistungen gewährt werden können, oder, wenn sie nicht gewährt werden, in gerichtlichen Verfahren zugesprochen werden können.

    Engels: Wie häufig wird das angewendet?

    Jung: Das ist schon eine nicht unerhebliche Zahl, die auch vor die Gerichte kommt, wobei man bedenken muss, dass vieles doch im Verwaltungsverfahren schon geregelt wird.

    Engels: Nun ist es ja so, dass das Bundessozialgericht bereits geurteilt hat. Die bisherigen Hartz-IV-Sätze für Kinder unter 14 Jahren seien verfassungswidrig. Sie haben das auch angesprochen. Allerdings muss hier das Bundesverfassungsgericht noch endgültig urteilen. Damals wurde ja dieses Urteil an der willkürlichen Festlegung eines Wertes, 60 Prozent, 70 Prozent eines Erwachsenen, aufgehängt. Wäre es denn möglich, den Bedarf eines Kindes individueller zu ermitteln?

    Jung: Davon gehe ich aus. Auch schon zu Zeiten der Vorgängerregelung im Bundessozialhilfegesetz hat man ja mit statistischen Methoden versucht, das Existenzminimum, den Bedarf für Erwachsene, aber auch für Kinder herauszufinden, und man hat das regelmäßig angepasst. Die Schwäche der Regelung hier in Hartz IV hat das Bundessozialgericht ja auch vor allem darin gesehen, dass der Gesetzgeber keine hinreichenden Ermittlungen angestellt hat, um herauszufinden, wie hoch das Existenzminimum für Kinder in der jeweiligen Altersstufe anzusiedeln ist, sondern lediglich eine prozentuale Abstaffelung vorgenommen hat.

    Engels: Und am Ende käme dann, wenn man individueller vielleicht diesen Bedarf ermittelt, ein höherer Regelsatz heraus, der darüber hinaus noch individuell zu verändern wäre?

    Jung: Dafür spricht einiges. Das Bundesverfassungsgericht wird ja auch heute Morgen zunächst einmal Experten des Statistischen Bundesamtes zu dieser Frage hören. Da gibt es ja Ermittlungen zum sogenannten Warenkorb, eines der Modelle, das man heranziehen kann, um herauszufinden, wo das Existenzminimum anzusiedeln ist.

    Engels: Nun gibt es ja auch ein Gegenargument, eine Art von Dilemma, und das heißt Lohnabstandsgebot. Das beschreibt nichts anderes, dass ein höherer Regelsatz für Jugendliche zur Folge haben könnte, dass eine Familie mit mehreren Kindern durch die zusammengefassten Hartz-IV-Leistungen am Ende mehr hat, als beispielsweise ein allein verdienender Facharbeiter, der Vollzeit arbeitet und die gleiche Anzahl Kinder hat. Dann wäre die Motivation, überhaupt zu arbeiten, am Tiefpunkt. Wie ist das aufzulösen?

    Jung: Da kann ich Ihnen keine Lösung anbieten.

    Engels: Aber Sie sehen das Dilemma?

    Jung: Ich sehe dieses Dilemma. – Ich kann nur einigermaßen provokant antworten, dass das Lohnabstandsgebot, was Familien mit Kindern anbetrifft und was Niedriglöhne anbetrifft, heute schon der Vergangenheit angehören dürfte. Das heißt anders ausgedrückt: wir haben auch heute schon sehr viele sogenannte Aufstocker, die ihr Lohneinkommen durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen, und deren Zahl wächst weiter. Sie wird auch dann weiter wachsen, wenn man etwa die Freibeträge, die an anderer Stelle geregelt sind, die Freibeträge für erwerbstätige Hartz-IV-Empfänger, eben die sogenannten Aufstocker, zu deren Gunsten erhöht. Dann erhöht sich natürlich automatisch auch die Anzahl dieser Aufstocker.

    Engels: Haben Sie eine Antwort, wie man aus diesem Dilemma herauskommt, einerseits die Rechte der Kinder, andererseits natürlich auch die Frage, ob diejenigen, die nicht in Vollzeit stehen, auch mehr verdienen müssen?

    Jung: Das ist eine über das Sozialrecht hinausgehende Frage, die ich als Richter der Sozialgerichtsbarkeit schwerlich beantworten kann. Ich kann nur feststellen, was ist. Es ist ja die Aufgabe der Gerichtsbarkeit, aufgrund der bestehenden Verhältnisse die Gesetze anzuwenden und für die Betroffenen eine gerechte Lösung zu finden.

    Engels: Es ist ja im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Sätzen für Kinder auch argumentiert worden, dass nicht immer sichergestellt sei, dass das ihnen eigentlich zustehende Geld auch tatsächlich bei den Kindern ankommt. Könnten da Gutscheinsysteme helfen, für ein Schulessen, für Nachhilfestunden, für so etwas?

    Jung: Das ist ein großes Thema, nämlich die Frage, ob kindbezogene Leistungen, wenn man im Gesetz rein finanzielle Transferleistungen regelt, auch beim Kind wirklich ankommen. Ohne Eltern pauschal diffamieren zu wollen, kann man sagen, dass Leistungen, die etwa spezielle Bereiche betreffen, wie Sie sie gerade angesprochen haben, durchaus auch nicht durch finanziellen Transfer an die Familie, sondern auch etwa durch kostenloses Mittagessen in der Schule und Ähnliches besser geregelt werden könnten. Es gibt ja auch schon Ansätze dazu. Es gibt etwa den sogenannten Bildungsgutschein für Erwachsene, die sich weiterbilden wollen. Es gibt im Rahmen der eben schon angesprochenen Leistungen bei dringendem unabwendbaren Bedarf auch Sachleistungen, die auch in Gestalt von Gutscheinen gegeben werden können. Also es ist nicht so, als wenn dies generell verboten wäre, wenngleich auch Bedenken vorgebracht werden in Bezug auf diskriminierende Wirkung von Gutscheinen.

    Engels: Weil man dann damit dem Kind einfach deutlich das Stigma umhängen würde, du bist Gutscheinempfänger, du bist Hartz-IV-Empfänger?

    Jung: Ja, wird vorgebracht. Allerdings ist es ja etwa auch gängige Regelung, dass die Beiträge zu Kindertagesstätten nach dem Einkommen gestaffelt werden und für Menschen mit geringem Einkommen und Hartz-IV-Empfänger ist die Kita kostenfrei. Da ist man auch bisher noch nicht auf die Idee gekommen, dass das eine stigmatisierende Wirkung habe. Da geht man nicht so vor, dass man finanziellen Transfer vornimmt, sondern eben den Beitrag staffelt.

    Engels: Hans-Peter Jung, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Sozialrichter. Wir sprachen mit ihm rund um die Fragen, die vor dem Verfassungsgericht um die Gelder, die Kindern von Hartz-IV-Empfängern zustehen, heute diskutiert werden. Vielen Dank für das Gespräch.

    Jung: Bitte schön.