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Bundeselternrat reagiert skeptisch auf NRW-Schulkonsens

Nach dem in Nordrhein-Westfalen erreichten Schulkonsens und der damit verbundenen Einführung der Sekundarschule gebe es nun Planungssicherheit, lobt Ursula Walther vom Bundeselternrat. Andererseits werde die Vielfalt der Schulformen in den Ländern immer größer. Nötig seien daher bundeseinheitliche Rahmenrichtlinien.

Ursula Walther im Gespräch mit Friedbert Meurer | 21.07.2011
    Friedbert Meurer: Morgen beginnen im einwohnerreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen die großen Sommerferien. Kurz vor Ferienbeginn haben Regierung und Opposition in Düsseldorf ihre Schulscharmützel begraben. Es geht wieder einmal um die Zukunft der Hauptschule. Formal bleibt sie erhalten in Nordrhein-Westfalen, aber es wird ab Sommer 2012 eine neue Schulform eingeführt: die Sekundarschule. Sie umfasst die Klassen fünf bis zehn und könnte in Zukunft mehr und mehr an die Stelle der Haupt- und Realschulen treten. Über den Schulkonsens von Nordrhein-Westfalen freuten sich gestern die allermeisten, dagegen äußerten sich nur die FDP und Die Linke. Was sagen die betroffenen Eltern? – Am Telefon Ursula Walther, die stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrates. Guten Morgen.

    Ursula Walther: Guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Wenn Sie nach Nordrhein-Westfalen schauen, ist das ein Fortschritt, der da beschlossen wurde und über den sich die Eltern freuen sollten?

    Walther: Ja und nein. Das Ja bedeutet, der Fortschritt besteht darin, dass jetzt erst mal einige Jahre Ruhe ist an der Schulfront. Das ist definitiv ein Fortschritt. Und ob jetzt aber eine noch zusätzliche Schulform – denn so wie ich das verstanden habe, ist ja einfach nur eine dazugekommen -, ob das jetzt die große Sache ist, das muss sich wohl erst herausstellen.

    Meurer: Gehen Sie davon aus, dass diese neue Schulform, die Sekundarschule, doch so peu à peu die Hauptschule verdrängen wird und dann gibt es eben wieder weniger Schulformen?

    Walther: Das kann ich mir schon vorstellen zumindest für dünn besiedelte Gebiete, wo die Kinder immer weniger werden. Da sind ja für die Hauptschule schon jetzt längst nicht mehr genug Kinder da.

    Meurer: Hinter diesen ganzen neuen Schulformen, die es gibt, die Sekundarschule jetzt in Nordrhein-Westfalen, Oberschule heißt es, glaube ich, in Niedersachsen, Mittelschule bei Ihnen in Bayern, behalten Sie da eigentlich den Überblick?

    Walther: Ich kann Ihnen nur versichern, die Mittelschule ist wieder noch mal ganz was anderes. Die Hälfte des Überblicks haben wir, aber die andere Hälfte nicht. Das ist ganz, ganz schwierig und wenn Eltern sich bei uns, beim Bundeselternrat melden, dann antworten wir in der Regel, liebe Eltern, wir würden ihnen gerne helfen, aber wir müssen sie leider an ihre Landeselternvertretung verweisen, denn die verstehen wenigstens was von dem System in dem Land.

    Meurer: Warum gibt es so viele Formen neuerdings?

    Walther: Das ist eine politische Entscheidung, denke ich. Die Politiker merken, es muss irgendwas geändert werden, schon allein, weil eben die Kinder in manchen Gegenden deutlich weniger werden. Und da man sich aber nicht ohne weiteres auf eine einzige Form einigen kann, denn es muss ja jedes Bundesland sein eigenes Bildungssystem haben, deswegen gibt es so viele unterschiedliche Möglichkeiten. Das hängt natürlich auch von der jeweiligen Landesregierung ab, welche politische Couleur die hat.

    Meurer: Steckt, Frau Walther, dahinter, dass die Hauptschule eben eine sterbende Schulform ist und jedes Bundesland dann seine eigene Antwort darauf finden will?

    Walther: Ja.

    Meurer: Geben die Länder kluge Antworten, oder sollte man einen radikaleren Schnitt machen?

    Walther: Da fragen Sie mich was Schweres. Jetzt muss ich so antworten, dass ich alle unsere Mitglieder vertreten kann. Die klugen Antworten sind die, die möglichst viele Optionen offen lassen. Das heißt also, wenn ein Land sagt, ich schaffe diese Schulform komplett ab, bietet dafür aber was Neues, wo alle die Kinder, die bisher in dieser Schulform waren, auch gut unterrichtet werden können, dann ist das auf jeden Fall in Ordnung.

    Meurer: Wie ist das eigentlich, wenn Eltern umziehen wollen von einem Bundesland zum anderen Bundesland? Kann es da angesichts dieser Vielfalt von Schulformen zu Schwierigkeiten kommen?

    Walther: Das liegt nicht mal so sehr an den vielen Schulformen, obwohl das vielleicht noch ein zusätzlicher Punkt ist. Viel schwieriger ist, dass jedes Land seine eigenen Lehrpläne und auch vor allem die Abläufe hat, wann zum Beispiel die Fremdsprache kommt, welche Fremdsprache das ist. Wir erfahren immer wieder von Eltern, die in ein anderes Bundesland ziehen, dass ein Kind wegen einer Fremdsprache ein Jahr wiederholen muss zum Beispiel.

    Meurer: Bei der Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen ist es so: ab der Klasse zwei zweite Fremdsprache, wie man will, man kann auch eine dritte Fremdsprache nehmen. Also gerade die Sprachen, die stellen dann möglicherweise eine Hürde für einen Wechsel dar?

    Walther: Die stellen den dann dar, wenn die aufnehmende Schule ganz strikt ist und sagt, du darfst bei uns nur die Sprache weitermachen, die bei uns angeboten wird. Es gibt aber auch Schulen, das gibt es schon jetzt sogar, die sagen, okay, wenn du mit einer anderen Sprache kommst, die du woanders schon gut gelernt hast, dann darfst du die als Prüfungssprache nehmen. Das ist eine gute Lösung.

    Meurer: Von Ihren praktischen Erfahrungen her gesehen, was Sie im Bundeselternrat wahrnehmen, wenn sich Eltern an Sie wenden, gibt es in der Praxis wirklich Probleme, dass Eltern ihre Kinder nicht in einer Schule unterbringen können?

    Walther: Ja. Ich kenne einen konkreten Fall aus Bayern, da waren wir ein dreiviertel Jahr damit beschäftigt, wir sind bis zum Ministerpräsidenten vorgegangen, und die Lösung wäre dann gewesen, dass dieses Kind – das kam aus Nordrhein-Westfalen und wollte nach Bayern wechseln; das wollte einen Umweg dann über Frankreich machen, erst das Auslandsschuljahr machen, weil es dort nämlich völlig unproblematisch dann den Anschluss in eine bayerische Schule gekriegt hätte.

    Meurer: Und worin bestand das Problem beim direkten Wechsel von Nordrhein-Westfalen nach Bayern?

    Walther: Weil das Kind Latein nicht hatte, und Latein hätte man in dieser Jahrgangsstufe noch gebraucht. Wenn es dagegen nach dem Auslandsaufenthalt zurückgekommen wäre, wäre es eine Stufe höher gewesen, also eine Jahrgangsstufe, und hätte das Latein nicht mehr gebraucht.

    Meurer: Wurde eine Ausnahme gemacht?

    Walther: Es wurde eine Lösung gefunden, sagen wir mal. Aber es war wirklich eine Ausnahme, ja.

    Meurer: Was hielten Sie denn davon, wenn es statt dieser mittlerweile schon fast unüberschaubaren Flut von Schulformen bundeseinheitliche Schulformen gäbe, wie zum Beispiel in Frankreich?

    Walther: Das muss nicht unbedingt sein. Aber was sehr gut wäre, wenn es bundeseinheitliche Rahmenrichtlinien gäbe, wo so die Grundlagen festgelegt sind. Ich meine, jetzt im Moment ist es ja ein solches Durcheinander, dass man schon froh sein muss, dass wenigstens in allen Ländern Deutsch gesprochen wird, in allen Bundesländern. Aber wenn wir jetzt von oben her eine Regel hätten, wie meinetwegen Schulbeginn mit dem 6. Lebensjahr, Abitur nach so und so vielen Jahren, meinetwegen nach neun oder nach acht, das ist auch egal, und dass dann jede einzelne Schule in jedem Land möglichst viel Freiheit hat, selber zu sehen, wie es zu diesen Zielen kommt, die dann vorgegeben werden, das wäre die beste Lösung.

    Meurer: Gibt es diese Rahmenrichtlinien nicht?

    Walther: In der Form nicht, wie wir uns das vorstellen würde. Es gibt zwar Bildungsstandards, die sind aber nicht dasselbe. Da wird gesagt, das Kind muss nach der 4. Klasse das und das können, oder nach der 9. oder 10. muss es das und das können, aber dieses ganze Dilemma mit den Fremdsprachenfolgen zum Beispiel kriegen sie auf die Art nicht geregelt.

    Meurer: In Nordrhein-Westfalen könnte es noch komplizierter werden. Jede Kommune kann exakt entscheiden, welche Schulform man haben will und wie die Sekundarschule ausgestattet sein soll, ob gemeinsames Lernen bis Klasse sechs oder bis Klasse zehn. Das sehen manche ja auch als einen Vorteil, wenn vor Ort exakt entschieden wird, was man will. Was sagen Sie?

    Walther: Ja wenn die Eltern beteiligt werden bei dieser Entscheidung, das wäre der Idealzustand, dass die, die mit dieser konkreten Schule zu tun haben, also alle, Kommune, Eltern, Lehrer, alle, dass die entscheiden können, welche Schule wollen wir, und die haben wir dann. Das ist der Idealzustand!

    Meurer: Sie haben die Vielfalt mal als eine bunte Tüte Smarties bezeichnet. Also irgendwie könnten Sie sich doch damit anfreunden?

    Walther: Ja gut, Smarties sind schon so was zum Lutschen. Aber ob die so richtig nahrhaft sind, das wird sich dann immer erst erweisen, wenn man wirklich Hunger hat, glaube ich.

    Meurer: Ursula Walther, die stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrates, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank und auf Wiederhören, Frau Walther.

    Walther: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Hannelore Kraft gibt nach monatelangem Streit den Kompromiss zur Zukunft des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen bekannt
    Hannelore Kraft gibt nach monatelangem Streit den Kompromiss zur Zukunft des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen bekannt (picture alliance / dpa / Marius Becker)