Donnerstag, 18. April 2024

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Bundesländer im Politikunterricht-Vergleich
"Eine Kultur der Missachtung der politischen Bildung"

Eine Studie zeigt: Der Politikunterricht an Schulen wird in den Bundesländern vollkommen unterschiedlich gewichtet und gestaltet. In vielen Ländern sei politische Bildung nicht hinreichend im Unterricht verankert, sagte Studienautor Reinhold Hedtke im Dlf. So seien etwa in Bayern viel zu wenige Stunden im Lehrplan vorgesehen.

Reinhold Hedtke im Gespräch mit Michael Böddeker | 01.02.2018
    Blick in ein Klassenzimmer in Cottbus, Schüler sitzen an Tischen
    Nicht in allen Bundesländern wird Politikunterricht groß geschrieben (dpa / Patrick Pleuel)
    Michael Böddeker: Mehr Bildung und vor allem mehr politische Bildung, das wird seit Jahren als Wundermittel gepriesen gegen Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit und für mehr Teilhabe in der Gesellschaft. Allerdings in den Schulen gibt es zwar Politikunterricht, aber, das zeigt jetzt eine neue Untersuchung, es gibt dabei sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Autor der Studie ist der Sozialwissenschaftler Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld. Schönen guten Tag!
    Reinhold Hedtke: Schönen guten Tag!
    Böddeker: Sie haben sich die Stundentafeln der Sekundarstufe I angeschaut und da eine große Varianz gefunden. Von wo bis wo reicht denn das Spektrum?
    Hedtke: Also an der untersten Stelle liegt Bayern mit dem Gymnasium, da gibt es in der gesamten Schulzeit der Sekundarstufe I eine Unterrichtsstunde ein Schuljahr lang Sozialkunde, und in den oberen Bereichen liegen zum Beispiel Schleswig-Holstein oder auch Nordrhein-Westfalen und andere Länder, die bis zum achtfachen dessen in der Stundentafel vorsehen.
    Böddeker: Reicht es denn, sich tatsächlich nur die Stundentafeln anzuschauen? Es kann ja auch in anderen Fächern über politische Themen gesprochen werden.
    Hedtke: Na ja, die Stundentafeln bringen das zum Ausdruck, was der politische Wille ist, also sie bringen sozusagen die bildungspolitische Grundidee eines Landes zum Ausdruck, und insofern ist es schon wichtig, ob dort politische Bildung explizit steht oder ob politische Bildung in anderen Fächern untergebracht wird, und man würde ja auch nicht auf den Gedanken kommen zu sagen, weil in Physik auch gerechnet wird, deswegen können wir den Mathematikunterricht kürzen. Insofern sind zum Beispiel geschichtliche oder historische Bildung und politische Bildung zwei verwandte, aber doch sehr unterschiedliche Dinge.
    "Sie haben eine Kultur der Missachtung der politischen Bildung"
    Böddeker: Aber haben Sie das auch erfasst, wie viel tatsächlich über Politik gesprochen wird? Man kann ja auch einfach Politik und Wirtschaft haben, und dann geht es doch mehr um die Wirtschaft und weniger um Politik.
    Hedtke: Ja, man muss dann genauer hingucken. Also wir haben sozusagen nur die bildungspolitischen Vorgaben uns angesehen, das, was sein soll, und wenn man jetzt genauer guckt, muss man eine Ebene tiefer gehen, was steht in den Lehrplänen, und da haben wir bisher nur für Nordrhein-Westfalen herausgefunden, dass auch in Fächern, wo oben der Name Politik draufsteht, unter Umständen relativ wenig Politik gemacht wird – in Gymnasien in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel etwa ein Drittel, das andere Drittel ist dann Wirtschaft und so weiter, sodass man also erst bei einer genauen Lehrplananalyse rausfindet, was denn wirklich inhaltlich unterrichtet werden soll, und dann kommt die dritte Ebene – das ist noch mal anders –, was passiert eigentlich wirklich praktisch im Unterricht. Da muss man sehr skeptisch sein, weil wir auch hier empirische Daten vorliegen haben, nach denen dieser Politikunterricht sehr oft von Lehrkräften erteilt wird, die dafür nicht ausgebildet wurden.
    Böddeker: In der Studie ist die Rede von drei bildungspolitischen Kulturen. Können Sie die vielleicht ein bisschen umreißen?
    Hedtke: Wir haben eine Kultur zu der zum Beispiel der am Gymnasium Bayern, Saarland, Sachsen und Thüringen zählen, bei denen man einfach sagen kann, sie haben eine Kultur der Missachtung der politischen Bildung, sie geben also in ihren Stundentafeln relativ wenig Lernzeit für die politische Bildung her. Das ist sozusagen die eine Kultur. Dann gibt es eine Kultur, wo man sagen kann, im Vergleich – und die Betonung liegt wirklich auf im Vergleich, denn es kann ja sein, dass die Realität doch relativ schlecht ist –, im Vergleich viel Zeit planen in den Stundentafeln in Ländern wie Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Das ist sozusagen eine Kultur, wo seit Längerem die politische Bildung anerkannt ist, also eine Anerkennungskultur, und dazwischen haben wir eine Kultur der Mittelmäßigkeit, wo die Länder sich offensichtlich keine großen Gedanken um politische Bildung machen, sondern mit wenig Lust und wenig Engagement politische Bildung einen kleinen Teil oder einen mittelmäßigen Teil in der Stundentafel zur Verfügung stellen.
    Böddeker: Sie haben die Gymnasien schon angesprochen, aber Sie haben sicher auch noch andere Schulformen angeschaut in der Sekundarstufe I. Gibt es da Unterschiede?
    Hedtke: Ja, also es ist so – das ist ganz interessant –, dass so schlecht, wie das Gymnasium in einigen Bundesländern steht, die anderen Schulformen nicht, also die nicht-gymnasialen Schulformen der Sekundarstufe I. Wir können auch nicht genau sagen, woran das liegt, aber wir haben eine Vermutung. Die Vermutung ist, dass man bei den nicht-gymnasialen Schülerinnen und Schülern eher Befürchtungen hat, dass die politisch etwas auf Abwege geraten und man die deswegen intensiver mit politischer Bildung beschäftigen muss als die anderen. Das ist aber eine reine Spekulation im Moment.
    "Herausbildung eines politischen Bewusstseins braucht Zeit"
    Böddeker: Wenn Sie sich die Gesamtlage in Deutschland anschauen, was ist für Sie die Schlussfolgerung? Was sollte sich ändern Ihrer Meinung nach?
    Hedtke: Also die Schlussfolgerung ist meiner Meinung nach, dass man generell schauen muss, ob die politische Bildung in den Stundentafeln hinreichend verankert ist, und ich würde sagen, auf der Basis unserer Studie bestehen da erhebliche Zweifel in einigen Ländern. Man sollte dann gucken, ob in dem Fach, wo Politik draufsteht, auch wirklich Politik drin ist, und wenn man sich die Problemlage in unserer Gesellschaft heute anguckt, wenn man also sieht, wie die Spannungen wachsen, wie der Zusammenhalt der Gesellschaft nachlässt, dann muss man, glaube ich, diese Frage, was kann man eigentlich tun, um den Zusammenhalt, Integration, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu verbessern, die Spannungen zu reduzieren, was kann man eigentlich dazu tun, das muss man, glaube ich, im Unterricht lernen, und im Unterricht muss man vor allen Dingen lernen, wie diese Gesellschaft funktioniert, und das kommt derzeit so gut wie überhaupt nicht vor.
    Böddeker: Wäre das was, was auch bundesweit einheitlich gemacht werden sollte oder würden Sie sagen, es gibt im einen Land die Vorteile, im anderen Land die anderen Vorteile?
    Hedtke: Also ich bin eigentlich ein Anhänger von Diversität, solange wir nicht eindeutig wissen, was die beste Praxis ist, ist es wenig sinnvoll, zu sagen, wir legen uns jetzt bundesweit auf eine einzige Idee, auf eine einzige Fachkonzeption fest. Ich finde aber, man sollte Einigkeit darüber erzielen, dass politische Bildung doch ein anerkannter Bestandteil der Stundentafel ist und dass, wenn man nur in zwei Klassenstufen – meinetwegen 9 und 10 – ein oder zwei Stunden Politik hat, dass das definitiv zu wenig ist und dass der Politikunterricht durchgängig angeboten werden muss, also von Klasse 5 bis Klasse 9, weil die Herausbildung einer demokratischen Grundhaltung, die Herausbildung eines politischen Bewusstseins braucht Zeit. Das kann man nicht in 30 Zeitstunden in einem Schuljahr abhandeln.
    Böddeker: Professor Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld hat in einer neuen Vergleichsstudie große Unterschiede zwischen den Bundesländern ausgemacht bei der Frage, wie viel Politikunterricht es in der Schule gibt. Vielen Dank für das Interview!
    Hedtke: Ja, gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.