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Bundespräsident Rau zu Besuch in Italien

Heinlein: Gestern Nachmittag, wenige Stunden vor dem wahrscheinlichen Flugzeugunglück in Italien bestieg Bundespräsident Johannes Rau in Mailand seine Maschine, die ihn von seinem Staatsbesuch zurück nach Deutschland brachte. Der Bundespräsident erhielt somit erst nach seiner Rückkehr die Nachricht von den tragischen Ereignissen. Im Mittepunkt der Reise stand der Besuch in der Ortschaft Marzabotto. Dort hatte Rau als erster Bundespräsident der Opfer eines Nazimassakers an mehr als 800 Zivilisten im Jahre 1944 gedacht. Gestern dann zum Abschluss seiner viertägigen Visite ging es um die Europapolitik. Mein Kollege Wolf Renschke hat mit Johannes Rau vor seinem Abflug aus Mailand gesprochen und ihn zunächst gefragt, welche Rolle Deutschland und Italien in Europa übernehmen können.

    Rau: Es gibt überhaupt keine Unterschiede zwischen Präsident Ciampi und mir im Blick auf die europäische Zukunft, und mir scheint wichtig zu sein, dass wir uns daran erinnern, dass Italien und Deutschland schon vor 50 Jahren die treibenden Kräfte waren. Alcide de Gasperi, Konrad Adenauer haben gemeinsam mit Monet und anderen Europa als Version erdacht und vorgestellt, und wir stehen in dieser Tradition und wir sollten diese Tradition achten und aus ihr Zukunft gewinnen. Wenn wir das gemeinsam tun, werden wir auch andere auf diesem Weg in ein größer gewordenes Europa mitnehmen. Dabei werden wir Älteren lernen müssen, dass Europa nicht nur Westeuropa ist, sondern dass der östliche Teil Europas genauso dazu gehört und dass viele dieser Länder im Osten sich selber als Länder der Mitte, als Länder Zentraleuropas befinden. Nur unser westeuropäisches Denken hat sie in den Osten gerückt. In Wirklichkeit gehört natürlich Polen zu Zentraleuropa und nicht zu Osteuropa.

    Renschke: Europa spricht zu wenig mit einer Stimme, heißt es immer wieder. Sie haben das auch angesprochen. Was kann denn Europa tun, um mit einer Stimme zu sprechen, und zwar über das Verhältnis Deutschland und Italien hinaus und jenseits der Diskussion über eine Reform der Institutionen?

    Rau: Wir sind weiter als wir vor zehn Jahren waren, was die gemeinsame Stimme angeht und wir sind nicht so weit, wie wir seit zehn Jahren sein müssten. Das wird ganz deutlich bei der Haltung Europas zum Nahen und Mittleren Osten, bei der Frage des Dialogs zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa. Es gibt eine Gefahr, dass man Gemeinsamkeiten reklamiert und dass in Wirklichkeit der, der diese Gemeinsamkeit reklamiert, meint, der andere muss meine Position übernehmen, damit wir eine gemeinsame Position haben. Wir müssen den Kompromiss noch lernen und einüben und das ist in der Außenpolitik nicht leicht, aber ich glaube das ist die Herausforderung, vor der wir jetzt stehen.

    Renschke: Stichwort Außenpolitik: Sie haben hier in Italien mit Ihrem Kollegen Ciampi auch über Ereignisse jenseits von Europa gesprochen. Der Nahe Osten: Was kann Europa da in der gegenwärtigen Situation aus Ihrer Sicht tun?

    Rau: Wir können nur gemeinsam mit den Vereinten Nationen und mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit Russland alle Kräfte einsetzten, damit die Spirale der Gewalt ein Ende nimmt. Denn das was da geschieht baut Mauern des Hasses. Die werden länger bestehen als jeder Zaun oder als jede Mauer, und das hindert Verständigung, das hindert die Möglichkeit, dass Menschen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und unterschiedlicher Ethnien friedlich miteinander leben, so wie wir das von Oslo und von Madrid aus gehofft haben und wie es nun sich nicht zu realisieren scheint. Da ist die Gefahr der Resignation groß, und ich kann nur raten, der Resignation zu widerstehen und neue Initiativen zu suchen.

    Renschke: Wie schwierig ist es da für Deutschland, die Anteile beider beteiligten Parteien zu berücksichtigen?

    Rau: Das ist schwer, aber das ist unvermeidlich. Wir müssen deutlich machen: Wir haben für Israel eine ganz besondere Verantwortung. Es gäbe Israel als Staat nicht, wenn es nicht den Holocaust und die Shoa aufgrund deutscher Verantwortung gegeben hätte. Und wir sind gegenüber Israel und nicht nur seinem Existenzrecht, wie das manche sagen, sondern auch gegenüber seiner Sicherheit nicht neutral. Aber das heißt nicht, dass wir nicht Schritte israelischer Regierungspolitik öffentlich auch kritisch begleiten. Das kann ein Erweis der Freundschaft sein, viel besser als Schweigen, und ich glaube, das ist nötig, damit nicht die Propheten des Antisemitismus wieder Oberhand gewinnen, denn das wäre das Schlimmste was uns in Deutschland und in Europa geschehen könnte, wenn aus Vorbehalten gegenüber Regierungspolitik Anti-Israel-Politik und aus Anti-Israel-Politik Antisemitismus-Vorurteile erwüchsen.

    Renschke: Erkennen Sie eine Entwicklung in Deutschland, die in diesem Sinne parteiischer wird?

    Rau: Bisher noch nicht, aber ich glaube, dass man nicht früh genug davor warnen kann, und ich bin da einig mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, aber auch mit vielen anderen in Kirchen und Verbänden und mit denen, die in den Parteien politische Verantwortung tragen. Bisher gibt es Schreckensmeldungen aus Frankreich und aus Belgien, aber keiner sollte sagen, wir wären gefeit gegen solche Fehlentwicklungen, und wir als Deutsche müssen darauf achten, dass die Schwelle der Sensibilität bei uns nach der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und seiner ersten Hälfte besonders nachgemessen wird.

    Heinlein: Der Bundespräsident im Gespräch mit meinem Kollegen Wolf Renschke.

    Link: Interview als RealAudio