
"Sag uns die Wahrheit, Hopp hopp hopp!"
Mitte Juni bei einer Kundgebung in Krefeld: Umringt von Transparenten und Fotos von chilenischen Verschwundenen haben sich 50 Personen versammelt. Ein deutsch-chilenisches Paar spielt Lieder der Protestsängerin Mercedes Sosa, viele singen mit. Sie stehen vor dem Haus von Hartmut Hopp, dem früheren Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad. Colonia Dignidad war eine deutsche Sektensiedlung im Süden Chiles.
Die 75-jährige Myrna Troncoso ist auch dabei. Sie ist die Vorsitzende des Angehörigenverbandes von Verschwundenen aus der südchilenischen Region des Maule-Flusses. Die Chilenin ist nach Deutschland gereist, um über das Schicksal ihres Bruders Ricardo und aller mutmaßlich in der Colonia Dignidad ermordeten Gefangenen Aufklärung zu fordern. Die zierliche Frau mit geblümter Bluse trägt ein Foto ihres Bruders um den Hals. Sie hat dem ehemaligen Arzt der Sekte einen Brief geschrieben und liest diesen laut vor.
"Herr Hartmut Hopp, nach 45 Jahren der Suche stehe ich vor Ihrer Haustür. Wir wissen, dass Dutzende unserer Verwandten in die Colonia Dignidad gebracht, dort gefoltert und ermordet wurden. Wir kennen die Aussagen von Bewohnern der Siedlung, die ihre Beteiligung an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestanden haben."

Nach dem Militärputsch 1973 und der Machtübernahme durch Diktator Pinochet richtete der chilenische Geheimdienst DINA in der deutschen Siedlung ein Folterlager ein. Hartmut Hopp galt als Vertreter der Colonia Dignidad nach außen und als Verbindungsmann zur DINA.
"Mein Bruder Ricardo Troncoso Muñoz war 26 Jahre alt, als er festgenommen wurde. Er war beim MIR, der Bewegung der Revolutionären Linken. Er war Biologielehrer, verheiratet, hatte eine kleine Tochter. Nach der Verhaftung am 15.8.1974 wurde er nach Londres 38 gebracht, ein Haus in dem gefoltert wurde. Ende August wurde er von dort weggebracht - mit unbekanntem Ziel. Wir haben Hinweise, dass er, so wie auch andere Angehörige des MIR, in die Colonia Dignidad gebracht wurde."
In Chile und Deutschland waren die Zustände in der Colonia Dignidad spätestens seit 1967 bekannt. In dem Jahr war es dem damals 20-jährigen Wolfgang Kneese gelungen, aus der abgeriegelten Siedlung zu fliehen. Er war vom Sektenchef Schäfer bereits als Kind nach Chile verschleppt worden. Kneese berichtete der chilenischen und der deutschen Presse vom systematischen sexuellen Missbrauch in der Sekte, von Prügel und zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka. Doch weder in Chile noch in Deutschland griffen Justiz oder Regierungen ein.

Erst im April 2016 äußerte sich Frank-Walter Steinmeier - damals noch Bundesaußenminister. Der heutige Bundespräsident verneigte sich vor den Opfern und sagte selbstkritisch:
"Nein, der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Über viele Jahre hinweg von den 60er- bis in die 80er-Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut, jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan."
Steinmeier machte damit den ersten großen Schritt in Richtung Aufarbeitung der deutschen Mitverantwortung an der Geschichte der Colonia Dignidad.
Ein gutes halbes Jahr später reiste eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten nach Chile. Sie machten sich selbst ein Bild in der deutschen Siedlung. Seit 1988 nennt sich diese Villa Baviera, "Bayerisches Dorf". Es finanziert sich unter anderem durch ein Tourismusunternehmen mit Hotel und Restaurant im bayerischen Stil.
Die damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, Renate Künast von den Grünen: "Es war ja die offizielle Delegation des Rechtsausschusses, es waren alle Parteien vertreten, und es waren alle extrem beeindruckt. Wir hatten uns quasi das Versprechen gegeben in Chile, das war mir wichtig, wenn wir zuhause sind, machen wir daraus einen Antrag, um jetzt wirklich ernsthaft Aufarbeitung zu versuchen"

"Nach dem Bekenntnis der moralischen Mitverantwortung muss die Bundesregierung den Worten Taten folgen lassen. Der deutsche Bundestag macht fraktionsübergreifend Druck. Wir wollen Aufarbeitung der Vergangenheit, wir wollen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, und dass vor allen Dingen die Opfer konkrete Unterstützung bekommen."
Um die historische Aufarbeitung und die Errichtung einer Gedenkstätte zu koordinieren, wurde noch im Sommer 2017 eine bilaterale Kommission gegründet. Diese sogenannte "Gemischte Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad" besteht aus Regierungsvertretern beider Staaten. Zwei Mal hat sich die Kommission bislang getroffen.
Wie groß das Aufklärungsinteresse der neuen chilenischen Regierung des rechts-konservativen Präsidenten Piñera sein wird, bleibt abzuwarten. Der neue Minister für Justiz und Menschenrechte, Hernán Larraín, galt bis Ende der 90er-Jahre als Unterstützer der Colonia Dignidad.
Möglicherweise können auf dem Gelände der Villa Baviera heute noch sterbliche Überreste identifiziert werden. Die chilenische Justiz hat Grabungen veranlasst. Kürzlich konnten Forensiker an einem Ort zwar Spuren von Verbrennungen nachweisen, doch Rückschlüsse auf die Identität der Toten ließen sich nicht ziehen.

Laut der Antwort auf eine Kleine Anfrage von Jan Korte und der Fraktion der LINKEN hat die chilenische Regierung im Januar eine konkrete Bitte an das deutsche Außenministerium gerichtet. Dabei ging es um kriminaltechnische und finanzielle Unterstützung. Die jedoch gibt es bis heute nicht.
In dem vor einem Jahr im Bundestag verabschiedeten Antrag ist auch von einer deutsch-chilenischen Expertenkommission zur historischen Aufarbeitung die Rede. Eingesetzt ist dieses Gremium jedoch bis heute nicht. Auch der Aufbau eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes zur Förderung der Menschenrechtsarbeit in Chile wird gefordert. Das Auswärtige Amt soll die Umsetzung dieses Vorhabens "im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel" bis zum 30. Juni prüfen. Myrna Troncoso ist zuversichtlich. Als Vertreterin der Angehörigen von Verschwundenen war sie Mitte des Monats in den Bundestag eingeladen.
"Ich wurde sehr herzlich empfangen und bin sehr zufrieden. Die Abgeordneten haben mir zugehört und ich sehe, dass sie etwas tun: Sie werden Geld zur Verfügung stellen für einen Ort der Erinnerung. Ich denke, dass das in unserer Region sein muss, denn die Erinnerung ist da, wo die Dinge geschehen sind."
Elke Gryglewski ist stellvertretende Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz. Sie leitete im Auftrag des Auswärtigen Amtes einige Seminare mit Experten und Betroffenen in der heutigen Villa Baviera.
"Wir moderieren unterschiedliche Gesprächsgruppen, wo gemeinsam überlegt wird, was ist sinnvollerweise Funktion eines solchen Ortes usw. Wir sind der festen Überzeugung, dass es sinnvoll ist, vor Ort etwas einzurichten und dass das auch wirklich gut machbar ist, indem man beispielsweise die fünf Hauptgebäude, die wirklich historisch bedeutsam sind für die Geschichte von Unterdrückung, dass man dort Ausstellungen bauen kann. Ich glaube, es müsste einen Ort geben, wo eine übergreifende Ausstellung gemacht wird, die die Gesamtgeschichte der Colonia Dignidad bis hin in die Villa Baviera hinein erzählt."
Aus ihrer Sicht könnten diejenigen Bewohner, die die Siedlung nicht verlassen wollen, weiter in ihren Häusern wohnen. Privates Wohnen und öffentlicher Gedenkort könnten nebeneinander funktionieren. Doch das ist nach wie vor umstritten bei den Bewohnern und den Angehörigen der Verschwundenen.
Zum Beispiel im Fall Hartmut Hopp. Der frühere Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad galt als rechte Hand des Sektenchefs Schäfer. Seit 2011 ermittelt die Staatsanwaltschaft Krefeld gegen ihn - unter anderem wegen Köperverletzung durch zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka und wegen Beihilfe zum Mord an drei chilenischen Oppositionellen. Der Krefelder Oberstaatsanwalt Axel Stahl sagt, er habe 2013 bereits die chilenische Justiz um Unterstützung gebeten – ohne ausreichenden Erfolg. Bis heute wurde keine Anklage gegen Hopp erhoben. Auch einige andere frühere Führungsmitglieder der Sekte leben von der Justiz unbehelligt in Deutschland.

"Die chilenischen Kolleginnen und Kollegen waren ausgesprochen hilfsbereit und daran interessiert eben auch zusammenzuarbeiten, alles zu tun, um Deutschland bei Ermittlungen zu unterstützen."
Dirk Mirow ist im Bundesjustizministerium Leiter der Abteilung, die für internationale Rechtshilfe zuständig ist. Er erklärt, dass Anfragen deutscher Justizbehörden nun schneller als bisher an die zuständige Behörde in Chile gelangen sollen - und umgekehrt. Außerdem sollen Videokonferenzen künftig die Teilnahme an Zeugenvernehmungen im anderen Land ermöglichen.
Juristisch brisant bleibt derweil die Frage, ob Hartmut Hopp eine chilenische Strafe in Deutschland verbüßen muss. Der in Chile wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilte frühere Sektenarzt setzte sich 2011 nach Deutschland ab und entzog sich dieser Strafe. Seit sieben Jahren lebt er als freier Mann in Krefeld.

Sobald die Vorschläge vorliegen, wollen die Abgeordneten diese diskutieren und in die Etatberatungen für den Bundeshaushalt 2019 einbringen.
Die allerschwierigste Entscheidung aber steht noch aus: Wer soll diese finanzielle Hilfe überhaupt erhalten? Chilenen? Deutsche? In Chile und in Deutschland lebende Personen?
Die Wahrheit über die Colonia Dignidad und deren Zusammenarbeit mit dem chilenischen Geheimdienst aufzudecken, wäre auch ein Zeichen des Respekts gegenüber den Angehörigen der Verschwundenen, sagt sie. Denn diese fordern vom deutschen Staat zwar kein finanzielle Entschädigung, aber endlich Aufklärung der Geschichte und des Verbleibs ihrer Liebsten.