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Gysi: Gesellschaft hat Recht auf Opposition

Oppositionsführer Gregor Gysi (Die Linke) sagte im Deutschlandfunk vor der heutigen Regierungserklärung der Kanzlerin, die Gesellschaft habe ein Recht auf Opposition. Das wollten auch die Wähler von SPD und Union. Demokratie brauche eine wirksame Opposition.

Gregor Gysi im Gespräch mit Christine Heuer | 29.01.2014
    Gregor Gysi spricht am 20. September 2013 in Berlin vor einem Mikrofon, vor weißem Hintergrund. Oben im Hintergrund sind drei rote Scheinwerfer zu sehen.
    Linken-Fraktionschef Gregor Gysi (JOHANNES EISELE / AFP)
    Christine Heuer: Erst kommt die Kanzlerin dran mit einer Regierungserklärung zum Start der Großen Koalition, dann folgt ein wahrer Minister-Marathon. Viele, viele Stunden lang werden Regierung und Regierungsfraktionen ab heute im Bundestag die eigenen Pläne darstellen, erläutern und, na ja, auch feiern. Linke und Grüne dagegen wirken wie auf parlamentarischer Diät: Wenig Redezeit, wenig Geld, weniger Abgeordnete. Da drohen Selbstverständlichkeiten wie die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen schon mal unter die Räder zu kommen. Die Opposition soll gestärkt werden, aber wie? Darüber wird noch gestritten.
    In Berlin begrüße ich Gregor Gysi, den Fraktionsvorsitzenden der Linken, und weil das auch die stärkste Oppositionsfraktion ist, ist Gregor Gysi Oppositionsführer im Bundestag. Guten Morgen.
    Gregor Gysi: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Es gibt einen Minister-Marathon im Bundestag. Sie sind der Oppositionsführer, Herr Gysi. Wie viele Minuten dürfen Sie heute reden?
    Gysi: Ganz theoretisch hätte ich 21 Minuten gehabt, aber da noch über den Kulturetat gesprochen wird und unsere kulturpolitische Sprecherin natürlich auch reden wollte, habe ich ihr drei Minuten gegeben, sodass ich 18 Minuten habe. Ich muss mich sehr konzentrieren, nach einer Stunde 18 Minuten zu antworten.
    "Die Gesellschaft hat ein Recht auf Opposition"
    Heuer: Reicht Ihnen das überhaupt aus?
    Gysi: Nein, eigentlich nicht, wobei natürlich unsere Erste Parlamentarische Geschäftsführerin viel erreicht hat, was die kurzen Debatten betrifft, von einer halben Stunde, von einer Stunde. Da hat sich unsere Redezeit verdoppelt. Bei den langen meinte sie, ach Gott, ob ich da nun zwei oder drei Minuten mehr habe, ist nicht so wichtig. Aber heute stört es mich schon. Ich denke vor allen Dingen, Bundestagsdebatten dürfen doch nicht langweilig werden, und wenn man Achtzehnmal hintereinander einen Unions-Abgeordneten hört, die immer alle das gleiche erzählen, also nein, das kann man sich ja gar nicht vorstellen. Deshalb sage ich, wir müssen das Prinzip Rede und Gegenrede versuchen, zumindest einigermaßen aufrecht zu halten. In der letzten Legislaturperiode war es so, dass wir am Schluss immer drei Reden von der Union hörten. Das ist ja noch auszuhalten. Aber wenn das deutlich mehr werden, wird es wirklich langweilig. Das geht nicht.
    Und vor allen Dingen, was alle durcheinander bringt: Es geht doch nicht um Rechte der Grünen und der Linken, sondern es geht um ein Recht der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat ein Recht auf Opposition und auch diejenigen, die gewählt haben, die Regierungsparteien, also CDU/CSU und SPD, wollen doch eine wirksame Opposition, und das kann man nur hinbekommen, wenn man die Rechte der Opposition tatsächlich stärkt.
    Heuer: Herr Gysi, gut, dass Sie die Wähler ansprechen. Die sind ja nun dafür verantwortlich, dass die Opposition so schwach ist im Bundestag. Muss man das dann nicht auch mal akzeptieren?
    Gysi: Ja natürlich muss man das in gewisser Hinsicht akzeptieren. Das machen wir ja auch. Aber das ändert nichts an den Grundrechten der Opposition. Und ich betone noch einmal: Auch wenn jemand zum Beispiel uns wählt und wir wirklich in die Regierung gegangen wären und die Möglichkeit dazu gehabt hätten, hätte er doch gewollt, dass es eine wirksame Opposition gibt. Und genauso ist es bei den Wählerinnen und Wählern von SPD, CDU und CSU. Das unterschätzen die Vertreter dieser Fraktionen, die wollen doch nicht bloß eine Regierung. Wenn man bloß eine Regierung will, will man keine Demokratie. Wenn man Demokratie will, will man auch eine wirksame Opposition. Im Kern verhandeln wir für die Gesellschaft auf das Recht der Opposition, und zwar einer wirksamen Opposition, und das gilt ja nicht nur für Redezeiten, das gilt auch für Untersuchungsausschüsse und für viele andere Themen.
    Minderheitenrechte müssen verankert werden
    Heuer: Genau. Und die Grundrechte der Opposition möchten doch die Regierungsfraktionen gar nicht aushebeln. Die wollen Ihnen nur freiwillig entgegenkommen.
    Gysi: Na ja, wissen Sie, das kann ich ja nun besonders gut leiden, wenn wir immer auf den guten Willen der Regierungskoalition angewiesen sind.
    Heuer: Trauen Sie denen nicht?
    Gysi: Nein! Dann machen wir "bitte, bitte" und sagen "Untersuchungsausschüsse", dann sagen die "na ja, vielleicht einen halben oder so". Nein, nein, so geht das nicht. Die Rechte müssen verankert sein, und zwar gerade die Minderheitenrechte, weil das ja auch immer bedeutet, eine Mehrheit will was anderes und die Minderheit kann sich durchsetzen. Deshalb hat doch das Grundgesetz, deshalb hat die Geschäftsordnung, deshalb haben andere Gesetze Minderheitenrechte verankert - doch nicht, weil sie einfach gerade keine Lust hatten, was anderes zu regeln, sondern weil man wollte, dass eine Minderheit im Parlament diese Rechte hat: Ob es eine öffentliche Anhörung ist, ob es ein Untersuchungsausschuss ist, ob es das Normenkontrollverfahren ist oder was auch immer. Ergo müssen wir doch darüber nachdenken, wenn das ein Minderheitenrecht ist - und man hat dabei immer an die Opposition gedacht -, wenn aber die Opposition zu klein ist, um diese Minderheit zu stellen, wie man eine Regelung schafft, meinetwegen eine vorübergehende, aber vor allen Dingen eine Regelung schafft und sagt, gut, auch diese Opposition hat, wenn sie es geschlossen will - das ist ja schon eine Hürde -, die entsprechenden Rechte. Denn wenn wir die Rechte bekämen, wäre es ja so: Wenn die Grünen Nein sagen, können wir es nicht machen, wenn wir Nein sagen, können es die Grünen nicht machen. Das ist ja schon eine Hürde genug. Aber zu sagen, jetzt sollen wir noch Abgeordnete der Union und der SPD gewinnen, die mit uns zusammen Opposition spielen, ich bitte Sie!
    Heuer: Nein, nein! So ist es doch auch nicht, Herr Gysi. Ich meine, die Regierungsfraktionen sind ja schon bereit, da an der Geschäftsordnung was zu ändern. Sie bestehen aber auf einem Gesetz! Sie wollen diese Spielregeln für alle Zeiten ändern. Warum ist das denn notwendig?
    Gysi: Das kann ich Ihnen sagen. Ich will eigentlich folgende Regelung haben, dass ich sage, es gibt Minderheitenrechte im Grundgesetz und in verschiedenen Gesetzen und in der Geschäftsordnung. Und wir müssten eigentlich aufnehmen zu sagen, in dem Fall, in dem die Opposition weniger Abgeordnete stellt als die Minderheitenrechte verlangen, kann sie geschlossen dennoch das gleiche beantragen. Wissen Sie, dann haben wir auch nicht das Problem, wenn wir beim nächsten Mal nur noch ein Sechstel Opposition haben. Dann ist es für immer geregelt: Die Opposition kann diese Rechte wahrnehmen, und zwar wenn sie stärker ist als ein Viertel oder als ein Drittel, dann muss sie halt ein Viertel oder ein Drittel der Abgeordneten stellen, und wenn sie schwächer ist, kann sie es geschlossen dennoch tun. Dann haben wir eine Regel, dass es immer wirksame Rechte der Opposition gibt und nicht abhängig davon, wie viele Abgeordnete sie stellt. Das ist meines Erachtens auch der Grundgedanke des Grundgesetzes hinsichtlich der Wirksamkeit der Opposition, und das müssten wir umsetzen.
    Rentenpaket: "Verfassungsrechtliche Bedenken"
    Heuer: Dann kommen wir mal auf die Inhalte. Heute wird ja in der Debatte und auch im Kabinett das Rentenpaket von Andrea Nahles verhandelt. Wäre das, wenn es denn ginge, schon der erste Fall für eine Normenkontrollklage der Opposition, also dafür, um das zu übersetzen, das Gesetz in Karlsruhe auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen?
    Gysi: Ich glaube, dass es da verfassungsrechtliche Bedenken in mehrfacher Hinsicht gibt. Die erste Überlegung besteht darin, dass man sagen wird, Menschen, die 45 Jahre lang Beiträge bezahlt haben, sollen zwei Jahre früher in Rente gehen können als andere. Dieser Name "63er-Rentengesetz" ist ja schon deshalb falsch, weil das ja immer steigt, bis wir bei 65 Jahren sind, weil alle anderen erst ab 67 in Rente gehen dürfen.
    Heuer: Immer noch schön.
    Gysi: Ja, ja! Ich habe ja nichts dagegen. Das Problem ist nur: Die Regelung haben wir jetzt schon. Mit 65 kann man jetzt schon in Rente gehen, wenn man 45 Jahre hat. Das heißt, wenn wir diese Zahl erreicht haben, gibt es gar keine Neuregelung, sondern die jetzige Regelung.
    Jetzt kommen aber meine Bedenken. Meine Bedenken bestehen dahin, dass ALG1-Empfänger, also Arbeitslosengeld-1-Empfänger, die Beiträge bezahlen, und zwar, weil sie eine Versicherung abgeschlossen haben - daher bekommen sie ja das Arbeitslosengeld 1 -, und davon bezahlen sie Beiträge, dass deren Jahre nicht angerechnet werden. Genauso wenig werden die Jahre angerechnet von ALG2-Empfängern und Sozialhilfe-Empfängern aus der Zeit, als man noch Beiträge bezahlen durfte. Das ist ja heute nicht mehr zulässig. Die zahlen ja keine Beiträge, das kritisieren wir auch, aber das ist eine ganz andere Frage. Das heißt: Wenn ich 45 Beitragsjahre rechne, ist es gerechtfertigt, bestimmte Jahre, in denen auch Beiträge gezahlt wurden, nicht anzuerkennen? Oder verstößt das zum Beispiel gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz. Das ist doch eine spannende Frage.
    Heuer: In der Tat, und Andrea Nahles, die Arbeitsministerin, sucht für ihr Gesetz ja auch noch eine, wie es heißt, verfassungskonforme Regelung, um zum Beispiel Frühverrentungen zu verhindern. Darüber wurde in den letzten Tagen diskutiert, hängt alles auch mit dem Arbeitslosengeld zusammen. Haben Sie einen Vorschlag für die Arbeitsministerin, wie das gehen kann?
    Gysi: Na ja, sie muss versuchen, sich gegen die CDU und CSU durchzusetzen und zu sagen, wenn sie wenigstens das für die ALG1-Empfänger durchsetzt, wäre das ja schon ein gewaltiger Schritt. Aber ich glaube, dass sie sich nicht durchsetzen wird, weil die Union wieder zurecht Folgendes befürchtet: Die heutige Regelung, wonach man ab 65 in Rente gehen kann, wenn man 45 Beitragsjahre hat, da sind die ALG1- und die ALG2-Empfänger auch rausgenommen und auch die Sozialhilfe-Empfänger. Also sagen die, wie sollen wir denn das erklären. Mit anderen Worten: Sie müssten auch rückwirkend das andere Gesetz ändern, wo ich ja dafür bin. Aber den Mumm muss man haben, und wenn man eine Große Koalition bildet, muss man ja vielleicht auch mal große Schritte gehen und nicht nur kleine Schritte gehen. Aber das ist ja nur ein Punkt.
    Das Nächste ist: Was ich für völlig abstrus halte, ist die Mütterrente - schon der Name ist falsch, aber das ist ja auch egal - und die Lebensleistungsrente. Ich will Ihnen auch die zwei Gründe sagen, wenn ich darf.
    "Wir werden sowieso klagen"
    Heuer: Herr Gysi, eigentlich eher nicht mehr, da wir nicht mehr so viel Zeit haben. Ich würde Ihnen gerne noch eine andere …
    Gysi: Ich will kurz sagen: Dass Kinder einen unterschiedlichen Wert haben, das ist doch mit dem Grundgesetz nicht hinzubekommen.
    Heuer: Das besprechen wir an anderer Stelle noch mal ausführlich mit Ihnen, Herr Gysi. Eine Frage hätte ich jetzt noch. Da Sie eine Normenkontrollklage ja nicht starten können, das Rentenpaket aber für verfassungswidrig halten, geht Die Linke dann nach Karlsruhe und klagt, wenn es so kommt?
    Gysi: Wir werden sowieso klagen um das Normenkontrollverfahren, wenn wir es nicht zugebilligt bekommen, mit der Hürde, dass sich Grüne und Linke einig sein müssen, sonst gibt es das nicht. Das akzeptiere ich. Aber zu sagen, wir haben das vier Jahre überhaupt nicht, und keine Landesregierung wird je eine Normenkontrollklage erheben, und zwar deshalb, weil in jeder Landesregierung eine der drei Regierungsparteien sitzt, nämlich CDU, CSU oder SPD. Das geht nicht. Wir können ja nicht ein Grundrecht, wenn man so will, ein Königsrecht der Opposition, auch wenn Sie recht haben, dass das selten genutzt wurde, trotzdem ist es ein Königsrecht der Opposition, einfach streichen für vier Jahre. Das geht nicht.
    Heuer: Herr Gysi, Sie klagen in Sachen Normenkontrollklage. Klagen Sie auch in puncto Rentengesetze, ganz kurz zum Schluss bitte?
    Gysi: Kann ich ja erst, wenn ich ein Normenkontrollverfahren einleiten darf. Erst muss ich die eine Klage machen, dann muss ich gewinnen und dann können wir die andere machen.
    Heuer: Gut! Die Reihenfolge müssen Sie einhalten, das sehe ich ein. Gregor Gysi, der Oppositionsführer im Bundestag, Fraktionsvorsitzender der Linken, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank und eine schöne Rede heute im Bundestag.
    Gysi: Danke schön, Frau Heuer!
    Heuer: Tschüss!
    Gysi: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.