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Bundestagspräsident Lammert: Auch Kinder müssen vom Aufschwung profitieren

Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland muss sich nach Ansicht von Bundestagspräsident Norbert Lammert auch in den Renten und den Leistungen für Kinder niederschlagen. In der Großen Koalition sei man sich einig darüber, dass vor allem für Kinder zusätzliche Initiativen nötig seien, sagte der CDU-Politiker. Gleichzeitig plädierte Lammert für weitere Anstrengungen, Beruf und Familie leichter vereinbar zu machen.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: In Schloss Meseberg hat das Kabinett vor einer Woche den Startschuss gegeben für den zweiten Teil der Legislaturperiode. Trotz aller Kritik, die Regierung bringe keine großen Reformprojekte auf den Weg, sie traue sich wenig zu, die Kanzlerin Angela Merkel verweist auf den Aufschwung, der jetzt alle erreichen soll:

    Merkel: " Wir wollen die Grundlagen des Aufschwungs stärken, und zwar erstens, damit dieser Aufschwung dauerhaft wird, und zweitens, damit alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes an diesem Aufschwung teilhaben können."

    Meurer: So lautet also das Motto von Regierungschefin Angela Merkel für die zweite Hälfte der Legislaturperiode und im Studio begrüße ich nun Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Schönen guten Morgen Herr Lammert!

    Norbert Lammert: Guten Morgen!

    Meurer: Dieses Motto der Kanzlerin, wie beträchtlich glauben Sie denn ist der Anteil der Menschen in unserer Gesellschaft, an denen der Aufschwung bisher noch vorbeigeht?

    Lammert: Jedenfalls wird der Anteil der Leute, die von sich glauben, dass er an ihnen vorbeigeht, wesentlich größer sein als der Anteil derjenigen, die tatsächlich überhaupt nicht, weder direkt noch indirekt, von der gründlichen Veränderung der wirtschaftlichen Lage profitieren. Aber ich finde schon richtig, dass die Kanzlerin nicht nur für sich als Person, sondern für die Koalitionsparteien, für diese Regierung sich selber diesen Anspruch für die zweite Hälfte der Legislaturperiode stellt, denn dass dies die große Erwartung in unserer Gesellschaft ist - übrigens nach meinem Eindruck einschließlich derjenigen, die sich selbst gar nicht zu den Benachteiligten zählen -, daran habe ich keinen Zweifel.

    Meurer: Die Diskussion umfasst im Moment zum Beispiel zwei Gruppen: die Alten und die Kinder. Die Alten, die Rentner, fühlen sich subjektiv benachteiligt. Sie sagen, wir haben jetzt schon mehrere Null-Runden gehabt, wir möchten eine höhere Rente haben. Andere sagen, objektiv geht es den Rentnern so gut wie nie. Was sagen Sie zur Situation der Rentner?

    Lammert: Ich kann die Erwartung der Rentner gut nachvollziehen. Es wird sie, also die Rentnerinnen und Rentner, nur begrenzt trösten, dass wir den Nachweis führen können, dass hier keine Benachteiligung stattgefunden hat, sondern dass der Gesetzgeber nach der Logik unseres gesetzlichen Systems der Altersversicherung die jeweilige Entwicklung der Erwerbseinkommen zur Grundlage der Entwicklung der Alterseinkünfte gemacht hat und dass insofern diese aus der Sicht der Rentner außerordentlich enttäuschende Entwicklung der letzten Jahre die Konsequenz der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, übrigens der sich daraus auch ergebenden Belastung der Erwerbstätigen mit tendenziell steigenden Versicherungsbeiträgen auch und gerade für Rentenversicherungsbeiträge gewesen ist. Aber dass es jetzt die Erwartung gibt, bei einer erkennbar verbesserten wirtschaftlichen Situation, höheren Wachstumsraten, deutlich höheren Tarifabschlüssen, wachsender Beschäftigung, dass sich das auch in den Renten niederschlägt, das finde ich nicht nur verständlich, sondern auch begründet.

    Meurer: Sie machen sich diese Forderung zu eigen: höhere Rentenanpassung im nächsten Jahr?

    Lammert: Ich mache mir gar keine Forderung zu eigen, sondern ich weise darauf hin, dass nun nach der gleichen Logik, mit der in der Vergangenheit die sicher damals schon vorhandenen Erwartungen nicht bedient werden konnten, sich mit doch einer beachtlichen Erfolgsaussicht für das nächste Jahr eine positive Veränderung abzeichnet, weil die Einkommens- und Gehaltsentwicklungen nun nach der gleichen Logik auch zur Anpassung von Renten führen kann.

    Meurer: Studien und Analysen zeigen, Herr Lammert, dass die Union, die CDU, auch Ihre Partei gerade bei den Senioren, bei den Rentnerinnen und Rentnern an Zustimmung verliert, und zwar recht erheblich. Woran liegt das denn?

    Lammert: Es hängt sicher auch mit dem Thema zusammen, das wir gerade diskutiert haben. Wir haben insgesamt nicht nur bei älteren Menschen eine seit längerer Zeit zu beobachtende Neigung, gewissermaßen die Nibelungentreue gegenüber den jeweiligen Parteien doch deutlich aufzulockern und sich rechts und links auch nach Alternativen umzusehen. Für die Union ist das sicher ein beachtliches Datum. Sie hat sich gewissermaßen in ihrer gesamten Parteigeschichte auf keine andere Wählergruppe so sehr verlassen können wie die Rentnerinnen und Rentner.

    Meurer: Ist das vielleicht anders geworden, weil die Union unter Angela Merkel in ihrer Zielrichtung eher die Jüngeren, die Frauen, die Familien in den Städten ansteuert, Stichwort die moderne Familienpolitik? Hat sich die Union dann von den Älteren dadurch wegbewegt?

    Lammert: Das glaube ich nicht, zumal alle Daten, die wir haben, gerade mit Blick auf die Parteivorsitzende und Kanzlerin ein ganz außergewöhnliches Maß an Zustimmung erkennen lassen, das sich bei den Älteren was diesen Punkt betrifft von dem bei Jüngeren oder der mittleren Generation nicht unterscheidet.

    Meurer: Ich sprach eben von zwei Gruppen, die sich benachteiligt fühlen oder tatsächlich benachteiligt sind. Die andere Gruppe ist die der Kinder. Der Kinderschutzbund hat Zahlen veröffentlicht und Forderungen, gegen die Kinderarmut mehr und energischer vorzugehen. Reicht es, den Kinderzuschlag für Geringverdiener anzuheben, um dafür Sorge zu tragen, dass möglichst viele Kinder in dieser Gesellschaft auch gute Chancen für ihre Zukunft haben?

    Lammert: Was reicht und was für möglich und für angemessen gehalten wird, ist ja Gegenstand des gegenwärtig stattfindenden Prozesses der Auseinandersetzung in und zwischen den Parteien. Auch hier ist ganz wichtig, dass es offenkundig bei allen Beteiligten die Einsicht gibt, dass an der Stelle zusätzliche Initiativen erforderlich sind und dass es sich hier tatsächlich um eine Gruppe in unserer Gesellschaft handelt, die auch infolge der Entwicklung der vergangenen Jahre in einer besonderen Weise negativ betroffen war und von der wir uns umgekehrt besonders viel für die Zukunft dieses Landes erhoffen, ganz abgesehen davon, dass inzwischen ja auch eine allgemeine Einsicht eingetreten ist, dass die demographische Entwicklung, sprich die geringe Zahl von Kindern, die in Deutschland Jahr für Jahr geboren werden, nicht zu den Erleichterungen unserer künftigen gesellschaftlichen Entwicklung gehört, sondern zu den großen Hypotheken. Nimmt man das eine und das andere im Zusammenhang in Blick, ergibt sich daraus hinreichend die Notwendigkeit verstärkter Anstrengungen gerade in dem Bereich.

    Meurer: Hat insofern die Familienministerin Ihre volle Unterstützung, die auf Kita-Betreuung setzt, um demographisch zu mehr Geburten in Deutschland wieder beizutragen?

    Lammert: Ich würde den Kausalzusammenhang jetzt nicht so eng nehmen, wie Sie ihn gerade formuliert haben, aber es gibt die gesicherte Erkenntnis, dass junge Frauen heute mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie junge Männer ihre Ausbildung anschließend auch in einem Beruf umsetzen wollen. Das heißt die Frage ist längst nicht mehr, ob junge Frauen nach Abschluss ihrer Ausbildung auch den Beruf wahrnehmen, sondern die offene Frage ist, ob sie neben dem Beruf auch Kinder bekommen und großziehen. Deswegen sind Anstrengungen viel mehr als in der Vergangenheit unverzichtbar, die Verbindung von Familie und Beruf zu ermöglichen, und dazu tragen die Initiativen der Familienministerin in einer bemerkenswerten Weise bei.

    Meurer: Zwei Jahre Koalitionstätigkeit. Das bedeutet umgekehrt auch, die Opposition blickt auf zwei Jahre zurück und sie sagt, wir werden, Herr Bundestagspräsident Lammert, in unseren Rechten eingeschränkt. Alles wird doch von der Großen Koalition ich sage einmal erstickt. Was ist Ihre Einschätzung? Sind die Klagen doch berechtigt?

    Lammert: Nein. Mir erscheinen sie jedenfalls stark übertrieben. Wir haben Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, die den Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler bei der letzten Wahl entsprechen. Dass die Große Koalition auch nicht das über viele Jahre mit großem Nachdruck angestrebte Ergebnis eines besonders ausgeprägten Interesses der beiden Parteien war, ist hinreichend häufig vorgetragen worden. Sie fühlen sich also mit anderen Worten auch eher in diese Koalition genötigt, als dass sie sie angestrebt hätten.

    Aufgrund dieser Großen Koalition ergeben sich andere Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, als das bei kleinen Koalitionen der Fall wäre. Dass deswegen aber prinzipiell die Opposition keine fairen Darstellungs- oder Entwicklungsmöglichkeiten hätte, das glaube ich kann man bei nüchterner Beurteilung der Verhältnisse nicht sagen.

    Meurer: Wir haben aber mathematisch die Situation, dass eine Sondersitzung des Bundestages zurzeit nur einberufen werden kann, wenn Teile der Großen Koalition zustimmen, weil ein Drittel des Bundestages eine solche Sondersitzung einberufen muss. Soll das so bleiben, Herr Lammert?

    Lammert: Es gibt eine Reihe von Anträgen, die von Seiten der Oppositionsfraktionen in den Deutschen Bundestag eingebracht worden sind, um die Verfassung und oder die Geschäftsordnung zu ändern mit dem Ziel der Stärkung von Minderheitenrechten. Ich habe der einen wie der anderen Seite empfohlen, in einem ganz nüchternen und ruhigen Abwägungsprozess sowohl der Versuchung zu widerstehen, wegen der jetzigen Rollenverteilung unser gesamtes Regelsystem umwerfen zu wollen, als auch umgekehrt der Versuchung, aus der Perspektive einer gesicherten Mehrheit heraus sozusagen Veränderungswünsche der Minderheit von Vornherein für unbegründet zu erklären. Und zu den wenigen Punkten, von denen ich tatsächlich glaube, dass hier eine Justierung unserer Regeln angebracht wäre, gehört der, den Sie gerade genannt haben. Es hat zwar bisher noch keinen Fall gegeben, wo eine von der Opposition gewünschte Bundestagssitzung nicht stattgefunden hätte. Das muss man auch mal der guten Ordnung halber sagen. Aber ich finde auch unbefriedigend, dass aufgrund der Rechtslage die Opposition jedenfalls keine Sitzung erzwingen könnte, wenn die Mehrheit des Bundestages damit nicht einverstanden ist. Nach meinem Parlamentsverständnis muss dies ein Minderheitenrecht der Opposition sein.

    Dem kann man in unterschiedlicher Weise Rechnung tragen. Ich habe auch selber dazu Überlegungen und halte nicht für aussichtslos, dass es gelingen könnte, die zwischen Koalition auf der einen Seite und Opposition auf der anderen Seite konsensfähig zu machen.

    Meurer: An welches Modell denken Sie da beispielsweise? Statt ein Drittel des Bundestages, was könnte die Lösung sein?

    Lammert: Das möchte ich nun gerade nicht hier zum Gegenstand einer öffentlichen Anregung machen, weil ich weiß, dass daraus sofort eine Forderung des Bundestagspräsidenten mit Richtung auf die Koalitionsfraktionen wird. Und da ich an einem Ergebnis interessiert bin, ziehe ich es vor, das mit den beiden Gruppen gemeinsam zu erörtern, um auf diese Weise die Aussicht auf einen Konsens zu erhöhen.

    Meurer: Schönen Dank. - Bundestagspräsident Norbert Lammert bei uns heute Morgen zu Gast im Studio im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich und auf Wiedersehen!

    Lammert: Auf Wiedersehen.