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Bundestagswahlkampf
"Eine Große Koalition ist auch Mist für unsere Demokratie"

Der Ausgang der britischen Parlamentswahl zeige, dass Wahlen "erst auf den letzten Metern" entschieden werden, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Thomas Oppermann, im Dlf. Die derzeitigen Umfragewerte für die SPD seien "eine gute Basis für eine Aufholjagd". "Soziale Sprengkraft" sieht Oppermann in der Haltung der CDU beim Thema Lebensarbeitszeit.

Thomas Oppermann im Gespräch mit Frank Capellan | 11.06.2017
    SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann spricht im Bundestag vor der Fraktionssitzung der SPD.
    SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann spricht im Bundestag vor der Fraktionssitzung der SPD. (dpa / picture-alliance / Maurizio Gambarini)
    Frank Capellan: Thomas Oppermann, es steht derzeit nicht gut um eine Kanzlerschaft von Martin Schulz. Die Umfragewerte bewegen sich wieder steil nach unten. Manche nähern sich schon wieder der 20-Prozent-Marke. Kann die SPD aus dem überraschenden Wahlergebnis in Großbritannien neue Hoffnung schöpfen?
    Thomas Oppermann: Die Wahl in Großbritannien war natürlich eine riesige Überraschung. Theresa May lag vor wenigen Wochen scheinbar uneinholbar mit absoluter Mehrheit vorne. Und dann hat sie innerhalb weniger Wochen diesen Vorsprung verloren. Sie hat ihr Land in eine schwierige Situation gebracht. Da kommt ganz viel zusammen. Nichts, woraus man Hoffnung schöpfen kann, aber eines zeigt doch die Wahl in Großbritannien in aller Deutlichkeit: Kein Amtsinhaber ist bei der politischen Volatilität, die es heute überall auf der Welt gibt, sicher vor einer Abwahl. Und Wahlen werden offenkundig in diesen Tagen erst auf den letzten Metern entschieden, das heißt, erst in den letzten ein, zwei oder drei Wochen. Auf die kommt es an. Darauf, glaube ich, kann man auch bauen bei der Bundestagswahl.
    "Eine gute Basis für eine Aufholjagd"
    Capellan: Also, Hoffnung schöpfen meinte ich ja auch in dem Sinne, dass die Labour Party in der Art aufholen könnte. Das halten Sie auch für möglich für die deutsche Sozialdemokratie?
    Oppermann: Wir standen vor wenigen Wochen noch bei über 30 Prozent. Und vor wenigen Monaten standen wir bei 21 Prozent. Jetzt stehen wir bei 24, 25, 26 Prozent. Ich denke, wir werden uns dort konsolidieren, aber das ist eine gute Basis für eine Aufholjagd, die wir mit unserem Parteitag beginnen werden über den Sommer hinweg und dann in die heiße Phase des Wahlkampfes. Die Bundestagswahl ist noch lange nicht entschieden. Die Union will mit dem Schlafwagen an die Macht. Wir werden kämpfen. Das ist sicher.
    Rücktritt von May wäre besser
    Capellan: Lassen Sie uns noch einen Moment in Großbritannien bleiben. Glauben Sie, dass die Verhandlungen über den Brexit nun durch diese Situation deutlich schwieriger werden?
    Oppermann: Theresa May wollte ja einen kraftmeierischen, harten Brexit. Sie will dann gar keine Verhandlungen, wenn sie nicht zu 100 Prozent ihre Forderungen umgesetzt bekommt. Das ist schon ein eigenartiges Verhalten gewesen, was sie da an den Tag gelegt hat. Jetzt haben sie die Wähler mit der Wirklichkeit konfrontiert. Die Wähler wollen keinen harten Brexit. Die drei Millionen Menschen, zum Beispiel die als EU-Bürger in Großbritannien leben, die jetzt im Augenblick um ihren sicheren Aufenthaltsstatus fürchten, denen muss man jetzt ein schnelles Signal geben, dass sie in Großbritannien genauso bleiben können, wie die britischen Bürger in der Europäischen Union, die hier bei uns leben und arbeiten. Ich finde, wir sollten jetzt versuchen, mit Großbritannien vernünftig zu verhandeln. Aber, ob Theresa May das Mandat überhaupt noch hat nach diesem Wahlergebnis, ist doch mehr als zweifelhaft. Ich fände es besser, sie würde zurücktreten und eine neue Regierungsbildung fände in Großbritannien statt.
    Capellan: Auch, wenn Sie jetzt Hoffnung schöpfen aus diesem Wahlergebnis in Großbritannien, wenn wir nach Deutschland schauen, dann will doch eine deutliche Mehrheit der Wähler, dass die Große Koalition ihre Arbeit fortsetzt. Können Sie uns erklären, warum die Deutschen dieses Bündnis, an dem Sie ja als Fraktionsvorsitzender maßgeblich beteiligt sind, es mitgestalten, warum die Deutschen dieses Bündnis so sehr lieben?
    Oppermann: Nun war die Große Koalition in den letzten Jahren ja außerordentlich erfolgreich, wegen der vielen Initiativen und Impulse, die die Sozialdemokraten in dieser Regierung gesetzt haben. Wir haben deutliche soziale Verbesserungen erreicht. Der gesetzliche Mindestlohn ist jetzt Wirklichkeit in Deutschland. Wir haben die Leiharbeit begrenzt, den Missbrauch von Werkverträgen.
    "Wir haben für viele Menschen das Leben in diesem Land spürbar verbessert"
    Capellan: Aber das verbuchen die Wähler offenbar bei der Union.
    Oppermann: Das glaube ich nicht. Wer sich für Politik interessiert, weiß, dass das alles Herzensangelegenheiten der Sozialdemokraten gewesen sind. Und ich finde, damit haben wir für viele Menschen das Leben in diesem Land spürbar verbessert. Und auch, wenn wir jetzt sozusagen gegen Frau Merkel antreten und um die Kanzlerschaft kämpfen, wir können stolz sein auf unsere Leistungen in dieser Regierung.
    "Wechselstimmung im Augenblick nicht mehr da"
    Capellan: Trotzdem kommt keine Wechselstimmung auf. Woran könnte das liegen?
    Oppermann: Nun, das kann sich schnell ändern, wie wir gesehen haben. Wir hatten Januar, Februar so eine Art Wechselstimmung in Deutschland. Im Augenblick ist die nicht mehr da. Das hat natürlich auch zu tun mit den vielen internationalen Konflikten, die die Menschen verunsichern. In einer solchen Zeit wünschen sie sich Stabilität und Sicherheit. Darauf müssen auch wir Sozialdemokraten uns einstellen. Wenn Menschen große Unsicherheit spüren, ob unsere Demokratie noch stabil ist, ob ihre soziale Situation noch sicher ist, dann muss ihnen der Staat mehr Sicherheit bieten. Auch die, die einen Arbeitsplatz haben und denen es gut geht, die wissen doch, wenn sich aufgrund der Digitalisierung die Technologien ändern und sie ohne eigenes Verschulden deshalb ihren Arbeitsplatz verlieren, oder wenn sie aufgrund weltwirtschaftlicher Entwicklungen, für die sie auch nichts können, ihren Arbeitsplatz verlieren, dann muss der Staat sicherstellen, dass sie nicht nach zwölf Monaten in Hartz IV reinrutschen, sondern dann muss er sicherstellen, dass alles dafür getan wird, dass diese Menschen weitergebildet werden, qualifiziert werden, um erwerbstätig bleiben zu können.
    "Schwarz-Gelb hat Klientelpolitik betrieben"
    Capellan: Aber offenbar sind ja die Sorgen der Menschen gar nicht so groß. Wenn wir uns die Umfragen anschauen, dann ist derzeit möglicherweise sogar eine schwarz-gelbe Mehrheit wieder denkbar. Und das würde bedeuten, die SPD muss sich langsam wieder an die Oppositionsrolle gewöhnen.
    Oppermann: Also, dass jetzt vorübergehend auch Schwarz-Gelb mal wieder bei den Umfragen eine Mehrheit hatte, das halte ich für eine Momentaufnahme. Denn, wenn die Menschen nachdenken und sich an die letzte schwarz-gelbe Regierung hier in Deutschland erinnern, dann haben sie nur schlechte Erinnerungen. Das war eine Regierung, die hat Klientelpolitik betrieben, die hat Gesetze erlassen, wie das Betreuungsgeld oder die Brennelemente-Steuer, die beide vom Bundesverfassungsgericht wieder einkassiert wurden. Die haben Klientelpolitik betrieben, wie etwa die Mövenpick-Steuer. Deshalb, bin ich ganz sicher, wird es am Ende auch keine schwarz-gelbe Bundesregierung geben.
    "Demokratie lebt vom Wechsel"
    Capellan: Und die SPD wäre auch bereit, wieder in eine Große Koalition als Juniorpartner zu gehen? Würde da nach wie vor, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse so darstellen, das Müntefering-Wort gelten "Opposition ist Mist"?
    Oppermann: Ja, aber eine Große Koalition, die eine Dauereinrichtung wird, ist auch Mist für unsere Demokratie. Die Demokratie lebt vom Wechsel und von der Veränderung. Und, wenn immer die beiden stärksten, größten Parteien die Regierung bilden, dann führt das dazu, dass die Ränder stärker werden. Dann nützt das auch der Radikalisierung von Teilen unserer Gesellschaft. Deshalb wäre es gut, wenn wir jetzt mal einen Wechsel in der Kanzlerschaft hätten.
    "Koalitionen stehen nicht zur Wahl"
    Capellan: Ausschließen würden Sie eine Große Koalition nicht? Die Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen haben sich ja einer Großen Koalition beispielsweise verweigert. Ist so was im Bund auch denkbar?
    Oppermann: Wir führen im Bund keine Koalitionsdebatte. Wir legen uns nicht auf irgendeine Koalition fest und wir schließen auch keine Koalition aus. Der einzige Partner, mit dem wir definitiv nicht werden zusammenarbeiten können, das ist die AfD. Und ansonsten müssen die Wählerinnen und Wähler entscheiden, welche Partei stark sein soll. Wer viel soziale Gerechtigkeit, bessere Bildungschancen in diesem Land und auch mehr Investition in unsere Zukunft haben will, der muss SPD wählen. Koalitionen stehen nicht zur Wahl.
    SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann und die Fraktionschefin der Linkspartei, Sahra Wagenknecht
    "Die Linken sind immer noch eine Protestpartei", sagt Thomas Oppermann (rechts im Bild: Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht) (dpa/picture alliance)
    Capellan: Warum nicht? Warum bekennt sich die SPD nicht zu einem Linksbündnis, Rot-Rot-Grün, das im Grunde als einzige Machtoption für Martin Schulz gesehen wird?
    Oppermann: Die Linken wollen nach meiner Wahrnehmung überhaupt nicht in eine Regierung. Dann würden sie sich anders verhalten.
    Capellan: Wobei der Parteitag sich gerade in Hannover anders darstellt. Da sind doch recht europafreundliche Anträge auf der Tagesordnung. Man bekennt sich zur NATO. Also, all die außenpolitischen Differenzen, die es zwischen SPD und Linkspartei gegeben hat, die werden da doch abgemildert.
    Oppermann: Das sehe ich noch nicht. Sahra Wagenknecht lässt keine Gelegenheit aus, die gravierenden Unterschiede zur SPD zu betonen. Sie macht eigentlich Wahlkampf in erster Linie gegen die SPD und nicht für irgendeine Regierung, der sie selber angehören will. Die Linken sind immer noch eine Protestpartei, eine linkspopulistische Protestpartei. Sie wissen, dass sie hinterher nicht in die Verlegenheit kommen, ihre Versprechungen umsetzen zu müssen.
    "Keine Partei macht Koalitionsaussagen"
    Capellan: Aber, wenn sie nun sagen, wir wollen beispielsweise ein sozialeres Europa, wir wollen Europa reformieren, dann ist das doch im Grunde auch SPD-Linie.
    Oppermann: Ja, aber viele in der Linken sind nicht darauf aus, Europa zu stärken. Sahra Wagenknecht zum Beispiel schont in ganz auffälliger Weise Donald Trump, weil sie in Wirklichkeit auch eine nationalistische Wirtschaftspolitik betreiben will. Sie kritisiert auch den Freihandel, auf dem unser Wohlstand aufgebaut ist. Das sind alles Punkte, wo ich nicht sehen kann, dass wir am Ende vernünftige Kompromisse erzielen können. Keine Partei im Deutschen Bundestag, die Grünen nicht, die FDP nicht, auch die Union nicht, macht Koalitionsaussagen. Wir werden das auch nicht tun. Wir kämpfen für eine starke SPD.
    "Rente ist das Kernversprechen unseres Sozialstaates"
    Capellan: Nun wird allerdings auch das Thema soziale Gerechtigkeit, was ja Martin Schulz in seinem Wahlkampf sehr weit nach oben zieht, auch von den Linken bespielt. Beispielsweise mit Blick auf das Rentenniveau. Ein höheres Rentenniveau will auch die Linkspartei. Die SPD hat sich jetzt nun darauf verständigt, 48 Prozent und die Beiträge nicht über 22 Prozent steigend. Das alles bis zum Jahr 2030. Da ist nicht mehr so lange hin. Warum kann man nicht darüber hinaus schon planen?
    Oppermann: Ja, wir sind die einzige Partei, die ein realistisches, durchgerechnetes Rentenkonzept vorgelegt hat, ein Rentenkonzept, mit dem wir eine Balance halten zwischen den berechtigten Wünschen der älteren Generation und der jüngeren. Wir haben eine doppelte Haltelinie. Die Rente darf nicht unter 48 Prozent sinken. Sie soll auch in Zukunft den Lebensstandard sichern. Und die Beiträge für die Jüngeren, die das alles bezahlen müssen, sollen nicht über 22 Prozent steigen. Ich glaube, das ist ein fairer Kompromiss. Der ist im Übrigen nur deshalb machbar, weil wir ganz klar sagen, in den schwierigen zehn bis 15 Jahren, wo die "Babyboomer" dann in Rente sind und die Zahl der Beitragszahler sich reduziert, müssen wir mit einem Demografie-Zuschuss, der steuerfinanziert ist, das Niveau der Rente halten. Das wird ein Kraftakt. Das ist ein zweistelliger Milliardenbetrag. Das ist wichtig, weil die Rente ist das Kernversprechen unseres Sozialstaates, dass man eben im Alter seinen Lebensstandard etwa halten kann.
    "Das hat soziale Sprengkraft für Deutschland"
    Capellan: Sie versprechen auch, die SPD, dass man beim Renteneintrittsalter 67 Jahre bleiben kann. Wolfgang Schäuble, der Finanzminister von der Union, will etwa das Renteneintrittsalter an die durchschnittliche Lebenserwartung koppeln. Glauben Sie wirklich, dass man dieses Versprechen "Rente ab 67 und nicht länger arbeiten" wirklich wird halten können auf Dauer?
    Oppermann: Was Wolfgang Schäuble da ankündigt, nämlich die Lebensarbeitszeit Schritt für Schritt weiter zu verlängern von 67 in Richtung 70, und wenn es sein muss, auch darüber hinaus, das hat soziale Sprengkraft für Deutschland. Ich glaube, dass die Arbeitnehmer, die körperlich arbeiten müssen oder die, ich sage mal, in sehr verdichteten Arbeitsverhältnissen tätig sind, die wissen ziemlich genau, dass man bis 67 arbeiten kann. Wir sagen ja auch, nach 45 Beschäftigungsjahren darf man schon mit 63 bzw. später mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Aber wir sagen ganz klar, eine weitere Verlängerung der Lebensarbeitszeit darf es nicht geben. Wenn Leute freiwillig länger arbeiten wollen, ist das in Ordnung. Die Union hat kein Konzept, das darüber hinausgeht. Ihr einziges Konzept zur Stabilisierung der Rente ist: länger arbeiten. Und wir sagen, wir wollen Gerechtigkeit zwischen den Generationen und das kann man auch machen.
    Ein Porträt des SPD-Fraktionschefs Thomas Oppermann. 
    "Die Union hat kein Konzept" für die Finanzierung der Rente, sagt Oppermann (imago / Gerhard Leber)
    Capellan: Ihr Konzept ist dann aber auf Dauer: mehr Steuerzuschüsse.
    Oppermann: Ja, der Steuerzuschuss muss dann steigen. Anders geht es nicht. Man kann nicht die Jüngeren schonen und den Älteren alles geben, was sie brauchen, ohne zu erklären, woher das Geld kommen soll.
    Capellan: Die Jüngeren zahlen ja auch die Steuern, also …
    Oppermann: Die Jüngeren zahlen die Steuern, aber auch die wohlhabenden Älteren zahlen Steuern. Also, Steuern werden gezahlt nach Maßgabe der individuellen Leistungskraft einer Person. Die Rentenbeiträge hingegen in Höhe von 18,7 Prozent, die muss jeder Arbeitnehmer vom ersten Cent seines Einkommens tragen. Und, wenn man das alles über die Beiträge abwickeln will, so, wie die Union ja ihre Rentenverbesserungen immer über die Beitragszahler finanzieren will und nicht über die Steuerzahler, heißt das, am Ende müssen die Arbeitnehmer das selber finanzieren. Wir finden einen höheren Steuerzuschuss bei der Rente viel gerechter.
    "Wir brauchen deutlich gerechtere Steuern in Deutschland"
    Capellan: Wer soll die größeren Lasten tragen nach Ansicht der Sozialdemokraten? Wo fängt für die SPD die hart arbeitende Mitte an – mit Blick auf die Steuerpläne? Es gibt einen Steuervorschlag vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil. Der sagt, ab einem Jahresbruttoeinkommen von 58.000 Euro müsste ein Steuersatz von 45 Prozent, also ein deutlich höherer Steuersatz als der, den wir jetzt haben, gezahlt werden. Ist das sozial gerecht, wenn man so früh schon mit der hohen Besteuerung ansetzt?
    Oppermann: Ich glaube, wir brauchen deutlich gerechtere Steuern in Deutschland. Wir wollen junge Familien entlasten, die Verantwortung für Kinder übernehmen – unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Darauf kann es eigentlich nicht ankommen. Wir wollen die Arbeitnehmer entlasten, indem wir zu einer paritätischen Finanzierung der Krankenkassenbeiträge zurückkehren. Und wir wollen eine steuerliche Entlastung der Normalverdiener, aber auch eben nur der Normalverdiener. Und Normalverdiener, das sind für mich – ich sage mal – Leute, die zwischen 2.000 und 4.000 Euro etwa verdienen, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. Das sind die allermeisten Arbeitnehmer in Deutschland. Und die müssen hart arbeiten. Wenn sie eine Familie haben, müssen sie hart arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die können sich keineswegs alles leisten, aber die sind stolz auf ihre Arbeit und ihr Einkommen. Und die sollen nach unserer klaren Vorstellung mehr Netto vom Brutto haben. Die wollen wir deutlich entlasten. Wir finden es auch nicht richtig, dass man schon mit 54.000 Euro den Spitzensteuersatz erreicht. Den wollen wir deutlich höher schieben. Aber wir sagen auch, die Spitzensteuer für sehr hohe Einkommen, die werden wir anheben.
    Capellan: Aber 58.000 Euro, das ist die Größenordnung, die im Raum steht. Denn das durchgerechnete Steuerkonzept steht ja noch aus, was die SPD bis zum Wahlprogramm-Parteitag Ende des Monats vorstellen will. 58.000 Euro, Spitzensteuersatz 45 Prozent halten Sie für okay?
    Oppermann: Es wird bei 58.000 Euro keinen Spitzensteuersatz von 45 Prozent geben. Warten Sie ab, bis wir unser Konzept vorgelegt haben. Da werden die Normalverdiener deutlich bessergestellt. Die absoluten Spitzenverdiener, so ab 120.000/150.000 Euro, die müssen sich auf einen etwas höheren Spitzensteuersatz einstellen.
    "Erbschaftssteuer ordnungspolitisch sehr vernünftig"
    Capellan: Wird es eine Vermögenssteuer geben?
    Oppermann: Ich halte wenig von der Vermögenssteuer. Die Linken wollen jetzt eine Vermögenssteuer von fünf Prozent pro Jahr. Das wird für viele Unternehmen zu ganz großen Schwierigkeiten führen. Denn die Vermögenssteuer ist eine Substanzsteuer. Also, man steuert den Unternehmen das Eigenkapital weg. Sie haben dann Schwierigkeiten, ihre Investitionen zu finanzieren. Ich halte das nicht für den richtigen Weg. Ich persönlich fände es besser, wenn wir bei den ganz großen Vermögen – übrigens immer bei sehr großzügigen Freibeträgen –, wenn wir bei den ganz großen Vermögen die vielen Ausnahmen in der Erbschaftssteuer beseitigen und mit vernünftigen Steuersätzen da einen Beitrag für die Finanzierung unseres Gemeinwesens holen. Ich finde sowieso, dass die Erbschaftssteuer ordnungspolitisch sehr vernünftig ist. Jede Generation muss einen Teil des Wohlstandes, den sie genießen möchte, selbst erarbeiten. Ich sage mal, unsere wirtschaftliche Stärke würden wir schnell verlieren, wenn der Wohlstand nur noch von einer Erbengeneration auf die nächste weitergegeben wird. Nein, jede Generation muss selber etwas schaffen, etwas Neues machen, Innovationen und Wachstum auf den Weg bringen.
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann. Herr Oppermann, Sie haben kurz die Brennelemente-Steuer angesprochen, die vom Bundesverfassungsgericht in der vergangenen Woche gekippt worden ist. Da kommen Belastungen auf den Bund von mindestens sechs Milliarden Euro zu. Rächt sich nun der Atommüll-Deal, den auch der damalige Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel, der frühere SPD Vorsitzende, ja mit ausgehandelt hat? Also, die AKW-Betreiber konnten sich freikaufen mit 24 Milliarden Euro von der Atommüllendlagerung und bekommen nun noch sechs Milliarden Euro zurück.
    Oppermann: Also, wir haben damit ja die Mittel der Energieunternehmen, die Rückstellungen sozusagen für die Sanierung der Atomkraftwerke gesichert. Wenn diese Unternehmen wirtschaftlich in Schwierigkeiten gekommen wären, dann hätten wir gar keinen … hätte der Steuerzahler alles alleine finanzieren müssen. Diese Entscheidung ist unabhängig vom Ausgang des Verfassungsgerichtsverfahrens über die Brennelemente-Steuer richtig. Und wir haben sie auch in Kenntnis eines möglichen negativen Ausganges bewusst so getroffen.
    "Handwerklich schluderig gemacht von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble"
    Capellan: Aber Sie haben da nicht mit gerechnet.
    Oppermann: Für mich war das offen. Ich fand das alles ein bisschen handwerklich schluderig gemacht von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Als sie damals erst die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert haben, sollte dies ja sozusagen die Gegenleistung der Atomkraftwerkebetreiber sein, dass sie dafür dann einen Obolus an den Staat zahlen, dass sie ihre Kraftwerke länger laufen lassen können. Dann aber wenige Monate später kam Fukushima und dann wurden die Laufzeiten noch über das hinaus verkürzt, was vorher gegolten hatte. Und damit hat man natürlich diese Unternehmen in riesige Schwierigkeiten gebracht. Dieses Hin und Her ist keine gute Politik gewesen. Ich muss aber noch mal zu Protokoll geben, das war die schwarz-gelbe Bundesregierung, die den Mist gebaut hat.
    Capellan: Brauchen wir eine Neuauflage der Brennelemente-Steuer?
    Oppermann: Wir werden das auf unserer Sitzung in der nächsten Woche erst mal in Ruhe beraten. Wir müssen das Urteil genau auswerten und werden dann einen Vorschlag machen.
    "Neue Spirale der Aufrüstung"
    Capellan: Wenn wir über Geld reden, sollten wir auch über die anstehenden Verteidigungsausgaben sprechen. Das Zwei-Prozent-Ziel wird derzeit auf Druck des amerikanischen Präsidenten Donald Trump viel diskutiert. Zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen für Verteidigung ausgegeben werden. Frank-Walter Steinmeier hat das als Außenminister als Zielgröße mitgetragen. Kann man das nun, so, wie es Martin Schulz tut, einfach ignorieren?
    Oppermann: Man muss es tun. Wenn wir wollen, dass Deutschland sicher bleibt, dass wir weiter gut mit unseren Nachbarn auskommen, dann müssen wir klar sagen, das Zwei-Prozent-Ziel darf nicht umgesetzt werden. Es würde Deutschland zur mit Abstand größten Militärmacht in Europa machen. Es würde zu einer Verdoppelung unserer Rüstungs- und Militärausgaben führen. Und es würde eine neue Spirale der Aufrüstung in Gang setzen.
    "Da geht es um die Durchsetzung US-amerikanischer Weltmachtinteressen"
    Capellan: Können wir uns denn wirklich den Amerikanern widersetzen, die ja zweifelsohne die Hauptlast im Verteidigungsbündnis in der NATO tragen?
    Oppermann: Die Amerikaner geben 3,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Rüstung aus. Aber das ist doch nicht die Hauptlast der NATO. Das ist die Finanzierung einer Weltmacht. Überall sind amerikanische Truppen stationiert. Überall sind amerikanische Kriegsschiffe unterwegs. Da geht es nicht um die Selbstverteidigung unserer Souveränität, unserer westlichen Werte, sondern da geht es um die Durchsetzung US-amerikanischer Weltmachtinteressen. Dafür ist ein Großteil der US-Militärmaschine da. Und das wollen wir doch mal alles richtig rücken. Was wir wollen, ist, dass Europa in der Lage ist, seine eigenen Sicherheitsinteressen auch wahrzunehmen, dass wir uns selbst verteidigen können. Und wir müssen auch unsere internationalen Aufgaben wahrnehmen. Dazu müssen wir die Bundeswehr stärker ausstatten. Wir haben in diesem Haushalt den Verteidigungsetat von 37 Milliarden Euro um 2,7 Milliarden Euro aufgestockt. Das zeigt doch, dass wir wollen, dass die Bundeswehr ihre Fähigkeiten, die sie braucht, auch deutlich verbessern kann. Aber eine Verdoppelung des Verteidigungsetats, das wäre ein Rüstungswettrennen. An dem werden wir nicht teilnehmen. Mit jedem Euro, den wir zusätzlich in den Verteidigungsetat für die Bundeswehr stecken, ein zusätzlicher Euro für humanitäre Hilfe, für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das schafft langfristig mehr Sicherheit.
    "Donald Trump nicht Teil des westlichen Wertesystems"
    Capellan: Wir haben mit der Außenpolitik begonnen und wollen damit auch schließen. Angela Merkel sagt, die Vereinigten Staaten sind kein verlässlicher Partner mehr. Was kann Europa Donald Trump entgegensetzen?
    Oppermann: Europa steht zu den eigenen westlichen Werten. Und die werden wir verteidigen, gegen alle, die diese Werte infrage stellen, aber auch gegen Donald Trump. Ich sehe Donald Trump nicht als einen Teil des westlichen Wertesystems. Er greift dieses Wertesystem an – von innen, aus den USA heraus. Er hat dort viel Opposition. Er hat Opposition im Kongress. Er hat Opposition in der Justiz und auch in der amerikanischen Bevölkerung. Donald Trump ist der legitime Präsident der Vereinigten Staaten, aber er ist nicht der legitime Verteidiger der westlichen Werte, denn die vertritt er selber nicht.
    "Zum Spielball anderer Supermächte werden will keiner"
    Capellan: Ihre Hoffnung besteht also darin, Europa könnte näher zusammenrücken wegen dieses amerikanischen Präsidenten?
    Oppermann: Donald Trump ist insofern in der Tat auch eine große Chance für Europa. Wenn wir jetzt nicht zusammenrücken … und ich habe den Eindruck, dass die Polen langsam zweifeln, ob es nicht besser wäre, zu den europäischen Werten zurückzukehren, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
    Capellan: Die Ungarn tun das noch nicht, Zweifeln.
    Oppermann: Die Ungarn tun das erkennbar noch nicht, aber viele in Europa tun das inzwischen und wir haben mit Emmanuel Macron jetzt einen Partner, mit dem wir das wirklich gemeinsam angehen können. Europa muss sich jetzt einigen, muss stärker werden, muss wirtschaftlich zusammenwachsen, muss zu einer gemeinsamen militärischen Verteidigung kommen. Gemeinsame Beschaffung, gemeinsame Strategie. Das ist jetzt unsere Chance. Das müssen wir machen. Wenn wir das nicht machen, werden wir zum Spielball anderer Supermächte in dieser Welt. Und das will keiner.
    Neues Mandat für Bundeswehr-Stationierung in Jordanien
    Capellan: Europa muss auch zusammenstehen gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdoğan. Da steht in Deutschland jetzt unmittelbar eine wichtige Entscheidung an. Die Bundeswehr will sich vom Standort Incirlik zurückziehen. Bedarf es dafür eines neuen Mandates des Bundestages?
    Oppermann: In dem Mandat für Incirlik war ja keine feste Ortsbezeichnung enthalten, sodass es zweifelhaft ist, ob wir wirklich ein neues Mandat brauchen, wenn jetzt die Soldaten nach Jordanien umziehen. Unabhängig davon fände ich es wünschenswert, wenn der Bundestag in der nächsten Sitzungswoche klarstellen würde, Stationierungen von Soldaten im Ausland kann es nur geben, wenn jederzeit gewährleistet ist, dass die Abgeordneten sie besuchen können.
    Capellan: Sie wollen im Grunde ein neues Mandat? Sie plädieren dafür?
    Oppermann: Es ist rechtlich nicht zwingend erforderlich, aber aus politischen Gründen spricht viel für ein neues Mandat.
    Capellan: Thomas Oppermann, danke für das Gespräch.
    Oppermann: Ich danke auch.