Dienstag, 23. April 2024

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Bundesverband Musikunterricht
Nimczik: Musikunterricht braucht Kontinuität

Musik steht an vielen Schulen nicht mehr auf dem Stundenplan. Dabei seien die allgemeinbildenden Schule der einzige Ort, an dem alle Kinder mit Musikunterricht erreicht werden könnten, sagte Ortwin Nimczik, Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht, im Dlf. Es gehe um kontinuierliche musikalische Erfahrung.

Ortwin Nimczik im Gespräch mit Mario Dobovisek | 26.09.2018
    Alexander Saier (r) von der Kreismusikschule im Landkreis Märkisch-Oderland gibt am 16.01.2018 den Schülern (l-r) Luca Lämmerhardt (11), Lilly Lippert (11), Jakob Roggenbuck (12) und Nele Zabel (16) in einem Raum des Theodor-Fontane-Gymnasiums in Strausberg (Brandenburg) Dirigentenunterricht.
    "Musikunterricht ist ja nicht dafür da, dass wir für die Schule lernen", sagte Musikpädagoge Ortwin Nimczik im Dlf (picture-alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Mario Dobovisek: Singen, Spielen, Tanzen – Teil unserer Bildung in Kindergärten, Grund- und Oberschulen. Doch der flächendeckende Musikunterricht ist in Gefahr, sagen die Musikpädagoginnen und Pädagogen, die sich heute in Hannover zu ihrem Bundeskongress versammeln. Sie warnen vor einer Abwertung des Musikunterrichts als Schulfach. Fachlehrer fehlen, auch der Wille der Bundesregierung und der Landesregierungen, überhaupt noch flächendeckend Musikunterricht anzubieten. Damit wird es zum Beispiel vielerorts an Grundschulen zur Glückssache, ob den Kindern musikalische Erziehung zuteilwird, weil es nämlich davon abhängt, ob die Klassenlehrer zufällig ein Instrument spielen und mit den Kindern musizieren und über Musik sprechen. An vielen Schulen steht das Fach Musik nicht mehr auf dem Stundenplan.
    Am Telefon begrüße ich Ortwin Nimczik. Er lehrt Musikpädagogik an der Hochschule für Musik in Detmold und ist Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht. Guten Morgen, Herr Nimczik!
    Ortwin Nimczik: Einen wunderschönen guten Morgen.
    Dobovisek: Ich habe schon von Schul- und Kita-Leitern gehört, Musik sei Privatsache. Sprich: Wer Musikunterricht für seine Kinder haben will, der muss zahlen, für externe Musiklehrer und Chorleiter zum Beispiel. – Musik ist Privatsache. Wie klingt das für Sie?
    Nimczik: Das klingt eigentlich wie eine große Attacke auf das, was wir unter Allgemeinbildung verstehen. Denn zunächst einmal ist ja die allgemeinbildende Schule und auch die vor- und nachgelagerten Bereiche sind etwas, das für alle Menschen, für alle Kinder, Schüler zugänglich ist. Das ist etwas ganz Wichtiges. Wir als Bundesverband kaprizieren uns ja zunächst einmal auf den Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule, und hier ist tatsächlich festzuhalten, dass dies der einzige gesellschaftliche Ort ist, wo wir überhaupt alle Kinder erreichen. Deswegen ist das so wichtig, dass der Musikunterricht an diesem Ort auch erhalten bleibt.
    Dobovisek: Wo gibt es da die größten Schwierigkeiten?
    Nimczik: Die haben Sie schon angesprochen. Die tatsächlich größten Schwierigkeiten gibt es im Grundschulbereich. Da fehlen uns ganz viele Musiklehrer. Das hat zu tun natürlich mit dem Klassenlehrerprinzip, das wir alle im Grunde begrüßen. Das ist ganz wichtig und das ist ein grundlegendes pädagogisches Prinzip. Aber weil es so ist, bräuchten wir noch viel mehr Grundschullehrer, die auch in der Lage sind, das Fach Musik zu unterrichten, und zwar durchaus auch in einem integrativen Sinne.
    "Musikunterricht ist ja nicht dafür da, dass wir für die Schule lernen"
    Dobovisek: Es geht dabei auch um das Musikerlebnis. Wie viele Schüler haben schon mit Edward Grieg zum Beispiel die Halle des Bergkönigs durchquert, haben all das erlebt, was diese Musik in ihnen auslöst, und wie vielen Schülern wird künftig dieses Erlebnis fehlen. Welche Konsequenzen könnte das haben, auch für die Gesellschaft?
    Nimczik: Na ja. Das hat tatsächlich Folgen, die sich auch schon im Bereich der Schule selbst zeigen. Ich darf vielleicht ein kleines Scheinwerferlicht auf die Oberstufe richten. Da haben wir mittlerweile nur noch 30 Prozent, ein Drittel der Schüler, die das Abitur machen, die tatsächlich in der gymnasialen Oberstufe Musikunterricht haben. Wenn ich dann noch genauer hinschaue und mal auf die Leistungskurse blicke oder, wie es heute heißt, auf das Fach mit erhöhtem Anspruch, dann sind das nur noch 2,2 Prozent. Das ist der niedrigste Wert. Den hatten wir auch 2003 und 2004.
    Jetzt setzt so etwas wie ein Teufelskreis sich in Gang, nämlich die Schülerinnen und Schüler, die das Fach mit dem erhöhten Anspruch in der gymnasialen Oberstufe genießen dürfen, aus denen rekrutiert sich dann auch immer wieder das Lehrerpotenzial. Wenn dieser Kreislauf unterbrochen ist, dann ist es immer wieder schwierig.
    Und natürlich auch für die Gesellschaft – jetzt blicke ich nach vorne. Musikunterricht ist ja nicht dafür da, dass wir für die Schule lernen, etwas über Musik lernen, sondern genau wie Sie das angesprochen haben, etwas für unser Leben lernen, nämlich eine engagierte Teilhabe an musikalischer Kultur in ihrer ganzen Breite das ganze Leben, in allen Lebensspannen zu genießen. Das wäre die Perspektive und die ist an vielen Stellen unterbrochen und dadurch wird es immer schwerer.
    Dobovisek: Mathe, Deutsch, Englisch – alles wichtig für den Beruf, alles wichtig für die Karriere. Musik läuft, wenn überhaupt, so nebenbei. Ist das der falsche Ansatz?
    Nimczik: Na ja. Es geht uns jetzt überhaupt nicht darum, Fächer gegeneinander auszuspielen. Das ist ja ein großes Problem. Aber ich will es an einem Punkt festmachen. Die Kultusministerkonferenz, die ja Empfehlungen für alle Bundesländer aufstellt, die auch diese Problematiken bündelt, um dann Orientierung zu schaffen, ist dahin gekommen, dass sogenannte Stundentafeln, die das einzelne Fach darstellen, überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Berlin ist da eine Ausnahme, aber da haben wir ganz andere Probleme. Sondern es gibt nur noch Kontingentstundentafeln.
    "Es geht um musikalische Erfahrung in allen Lebensspannen - und das braucht Kontinuität"
    Dobovisek: Das bedeutet?
    Nimczik: Das bedeutet, ich kann das ganz kurz erklären: Wir reden über einen ästhetischen Bereich, der mit einer bestimmten Summe von Stunden versehen wird. Dazu mag dann beispielsweise das Fach bildende Kunst, Musik, Sport, manchmal auch Werken und was es so alles gibt gehören. Dann steht da eine Zahl, die sich auf eine bestimmte Folge von Schuljahren bezieht. Und dann – und das ist das Entscheidende – gibt es diese ganz, ganz kleine Anmerkung, diese Fußnote: Die Verteilung auf die Fächer obliegt der Schule. Jetzt ist es entscheidend: Gibt es den Musiklehrer, die Musiklehrerin, kann der Unterricht überhaupt erteilt werden im Bereich Musik oder nicht.
    Der Schulleiter macht eigentlich nichts Falsches. Der entspricht dieser Kontingentstundentafel, wenn er jetzt keinen Musiklehrer hat und dann vielleicht ein bisschen mehr Kunst unterrichtet oder mehr Sport unterrichten lässt. Aber das ist das Problem: Wir brauchen eigentlich eine verlässliche Ordnung, und das ist wichtig. Musik ist ein künstlerisches Fach. Es geht um musikalische Erfahrung in allen Lebensspannen, habe ich vorhin gesagt, und das braucht Kontinuität. Das lässt sich nicht punktuell oder in Projekten, die sicher ganz schön sind, das lässt sich nicht in Projekten vermitteln, sondern braucht Kontinuität.
    "Große Differenz zwischen Sonntagsrede und Montagshandeln"
    Dobovisek: Sehen Sie dafür ausreichend politischen Willen?
    Nimczik: Ich muss sagen, das betrachte ich wie so vieles ambivalent. Da gibt es diese große Differenz zwischen Sonntagsrede und Montagshandeln. Ich glaube, es wird keinen Politiker geben, der sagt, na ja, das ist nicht wichtig und das brauchen wir alles nicht, oder er würde – ich greife jetzt Ihre erste Formulierung auf – sagen, das privatisieren wir jetzt alles. Das nicht, sondern sie betonen das. Aber das, was dann tatsächlich passiert, das ist das Problem.
    Ich will das auch an einem Beispiel erläutern. Wir haben das Problem der Seiteneinsteiger. Das gilt ja auch für alle Schulen, für alle Fächer, für alle Bundesländer. Warum gibt es keine wirklichen Anreize aus den Ministerien – ich kapriziere mich jetzt auch wieder auf die Grundschule -, musikaffine Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer wirklich anzusprechen, in gewisser Weise zu belohnen, dass sie eine grundlegende Nachqualifizierung, eine Weiterqualifizierung absolvieren und dann auch Musik unterrichten können. Will sagen oder anders herum formuliert: Es braucht erstens den politischen Willen, das tatsächlich zu machen. Zweitens: Das kostet Geld. Und drittens: Das ist auch eine gewisse Durststrecke. Denn wenn ich jetzt mit einem bestimmten Kontingent von Stunden diese Menschen aus dem Unterricht rausnehme, kriege ich natürlich noch mal ein höheres Problem Richtung Unterricht. Dann fehlen sie wieder woanders. Aber wir müssen da was tun, und ich meine, es müssten Anreize gegeben werden.
    Dobovisek: Der Musikpädagoge Ortwin Nimczik. Er ist Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht, der heute in Hannover zu seinem Bundeskongress zusammenkommt. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Nimczik: Bitte!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.