Wagener: Herr van Essen, lassen Sie uns zunächst die Position des Verteidigungsministers Rudolf Scharping von gestern abend einmal gemeinsam anhören:
"Die Bundesrepublik ist willens und fähig, sich an der geplanten Operation der NATO zu beteiligen. Das hängt aber von den politischen Voraussetzungen ab. Der erklärte Wille der Bundesregierung und des Bundeskanzlers, einen Beitrag im Bündnis zu leisten zu dem, was wir Stabilisierung einer politischen Lösung nennen und anstreben, nämlich unter den Bedingungen von Waffenstillstand, Verfassungsdialog, Einverständnis aller Parteien und freiwilliger Abgabe der Waffen werden wir gemeinsam mit anderen NATO-Staaten einen Beitrag leisten. Und das ist die erklärte Politik der Bundesregierung; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel."
Wagener: So weit der Verteidigungsminister Rudolf Scharping gestern abend. Herr van Essen, an welcher Stelle würden Sie Scharping widersprechen?
Van Essen: Wir haben eine Fülle an Fragen, und wir werden von einer vernünftigen Beantwortung dieser Fragen unsere endgültige Haltung abhängig machen. Das fängt schon damit an, dass wir große Zweifel haben, ob dieser beabsichtigte Einsatz tatsächlich so durchgeführt werden kann, wie er von der NATO beabsichtigt ist. Die Erfahrungen im Kosovo haben ja gezeigt, dass man auch dort versucht hat, die albanischen Kräfte zu entwaffnen, dass man versucht hat, die UCK zu einem technischen Hilfswerk - im deutschen Sinne - umzugruppieren, und bei dem Besuch der Gruppe 'Sicherheitspolitik der FDP-Bundestagsfraktion' im letzten Herbst mussten wir feststellen, dass das nicht das Selbstverständnis der UCK-Kämpfer ist, dass sie sich weiter als Soldaten gerieren, dass sie keinerlei Absicht haben, eine Truppe wie ein Technisches Hilfswerk zu werden, sondern weiter kämpfen wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Mazedonien in irgendeinem Punkt anders ist.
Wagener: Sie meinen also, die Risiken sind unübersehbar und der Auftrag ist ganz und gar nicht so begrenzt, wie es von Rudolf Scharping dargestellt wird?
Van Essen: Das zeigt sich ja schon darin, dass man offensichtlich das Militär mit dieser Aufgabe, Waffen einzusammeln, beauftragen will. Wir haben ja Fälle, in denen es in ähnlicher Weise geschehen ist in der Vergangenheit, beispielsweise nach Bürgerkriegen in Afrika. Dort hat man es zurecht als polizeiliche Aufgabe gesehen und deshalb Polizeikräfte mit einer solchen Aktion beauftragt. Dass man hier Soldaten nimmt, zeigt, dass man eine Erweiterung des Auftrages durchaus für möglich hält.
Wagener: Wie sieht es denn aber mit dem Zustand der Truppe derzeit aus? Ist sie tatsächlich schon so schwachgespart worden, dass sie einen sehr begrenzten kleineren Auslandseinsatz nicht mehr leisten kann?
Van Essen: Die Ausführungen des Generalinspekteurs der Bundeswehr machen dies ja deutlich. Die Tatsache, dass die Ausführungen des Generalinspekteurs zunächst vom Verteidigungsministerium bestätigt worden sind und erst später dementiert worden sind, machen ja deutlich, dass er offensichtlich diese Ausführungen gemacht hat; und wer ein bisschen in die Truppe guckt - und ich tue das ja regelmäßig als Reservist; ich werde in 14 Tagen meinen Dienst auch wieder antreten in der Bundeswehr -, der weiß, dass die Aussagen des Generalinspekteurs, des höchsten Soldaten in der Bundeswehr, richtig sind.
Wagener: Hat er da eine unbequeme Wahrheit ausgesprochen?
Van Essen: Es ist eine unbequeme Wahrheit . . .
Wagener: . . . vielleicht auch eine unbedachte? . . .
Van Essen: . . . es ist eine unbequeme. Ob sie unbedacht ist, weiß ich nicht, denn ich glaube, es ist die Aufgabe des höchsten Soldaten, auf gefährliche Entwicklungen hinzuweisen, dass die militärische Beratung des Verteidigungsministers seine wichtigste Aufgabe ist. Und deshalb ist es dringend notwendig, dass Alarm geschlagen wird. Die Bundeswehr ist die Armee des Staates, der in der NATO am Ende der Ausgaben der für die Verteidigungspolitik steht. Und das ist nicht weiter hinnehmbar, zumal wenn man sehen muss, dass wichtige Aufgaben für uns weiter bevorstehen. Die Bundesrepublik Deutschland muss im internationalen Konzert selbstverständlich weiter auch eine militärische Rolle mitspielen.
Wagener: Konkret: Sind wir - oder ist die Bundeswehr noch außenpolitisch handlungsfähig?
Van Essen: Ich bin der Auffassung, dass wir durch den viel zu rigiden Sparkurs in der Verteidigungspolitik in unserer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind und dass das so nicht weitergehen darf.
Wagener: Was fehlt denn der Truppe konkret? Können Sie Beispiele nennen?
Van Essen: Wir haben ja in den letzten Jahren erlebt, dass eine Fülle von notwendigen Investitionsmaßnahmen immer wieder gestreckt worden sind, dass notwendige Investitionen nicht getätigt wurden. Und das führt dazu, dass beispielsweise Fahrzeuge ausgeschlachtet werden müssen, um zu notwendigen Ersatzteilen zu kommen. Das kann so nicht weitergehen.
Wagener: Am Donnerstag gibt es nun ein Treffen der Fraktionschefs im Kanzleramt mit Gerhard Schröder. Welcher Konsens ist vorstellbar? Könnte es eine kleine Nachzahlung geben für das Verteidigungsministerium, damit Union und FDP mitziehen bei diesem dritten Auslandseinsatz auf dem Balkan?
Van Essen: Also, die Vorstellungen der FDP gehen weiter. Wir sind uns unklar über den Auftrag, den die Truppe haben soll. Ich weise etwa darauf hin, dass beabsichtigt ist, keinen Kampfauftrag zu erteilen. Jeder, der einmal als Soldat Dienst getan hat, weiß, dass das eine Beschränkung für die Soldaten ist, die man eigentlich nicht hinnehmen kann. Ich nenne mal beispielsweise einen Fall: Wenn man sieht, dass jemand die Waffen nicht vollständig abgibt, dann muss man sich doch auch gewaltsam durchsetzten können, um den Auftrag auch durchführen zu können. Und es ist unsicher, ob es tatsächlich eine Begrenzung des Mandates gibt. Wir stellen mit großer Sorge fest, dass statt vernünftiger politischer Lösungen immer der leichtere Weg, nämlich die Stationierung von Soldaten, gewählt wird. Deshalb sind wir ja sehr unsicher, dass es bei diesem begrenzten Mandat bleiben wird. Wir wollen auch da Klarheit. Es gibt auch eine Unzufriedenheit deshalb, dass sich im politischen Bereich auf dem Balkan sich überhaupt nichts tut und statt dessen immer wieder neue Militäreinsätze geplant werden. Und wir wollen schließlich auch eine bessere Ausstattung der Bundeswehr. Sie sehen also: Wir wollen zu einer Verbesserung der Situation kommen. Wenn sich das abzeichnet, ist die FDP gesprächsbereit.
Wagener: Die Bundeswehr ist jetzt schon in Bosnien und auch im Kosovo aktiv. Nun mal jenseits der aktuellen Sparmaßnahmen, die die Bundesregierung ja allen Ressorts auferlegt hat - und besonders stark der Bundeswehr: Ist denn ein dritter Auslandseinsatz grundsätzlich etwas, was die Belastbarkeit der Bundeswehr nicht mehr tragen kann oder in Frage stellt?
Van Essen: Ich denke, dass ein kurzfristiger Einsatz von einigen wenigen Kompanien möglicherweise gerade noch verkraftbar ist. Aber wir haben eben diese Sicherheit nicht, dass es bei diesem kurzfristigen Einsatz weniger Kräfte bleibt, und deswegen möchten wir auch hier Klarheit.
Wagener: Nun wird es wahrscheinlich so kommen, dass der Bundestag aus der Sommerpause noch einmal zurückgerufen wird, um diesen Einsatz zu beschließen. Sehen Sie da eine Mehrheit für den Kanzler?
Van Essen: Ich weiß gar nicht, ob der Bundestag aus der Sommerpause zurückgerufen wird, denn wenn man Gespräche mit Kollegen in allen Fraktionen, insbesondere auch in der SPD-Fraktion führt, dann stellt man fest, dass die Fragen, die ich gerade gestellt habe, von allen Kollegen ähnlich gestellt werden. Ich sehe deshalb nicht, dass die Bundesregierung für ihre Politik eine Mehrheit schon in der eigenen Koalition hat.
Wagener: Wie ist Ihre Prognose für das Donnerstagsgespräch beim Kanzler?
Van Essen: Wir werden offen in dieses Gespräch gehen, wie das erwartet werden kann. Aber Sie merken an diesem Gespräch, dass wir eine Fülle an kritischen Fragen haben zu diesem Einsatz.
Wagener: Sind die deckungsgleich in der Argumentation im Vergleich zur Union?
Van Essen: Wir unterscheiden uns von der Union insofern, als wir nicht nur die Frage der Ausstattung der Bundeswehr zum Gegenstand unserer kritischen Nachfragen machen. Wir stellen auch kritische Fragen nach dem Sinn des Einsatzes insgesamt. Wir haben beispielsweise auch die Frage des UNO-Mandates angesprochen. Es ist zwar völlig richtig, dass für diesen kurzen begrenzten Einsatz mit Zustimmung der Regierung möglicherweise noch kein UNO-Mandat erforderlich ist, aber Sie haben in der Presse lesen können, dass auch weite Teile der Bundesregierung dies für notwendig halten. Ich halte das auch deshalb für vernünftig, weil wir ja absehen können, dass es nicht bei diesem begrenzten Einsatz bleibt, dass darüber hinaus möglicherweise Aufgaben auf die Soldaten - einschließlich eines Kampfauftrages - zukommen können. Dann muss es ein UNO-Mandat geben, um die Soldaten auch vernünftig rechtlich zu legitimieren.
Wagener: Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Jörg van Essen heute morgen im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Van Essen: Bitte sehr.
Link: Interview als RealAudio