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Burkard Spinnen: Unterwerfung unter gängige Schreibweisen rückgängig machen

"Man kann nur sehr, sehr leise lesen, aber nicht stumm", meint der Schriftsteller Burkard Spinnen zum Zusammenhang von Text und Rede. Für ihn ist das schreiben Lernen ein Prozess der Austreibung, der Unterwerfung unter Genres, Gattungen und Schreibweisen. Gelingendes Schreiben, so Spinnen, macht diesen Austreibungsprozess ungeschehen.

    Köhler: Der Schriftsteller Burkhard Spinnen schreibt nicht nur Prosaminiaturen, er ist auch Lehrer, Juror und Theoretiker. Und er fragt sich unter anderem selber auch: Wie schreibt der Dichter eigentlich? Und das tut er heute anders als früher, auch wenn er nach wie vor nur zwei Hände hat.

    In unserer Serie über Körper und Geist habe ich Burkhard Spinnen gefragt, ob der Text nicht auch ein bisschen wie ein Museum ist, durch das man schweigend geht. "Die Kunst zu schreiben", das schrieb mal der Philosoph Friederich Nietzsche, "verlangt Ersatzmittel für Ausdrucksarten, die nur der Redende hat: Gebärden, Akzente, Töne, Blicke." Und der Schreibstil ist deshalb viel schwieriger. Also, Herr Spinnen, stimmen Sie zu?

    Spinnen: Ja, und ich glaube, das ist auch eine Fehlrede. Also das sagt man immer so, und alle sagen das auch. Ich habe sehr häufig schon, besonders wenn ich mit Kindern etwas gemacht habe, also vorgelesen, über Literatur gesprochen, habe ich immer wieder gesagt, erinnert euch doch bitte daran, was passiert eigentlich wenn ihr lest, und da habe ich festgestellt, dass wirklich sehr viele Menschen gar nicht gewusst haben, dass sie laut vorlesen, auch wenn sie leise vorlesen. Also da sind die immer dann gegangen und haben gesagt, da muss ich aber heute Abend mal gucken. Wenn wir lesen, gibt es eine innere Stimme, die den Text bildet. Die ist nur merkwürdig körperlos, aber ohne das geht es nicht. Man kann nicht stumm lesen. Man kann nur sehr, sehr leise lesen, aber nicht stumm. Es hat sich aber aus dem Bewusstsein regelrecht rausgeschlichen, dieser Umstand.

    Köhler: Das monastische Murmeln gehört in die Zeit einer intellektuellen Elite, der Mönche. Die haben sozusagen den Text gekaut, gemurmelt. Die haben körperlich erfahren. Das klingt jetzt sehr katholisch, aber so war das mal. Wie kommt der Geist ins Wort oder in den Text?

    Spinnen: Das ist ja eher andersrum. Das Schreiben ist der Vorgang einer Austreibung, und die scheint sich automatisch zu vollziehen, indem nämlich derjenige, der schreibt, sich fast sofort, fast automatisch Genres, Gattungen und Schreibweisen unterwirft, die nicht mehr seine normalen, gängigen, selbstverständlichen, unreflektierten Redeweisen sind, und ich glaube, das gelingende Schreiben ist das Schreiben, das diesen automatischen Austreibungsprozess erkennt, reflektiert und daran arbeitet, ihn rückgängig zu machen, aufzuheben, ungeschehen zu machen. Schreiben heißt ja immer schon, so schreiben, wie man schreibt. Der individuelle Ausdruck im Schreiben wird demjenigen, der Schreiben lernt, zunächst mal ausgetrieben. Man schreibt nicht so, wie man spricht. Die Grammatik ist eine Regel, die im Alltag nur sehr selten, von uns beiden jetzt hier mit großer Anstrengung beachtet wird. Alltagsgrammatik sieht vollkommen anders aus. Ein normales, also nicht ein gestaltetes Rundfunkgespräch, wie wir es hier führen, ein normales Gespräch zwischen Menschen aufgezeichnet, könnte für einen Dritten bereits vollkommen unverständlich sein. Ich kann Ihnen ein kleines Beispiel geben: Denken Sie an die vielen Chatrooms, in denen man so Smilies verwendet. Wissen Sie woher das kommt, habe ich neulich gehört, das hat mich sofort vollkommen überzeugt. Das hängt damit zusammen, dass in dieser Internetkommunikation, also in Chatrooms, Foren usw. es zu einer gewaltigen Quote von Missverständnissen kommt, weil die Leute, die da schreiben, alle relativ ungestaltet schreiben, also so auch versuchen zu schreiben, wie sie reden, und das führt dazu, dass es zu immensen Missverständnissen kommt. Also man ist beleidigt, wo der andere nur einen kleinen Scherz auf seine eigenen Kosten machen wollte usw. Deswegen werden die Smilies verwendet, um die Sätze direkt danach zu kommentieren. Das war jetzt ein Scherz, oder ich bin wirklich sauer usw.

    Köhler: Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken noch mitteilen. Das ist lange Zeit ein Zug auch in der deutschen Literatur gewesen, mehr über Schreiben zu schreiben, als eigentlich eine Geschichte zu erzählen.

    Spinnen: Ja, aber dabei ist es ja vollkommen richtig. In der Sache, von der Intention her, von der Absicht her ist es vollkommen richtig. Ein geschriebener Text, ob philosophisch oder literarisch, ist ganz, ganz wesentlich auch eine Reflexion des Umstandes, dass hier geredet, gesprochen, gedacht wird, und dass nicht nur ganz instrumentell so ein paar Sachen transportiert werden, gib mir mal das Salz, wo warst du, geh ins Bett, wie, du hast noch das Licht an usw. Alle Texte, egal welche Gegenstände sie haben, sind in erster Linie Texte über die menschliche Fähigkeit, sich überhaupt sprechend, denkend den Sachen, den Menschen, den Lebensformen zuzuwenden. Deswegen ist ein Text, der nicht sich selbst als Geschriebenes reflektiert, trivial. Es gibt das. Es gibt Unmengen von trivialen Texten. Es gibt Romane, die man ausliest, und dann sagt man, ach ja, sie haben sich gekriegt oder traurig ausgegangen, und wenn Sie dann jemanden fragen würden, und wie war der Text so, dann machen die Leute große Augen und sagen, wie, der Text, da war gar kein Text, da war eine Mitteilung über ein fiktives Geschehen. Gute Literatur, Philosophie dann zumal, und da, wo Literatur und Philosophie ganz gut sind, heben sie die Unterschiede zwischen sich auf, transportieren etwas ganz, ganz Wesentliches mehr. Die Frage ist nur, tun sie das auf einem Silbertablett, auf dem dann so eckige Klötze oder kleine Kakteen stehen und liegen, oder tun sie das mit der Eleganz, die möglich ist im Sprechen, nämlich den Gegenstand, die Sache und gleichzeitig seine Reflexion zu vermitteln, so dass es dazwischen eigentlich gar keinen Unterschied gibt.

    Köhler: Das heißt, das Verhältnis von Körper und Text ist für den Schriftsteller im Wesentlichen eine Reflexion über Formgebung?

    Spinnen: Ja, ganz wesentlich. Das heißt nicht, dass der Stoff egal ist, um Gottes Himmels Willen, denn der wirft ja schon eine Menge an Form, Gestalt etcetera ab. Nicht von ungefähr ist die Liebe ein so beliebtes Thema, weil sie selbst aus ihrer Thematik heraus die Einheit von körperlicher Empfindung, Obsession, gewaltigem Nachdenken, Grübeln über Lebensentscheidung usw. in sich verbindet. Wenn Sie über Liebe schreiben, kriegen Sie viel leichter das Angebot, das Ganze menschlichen Lebens, das Körperliche wie das Seelisch-Geistige in einem zu haben, als wenn Sie einen Roman schreiben, bei dem es sich um die Konstruktion einer Brücke über die A1 dreht. Deswegen sind diese Themen so beliebt, und deswegen ist es wichtig, ein Thema zu haben, das so etwas abwerfen kann, denn aus dem Thema kommen die Worte, und die Worte haben verschiedene Möglichkeiten, beides zu transportieren.

    Köhler: Wie sieht der Musenkuss oder der Schöpfungsrausch von Burkhard Spinnen aus, wenn er schreibt?

    Spinnen: Burkhard Spinnen ist wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen jemand, der sich schon aus einfachen ökonomischen Gründen solche Marotten gar nicht leisten kann, denn weder bin ich Großverdiener, ohne etwas dafür zu tun, noch habe ich ein Armutsgelübde abgelegt und habe deswegen alle Zeit der Welt, um in Armut vor mich hin zu existieren und dabei schön auszusehen. Nein, ich habe verschieden gestaltete Arbeitstage und muss schauen, dass ich diese Arbeitstage sinnvoll nutze, das heißt, zu Hause steht ein PC rum, damit ich etwas Zeit spare, und wenn ich unterwegs bin, habe ich natürlich ein Notizbuch dabei, in das ich Sachen reinschreibe, aber wenn es so etwas gibt wie den Musenkuss, dann gestaltet sich das bei mir eher so, dass ich irgendwann feststelle, dass etwas, was ich mal sehr beiläufig gedacht habe, die Lösung zu einem Problem ist, dass ich so noch gar nicht formuliert hatte. Also ich empfinde es immer so, dass es ums Kombinatorische geht, dass ich plötzlich herausfinde, dass etwas mit etwas anderem zu tun hat. Ich gucke auch gerne Krimis. Kriminalromane haben auch immer den absoluten Zentralpunkt, wo jemandem, meistens nur einem einzigen klar wird, dass etwas mit etwas anderem zusammenhängt, und so stellt sich bei mir das beim Schreiben auch häufig dar. Ich habe 50 Sachen gedacht in Richtung auf ein bestimmtes Projekt, wie es weitergeht usw., und ohne dass ich jetzt besonders viel damit tue, wuseln die etwas durcheinander und zwei machen klick und haken sich ineinander und setzen sich eine rote Lampe auf den Kopf, und wenn ich einigermaßen wach bin, sehe ich das und sehe, aha, da gehören Dinge zusammen, und aus denen ergibt sich dann etwas. Das ist gewissermaßen so wie zwei Kaninchen im Stall, die sich dann ineinander verliebt haben, und Sie können sich dann vorstellen, wie es weitergeht.

    Köhler: Sie sind ein Meister - und damit komme ich zum Ende - auch großer Prosaminiaturen. Da denkt man manchmal, er legt bestimmt jedes Wort auf die Goldwaage. Ist das so, dass Sie laut lesen und die Worte laut lesen, die Worte kauen und ähnlich, wie Peter Handke, glaube ich, mal gesagt hat, ein falsches Wort und die Erzählung ist kaputt oder der Roman, oder ist das zu pathetisch?

    Spinnen: Das ist nicht pathetisch. Es stimmt alles. Man schämt sich, am Anfang des dritten Jahrtausends solche Sachen so gravitätisch zu sagen, das muss dann immer Peter Handke für einen machen. Aber schauen Sie, schon in der Schriftauffassung des Judentums, von dem wir ja nun wirklich sehr, sehr, sehr viel an Schrift, Vorstellungsschrift, Magie und Mythologie übernommen haben, hieß es, dass eine Tora, wenn auch nur ein einziges Wort darin falsch geschrieben ist, im Ganzem wertlos ist, wurde dann sogar, weil man sie für tot erachtete, begraben, bestattet. Und genau so ist es in einem literarischen Text. Es ist nur so: Beim 600-Seiten-Roman haut der eine Fehler nicht so leicht das ganze Buch um, aber bei einem kurzen Gedicht von vier, fünf Zeilen, ist jeder falsche Laut im Stande, alles zum Einsturz zu bringen. Deswegen die Prüfung, und die Prüfung, die für den Autor sehr, sehr schwer ist, weil er sich innerhalb des Textes befindet, eine der Prüfungsmöglichkeiten ist, es laut zu lesen, den Text also quasi auch als Autor aus sich herauszusetzen und von außen wieder zu hören. Das heißt, ich schmeiße ihn aus dem Mund raus, damit er beim Ohr wieder reinkommt, und hoffe, dass auf diesem kurzen Weg er sich so selbständig gemacht hat, dass ich ihm wie etwas doch tendenziell Fremden gegenübertreten und ihn auch beurteilen kann.