Friedbert Meurer: Es ist gerade erst zehn oder 15 Jahre her, als die Kriege auf dem Balkan Europa erschüttert haben. Hunderttausende sind gestorben, wurden grausam ermordet. Millionen mussten vor ethnischer Verfolgung fliehen. Für uns ist das alles Geschichte. Für die Menschen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens nicht. Ein Video über die Gräueltaten, begangen von Serben in Srebrenica, erschüttert das heutige Serbien und in Den Haag wird der albanische Ex-Kosovo-Regierungschef Haradinaj gestern auf freien Fuß gesetzt, um auf seinen Kriegsverbrecherprozess zu warten. Es könnte sich etwas also auf dem Balkan bewegen, allerdings genau in dem Moment, in dem Europa seine Tür vor neuen Beitrittskandidaten zuzuschlagen droht. Am Telefon begrüße ich nun Erhard Busek. Er ist der Koordinator des EU-Balkanstabilitätspaktes. Guten Morgen Herr Busek!
Erhard Busek: Guten Morgen!
Meurer: In Serbien entfaltet ja der Videofilm des Massakers von Srebrenica große Wirkung. Serbische Exsoldaten wurden verhaftet. Fangen die Serben jetzt an, sich ihrer Vergangenheit zu stellen?
Busek: Es ist höchste Zeit, denn an sich sind ja diese Dinge bekannt gewesen. Nur wurden sie entweder geleugnet oder schlicht und einfach ignoriert. Man darf wohl auch die Frage stellen, wieso taucht das Video erst nach zehn Jahren auf. Dass die Ereignisse schrecklich waren, ist allgemein bekannt gewesen.
Meurer: Haben Sie eine Erklärung, warum das Video erst jetzt auftaucht?
Busek: Entweder war es verborgen, was ich nicht glaube, oder man hat erst langsam Schritt um Schritt zu sich selber gefunden, um sich dem zu stellen. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass damit irgendwelche Strategien verbunden sind. Persönlich ist mir keine Version bekannt.
Meurer: Wie bewerten Sie die Reaktionen, die es in Serbien auf dieses Video gegeben hat?
Busek: Ich glaube das ist das Mindeste, was man hier überhaupt tun muss. Wir müssen uns alle immer der Vergangenheit stellen. Das gilt auch für Serbien und gilt auch für die Republica Serbsca innerhalb von Bosnien. Anders glaube ich lassen sich die Dinge selber nicht bewältigen.
Meurer: Das Tribunal in Den Haag wird ja immer wieder von Serbien oder von anderer Seite vehement kritisiert. Zeigt dieser Film jetzt mehr Wirkung als das Tribunal in Den Haag?
Busek: Für die serbische Öffentlichkeit auf jeden Fall, weil damit nicht geleugnet werden kann, in welchem hohen Ausmaß man hier verwickelt gewesen ist, und etwa immer der Versuch zu sagen, dass eigentlich alles gegen die serbische Nation gerichtet gewesen sei und man ihr Unrecht tue und sie stets ein Opfer sei, ist natürlich nicht aufrecht zu erhalten, wenn klar ersichtlich ist, welche Opfer es auch noch gegeben hat.
Meurer: Insgesamt betrachtet kommen sich Serben und Albaner, Bosnier und Kroaten wieder näher, oder ist das noch zu optimistisch betrachtet?
Busek: Das ist optimistisch betrachtet. Ich glaube, dass es nun einmal mehr Kenntnis voneinander gibt und auf den entsprechenden Ebenen natürlich auch Gespräche. Ich glaube, dass diese allgemeine Opfereinstellung, dass quasi jeder ein Opfer war und keiner ein Täter, dann zunehmend nicht aufrecht zu erhalten ist. Der nächste Schritt ist danach logisch, dass man nicht mehr mit dieser Geschichte leben muss, sondern dass nun auch Nachbarn miteinander leben müssen. Man kann sich ja nicht voneinander separieren, sondern sie waren ja auch durch Jahrhunderte miteinander verbunden.
Meurer: Was sind die größten Probleme, Herr Busek, mit denen Sie als Koordinator für den EU-Stabilitätspakt zu tun haben?
Busek: Da müssen Sie in zwei Richtungen denken. In Richtung des Internen sind es zunächst einmal ganz sicher die wirtschaftlichen Probleme. Wir haben eine Trennlinie zwischen Rumänien, Bulgarien und Kroatien einerseits und den übrigen Ländern andererseits, was die Investitionen betrifft und damit auch in der Arbeitslosigkeit. Wir haben Arbeitslosenraten zum Beispiel in Mazedonien von 35 Prozent, im Kosovo gar über 50 Prozent und das erzeugt natürlich keine Stabilität. Genauso ist es bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, wobei man sagen muss, dass manches besser geworden ist. Die Region ist mehr und mehr eine Transitregion für Verbrechen. Drogen werden durchgebracht, Frauen und Kinder und so weiter und das ist schon schrecklich genug. Wir brauchen hier mehr an internationaler Zusammenarbeit. Nach außen hin ist es die Problematik, die durch den Ausgang der beiden Referenden irgendwo unterstrichen wurde, dass es natürlich eine Stimmung gibt, was haben wir mit denen zu tun und brauchen wir die überhaupt. In Wahrheit aber können wir nur Stabilität und Frieden in Europa garantieren, wenn wir auch hier die europäische Integration weiterführen, denn sie ist ja ein Friedenskonzept und nur so wirksam.
Meurer: Nur so wie Sie die Zustände gerade geschildert haben, sind die ehemaligen Jugoslawien-Staaten Lichtjahre entfernt, EU-reif zu sein?
Busek: Lichtjahre ist übertrieben, aber es wird natürlich einige Zeit dauern und durch die letzten Entwicklungen und vielleicht auch die Erfahrungen, die man mit früheren Erweiterungen gemacht hat, schaut man genauer hin, ob auch eine entsprechende Implementierung erfolgt. Umgekehrt muss man aber fairerweise auch sagen, dass sehr viele Veränderungen mit einem beachtlichen Tempo durchgeführt wurden. Wir dürfen nicht vergessen: Wir sind nach vier Kriegen. Wir haben eine neue Landkarte und eine Reihe von Spannungen, die dadurch natürlich auch unterstrichen wurden. Selbstverständlich haben wir auch eine dynamische Entwicklung im Rest der Welt. Hier aufzuschließen ist nicht leicht, aber man bemüht sich sehr.
Meurer: Sind nach den gescheiterten EU-Referenden die Chancen gesunken für Kroatien, Serbien und Co., EU-Mitglied zu werden?
Busek: Natürlich sucht man Schuldige und manche glauben, sie in der Erweiterung gefunden zu haben, was völlig falsch ist, wenn man analysiert, warum wir bei diesen Referenden nicht durchgekommen sind. Ich glaube auch, dass das relativ unfair wäre. Dass man genau hinschaut und dass die Bedingungen erfüllt werden müssen, das kann man nur unterstreichen und das ist uns allen zu wünschen. Aber quasi jemanden auszuschließen, weil man im eigenen Land offensichtlich selber versäumt hat zu erklären, warum Europa notwendig ist, das ist kein Argument.
Meurer: Aber die Menschen in Europa scheinen – das ist ja wohl eine Botschaft der EU-Referenden gewesen – Angst vor einem unkontrollierten Anwachsen und einer unkontrollierten Erweiterung der EU zu haben?
Busek: Das gilt aber in die Richtung, dass es natürlich dann alle möglichen guten Ideen gibt, die über die Türkei dann meinetwegen nach Algerien und Marokko gehen. Aber es kann ja niemand bestreiten, dass Südosteuropa auch Europa ist. Wissen Sie Europa muss auch den Bürgern erklärt werden. Die geschätzten Staats- und Regierungschefs müssen den Bürger mitnehmen. Kabinettsdiplomatie allein genügt nicht.
Meurer: Da die EU zumindest in Ansätzen offenbar beitrittsmüde wird, kann das vielleicht umgekehrt auch die Balkanstaaten motivieren, sich anzustrengen, die Kriterien jetzt gerade erst recht zu erfüllen, bevor es zu spät ist?
Busek: Die einzige Perspektive, warum man in diesen Ländern überhaupt Transformation macht – man muss ja auch sagen, warum soll ich das alles machen -, ist mit Sicherheit die Mitgliedschaft zur Europäischen Union und in einer etwas geringeren Weise die Mitgliedschaft zur NATO. Auf diese Triebfeder können wir einfach nicht verzichten und die ist auch notwendig. Eigentlich habe ich manchmal den Eindruck, dass diese Länder quasi europäischer sind als die, die schon lange dabei sind.
Meurer: Wieso europäischer?
Busek: Weil sie eine Grundeinstellung haben. Sie haben das Grundkonzept der Europäischen Union quasi eher erkannt, während wir dann über Detailfragen reden und das, was selbstverständlich geworden ist, beginnend vom Frieden bis zum Euro, eigentlich so zur Kenntnis nehmen, als wäre es von Gott gewollt und wäre uns ohnehin passiert. In Wahrheit hat auch Europa natürlich darum ganz kräftig ringen müssen.
Meurer: Europa und die Balkanstaaten. Das war Erhard Busek, der Koordinator des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Herr Busek, ich bedanke mich für das Gespräch und auf Wiederhören!
Busek: Herzlichen Dank!
Erhard Busek: Guten Morgen!
Meurer: In Serbien entfaltet ja der Videofilm des Massakers von Srebrenica große Wirkung. Serbische Exsoldaten wurden verhaftet. Fangen die Serben jetzt an, sich ihrer Vergangenheit zu stellen?
Busek: Es ist höchste Zeit, denn an sich sind ja diese Dinge bekannt gewesen. Nur wurden sie entweder geleugnet oder schlicht und einfach ignoriert. Man darf wohl auch die Frage stellen, wieso taucht das Video erst nach zehn Jahren auf. Dass die Ereignisse schrecklich waren, ist allgemein bekannt gewesen.
Meurer: Haben Sie eine Erklärung, warum das Video erst jetzt auftaucht?
Busek: Entweder war es verborgen, was ich nicht glaube, oder man hat erst langsam Schritt um Schritt zu sich selber gefunden, um sich dem zu stellen. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass damit irgendwelche Strategien verbunden sind. Persönlich ist mir keine Version bekannt.
Meurer: Wie bewerten Sie die Reaktionen, die es in Serbien auf dieses Video gegeben hat?
Busek: Ich glaube das ist das Mindeste, was man hier überhaupt tun muss. Wir müssen uns alle immer der Vergangenheit stellen. Das gilt auch für Serbien und gilt auch für die Republica Serbsca innerhalb von Bosnien. Anders glaube ich lassen sich die Dinge selber nicht bewältigen.
Meurer: Das Tribunal in Den Haag wird ja immer wieder von Serbien oder von anderer Seite vehement kritisiert. Zeigt dieser Film jetzt mehr Wirkung als das Tribunal in Den Haag?
Busek: Für die serbische Öffentlichkeit auf jeden Fall, weil damit nicht geleugnet werden kann, in welchem hohen Ausmaß man hier verwickelt gewesen ist, und etwa immer der Versuch zu sagen, dass eigentlich alles gegen die serbische Nation gerichtet gewesen sei und man ihr Unrecht tue und sie stets ein Opfer sei, ist natürlich nicht aufrecht zu erhalten, wenn klar ersichtlich ist, welche Opfer es auch noch gegeben hat.
Meurer: Insgesamt betrachtet kommen sich Serben und Albaner, Bosnier und Kroaten wieder näher, oder ist das noch zu optimistisch betrachtet?
Busek: Das ist optimistisch betrachtet. Ich glaube, dass es nun einmal mehr Kenntnis voneinander gibt und auf den entsprechenden Ebenen natürlich auch Gespräche. Ich glaube, dass diese allgemeine Opfereinstellung, dass quasi jeder ein Opfer war und keiner ein Täter, dann zunehmend nicht aufrecht zu erhalten ist. Der nächste Schritt ist danach logisch, dass man nicht mehr mit dieser Geschichte leben muss, sondern dass nun auch Nachbarn miteinander leben müssen. Man kann sich ja nicht voneinander separieren, sondern sie waren ja auch durch Jahrhunderte miteinander verbunden.
Meurer: Was sind die größten Probleme, Herr Busek, mit denen Sie als Koordinator für den EU-Stabilitätspakt zu tun haben?
Busek: Da müssen Sie in zwei Richtungen denken. In Richtung des Internen sind es zunächst einmal ganz sicher die wirtschaftlichen Probleme. Wir haben eine Trennlinie zwischen Rumänien, Bulgarien und Kroatien einerseits und den übrigen Ländern andererseits, was die Investitionen betrifft und damit auch in der Arbeitslosigkeit. Wir haben Arbeitslosenraten zum Beispiel in Mazedonien von 35 Prozent, im Kosovo gar über 50 Prozent und das erzeugt natürlich keine Stabilität. Genauso ist es bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, wobei man sagen muss, dass manches besser geworden ist. Die Region ist mehr und mehr eine Transitregion für Verbrechen. Drogen werden durchgebracht, Frauen und Kinder und so weiter und das ist schon schrecklich genug. Wir brauchen hier mehr an internationaler Zusammenarbeit. Nach außen hin ist es die Problematik, die durch den Ausgang der beiden Referenden irgendwo unterstrichen wurde, dass es natürlich eine Stimmung gibt, was haben wir mit denen zu tun und brauchen wir die überhaupt. In Wahrheit aber können wir nur Stabilität und Frieden in Europa garantieren, wenn wir auch hier die europäische Integration weiterführen, denn sie ist ja ein Friedenskonzept und nur so wirksam.
Meurer: Nur so wie Sie die Zustände gerade geschildert haben, sind die ehemaligen Jugoslawien-Staaten Lichtjahre entfernt, EU-reif zu sein?
Busek: Lichtjahre ist übertrieben, aber es wird natürlich einige Zeit dauern und durch die letzten Entwicklungen und vielleicht auch die Erfahrungen, die man mit früheren Erweiterungen gemacht hat, schaut man genauer hin, ob auch eine entsprechende Implementierung erfolgt. Umgekehrt muss man aber fairerweise auch sagen, dass sehr viele Veränderungen mit einem beachtlichen Tempo durchgeführt wurden. Wir dürfen nicht vergessen: Wir sind nach vier Kriegen. Wir haben eine neue Landkarte und eine Reihe von Spannungen, die dadurch natürlich auch unterstrichen wurden. Selbstverständlich haben wir auch eine dynamische Entwicklung im Rest der Welt. Hier aufzuschließen ist nicht leicht, aber man bemüht sich sehr.
Meurer: Sind nach den gescheiterten EU-Referenden die Chancen gesunken für Kroatien, Serbien und Co., EU-Mitglied zu werden?
Busek: Natürlich sucht man Schuldige und manche glauben, sie in der Erweiterung gefunden zu haben, was völlig falsch ist, wenn man analysiert, warum wir bei diesen Referenden nicht durchgekommen sind. Ich glaube auch, dass das relativ unfair wäre. Dass man genau hinschaut und dass die Bedingungen erfüllt werden müssen, das kann man nur unterstreichen und das ist uns allen zu wünschen. Aber quasi jemanden auszuschließen, weil man im eigenen Land offensichtlich selber versäumt hat zu erklären, warum Europa notwendig ist, das ist kein Argument.
Meurer: Aber die Menschen in Europa scheinen – das ist ja wohl eine Botschaft der EU-Referenden gewesen – Angst vor einem unkontrollierten Anwachsen und einer unkontrollierten Erweiterung der EU zu haben?
Busek: Das gilt aber in die Richtung, dass es natürlich dann alle möglichen guten Ideen gibt, die über die Türkei dann meinetwegen nach Algerien und Marokko gehen. Aber es kann ja niemand bestreiten, dass Südosteuropa auch Europa ist. Wissen Sie Europa muss auch den Bürgern erklärt werden. Die geschätzten Staats- und Regierungschefs müssen den Bürger mitnehmen. Kabinettsdiplomatie allein genügt nicht.
Meurer: Da die EU zumindest in Ansätzen offenbar beitrittsmüde wird, kann das vielleicht umgekehrt auch die Balkanstaaten motivieren, sich anzustrengen, die Kriterien jetzt gerade erst recht zu erfüllen, bevor es zu spät ist?
Busek: Die einzige Perspektive, warum man in diesen Ländern überhaupt Transformation macht – man muss ja auch sagen, warum soll ich das alles machen -, ist mit Sicherheit die Mitgliedschaft zur Europäischen Union und in einer etwas geringeren Weise die Mitgliedschaft zur NATO. Auf diese Triebfeder können wir einfach nicht verzichten und die ist auch notwendig. Eigentlich habe ich manchmal den Eindruck, dass diese Länder quasi europäischer sind als die, die schon lange dabei sind.
Meurer: Wieso europäischer?
Busek: Weil sie eine Grundeinstellung haben. Sie haben das Grundkonzept der Europäischen Union quasi eher erkannt, während wir dann über Detailfragen reden und das, was selbstverständlich geworden ist, beginnend vom Frieden bis zum Euro, eigentlich so zur Kenntnis nehmen, als wäre es von Gott gewollt und wäre uns ohnehin passiert. In Wahrheit hat auch Europa natürlich darum ganz kräftig ringen müssen.
Meurer: Europa und die Balkanstaaten. Das war Erhard Busek, der Koordinator des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Herr Busek, ich bedanke mich für das Gespräch und auf Wiederhören!
Busek: Herzlichen Dank!