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Buttiglione

Martin Gerner |
    Gerner: Herr Buttiglione, wenige Tage noch bis Ostern, dem Fest der Auferstehung. Auferstanden ist gewissermaßen auch ein Alptraum vieler Italiener, die Fratze des Terrorismus hat sich erneut gezeigt - der Mord an Marco Biagi, Wirtschaftsprofessor in Diensten der Berlusconi-Regierung. Ist das die Rückkehr des Terrorismus, wie Italien ihn schon einmal erlebt hatte?

    Buttiglione: Wir sind noch nicht so weit, wir müssen aber sehr besorgt sein, wir müssen jetzt alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit wir nie wieder so weit kommen. Und das heißt, dass die Regierung die eigene Verantwortung übernehmen muss, aber auch die Opposition. Eine Situation des bürgerlichen Krieges entsteht, wenn die großen Koalitionen, die das Land entweder regieren oder die Aussicht haben, zukünftig das Land zu regieren, sich gegenseitig nicht legitimieren . . .

    Gerner: . . . habe ich Sie richtig verstanden, Sie reden von Bürgerkrieg?

    Buttiglione: Das Ziel der Roten Brigaden ist eigentlich, einen Bürgerkrieg zustande zu bringen. Das ist natürlich unmöglich. Die Demokratie hat in Italien feste Wurzeln, die werden es nie schaffen. Aber das ist ihr Ziel, gerade wie es damals das Ziel der Rote-Armee-Fraktion in Deutschland war. Wir müssen uns dessen bewusst sein.

    Gerner: Die Roten Brigaden, von denen jetzt die Rede ist, die sich als Nachfolger derer in den 70er/80er Jahren ausgeben, sind die ein versprengtes Häuflein einiger Weniger oder ist das eine Organisation, die das Potential hat, den Staat am Fundament zu gefährden?

    Buttiglione: Nein, die können die Demokratie am Fundament nicht gefährden. Aber die machen Politik. Die sind nicht nur Mörder, sie sind politische Mörder. Und die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Warum gerade jetzt? Und die Antwort ist ganz leicht: Weil in diesem Moment - es gibt in Italien einige Menschen, die so sprechen, als ob die Regierung des Landes nicht eine ganz legitime Regierung wäre. Aber wir sind zur Macht demokratisch gelangt, wir haben keine Gewalt je ausgeübt. Wir haben keine Menschen ins Gefängnis gesperrt, wir sind eine ganz demokratische Regierung. Und jeder, der dies nicht anerkennt, ist ein Leugner.

    Buttiglione: Wir müssen Unterschiede machen. Es gibt die Mörder und es gibt die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften, auch wenn sie einen ganz starken Konflikt gegen die Regierung führen, die sind in ihrem Recht. Wer anerkennen dieses Recht. Wenn sie glauben, dass dadurch die besten Interessen der Arbeiter geschützt werden, haben sie das Recht und sogar die Pflicht, so zu handeln. Es muss aber klar sein, dass die Regierung ebenso das Recht hat, die eigenen Maßnahmen zu treffen, wenn wir davon überzeugt sind, dass dadurch das gemeinsame Wohl aller Bürger geschützt wird.

    Gerner: Worauf hat man sich geeinigt, was wird Italien jetzt für Maßnahmen ergreifen?

    Buttiglione: Wir müssen uns darüber einigen, dass der soziale Konflikt physiologisch in einer Demokratie vorkommt, aber es gibt einen Abgrund zwischen sozialem Konflikt und Terrorismus. Niemand muss mit dem Terrorismus kokettieren, niemand muss den Eindruck erwecken, dass dieser soziale Konflikt nur der erste Schritt wäre auf einem Wege, der später bis zum bewaffneten Kampf führen könnte. Das muss ganz klar sein.

    Gerner: Das ist eine indirekte Drohung an die Gewerkschaften? Es ist ein Aufruf an die Verantwortung. Die Gewerkschaften sind eine Sache, die Mörder sind eine andere Sache, und es gibt auch einen Raum dazwischen. Es gibt die Possenreißer, die Possenreißer, die Reden halten, die inhaltslos sind und die Worte nicht messen. Die Worte können manchmal ebenso gefährlich sein wie Waffen, und jeder Mensch, der behauptet, eine Rolle im kulturellen oder politischen Leben des Landes zu haben, sollte auf die eigene Verantwortung bewusst gemacht werden.

    Gerner: In Deutschland hat sich die RAF selbst aufgelöst, die italienischen Roten Brigaden sind immer noch da. Warum?

    Buttiglione: Vielleicht, weil die in der italienischen Geschichte tiefere Wurzeln geschlagen haben. Die kommunistische Utopie hat in Italien eine stärkeren Geschichte gehabt als in Deutschland, weil Deutschland den Kommunismus direkt erlebt hat. Und gerade durch diese unmittelbare Erfahrung haben die Deutschen klar gesehen, was der Kommunismus ist. In Italien war das anders. Wir haben die größte kommunistische Partei der Welt gehabt später; die meisten Kommunisten haben auf den Totalitarismus verzichtet, sich zur Demokratie bekehrt und ließen die kommunistischen Parteien am demokratischen Alltagsleben teilhaben. Und auch unter diesen Kommunisten sind Menschen entstanden, die vieles für unsere Demokratie gemacht haben - zur Zeit des Widerstandes gegen den Faschismus, aber auch zur Zeit des Terrorismus usw. Aber einige sind auch der alten Utopie treu geblieben, und diese sind die Roten Brigaden.

    Gerner: Zur Zeit geht eine große Protestwelle durch das Land, wie sie die zweite Regierung Berlusconi, die jetzt amtiert, noch nicht erlebt hat. Wie gedenken Sie umzugehen damit?

    Buttiglione: Nun, wir haben einen sozialen Konflikt, wir müssen den sozialen Konflikt klar von dem Terrorismus trennen. Der Kapitalismus interessiert uns überhaupt nicht. Das Thema ist die Demokratie. Will einer gegen den Kapitalismus kämpfen, der hat das Recht, dies zu tun. Will einer sagen, dass er Berlusconi nicht so liebt und dass er einen anderen Regierungschef haben möchte, dann ist er durchaus berechtigt, das zu sagen. Aber es gibt eine klare Grenze zwischen denen, die es so meinen und die menschliche Person, die Würde der menschlichen Person, die menschlichen Rechte und die Demokratie respektieren, und jenen, die das nicht tun.



    Gerner: Das müssten Sie etwas konkreter machen, die Sorgen, die Kritiken - auch aus dem Ausland - und gerade von der schleichenden Demontage des italienischen Rechtsstaates, die mit der Regierung Berlusconi einher geht. Ich setze nicht voraus, dass . . .

    Buttiglione: . . . es gibt keine Demontage, es gibt keine Demontage des Rechtsstaates in Italien - Entschuldigung -, das ist schon eine Verleumdung. Das muss ich bestreiten, das kann man nicht sagen, das ist falsch.

    Gerner: Darf ich gerade mal die Kritiken, die es gibt, zusammenfassen: Silvio Berlusconi hat mit seiner Holding große Teile am Fernsehmarkt in Italien, damit am Werbemarkt und der öffentlichen Meinung . . .

    Buttiglione: . . . das ist noch keine Schuld . . .

    Gerner: . . . ihm gehören Zeitungen, Supermarktketten, Verlage. Es geht die Diskussion, dass er möglicherweise einen weiteren Teil der RAI des staatlichen Fernsehens privatisiert. Kann man. . . .

    Buttiglione: . . . was ist daran schlecht? Ich kann wohl verstehen, dass dies einigen nicht gefällt, aber ich kann nicht sehen, was hieran schlecht ist, was hier als ein Verbrechen betrachtet werden soll. Wo liegt das Problem?

    Gerner: Das Problem liegt im Interessenkonflikt von Politik und Geld, das sich so vereint, dass es nicht mehr zu trennen ist und an der Staatsspitze steht. Ich will Gerhard Schröder . . .

    Buttiglione: . . . gut, das war den italienischen Wählern zur Zeit der Wahlen wohlbewusst und die haben trotzdem für Berlusconi die Stimmen abgegeben. Aber auf alle Fälle: Das ist vom italienischen Recht her nicht verboten. Wir machen jetzt ein Gesetz über den Interessenkonflikt, und dann wird das Thema neu geregelt werden. Aber auf alle Fälle: Alles, was Sie gesagt haben, ist kein Verstoß gegen das italienische Recht - und so weit ich weiß, auch nicht gegen das deutsche Recht.

    Gerner: Könnte es sein, dass es ein Verstoß ist gegen das europäische Recht, denn jeder Mitgliedsstaat hat sich ja auf Mindeststandards von Demokratie und Recht verpflichtet...

    Buttiglione: . . . und bisher habe ich nichts gegen die Demokratie gesehen. Dass ein reicher Mann Politik macht, ist kein Verstoß gegen die Demokratie. Sollten wir den Unternehmern verbieten, Politik zu machen? Sind sie Menschen mit weniger bürgerlichen Rechten als die anderen?

    Gerner: Ich will Gerhard Schröder zitieren. Der deutsche Bundeskanzler hat gesagt: 'Mit den Eigenschaften Berlusconis sei es undenkbar in Deutschland, Kanzler zu sein . . .

    Buttiglione: . . . undenkbar - mit einer Ausnahme: den Fall, dass das Volk so entscheidet. Und das hat gerade das italienische Volk gemacht.

    Gerner: Dann lassen Sie mich das Phänomen Berlusconi versuchen, mit Ihnen von der anderen Seite zu beleuchten. Warum ist der Mann so populär? Es taucht immer das Wort ‚furbo' auf - ‚durchtrieben'. Ist er jemand, der dem Staat ein Schnippchen geschlagen hat und dabei zu Erfolg gekommen ist? Macht ihn das so beliebt, so populär?

    Buttiglione: Nein, gar nicht, das hat nichts damit zu tun. In einem normalen Land wäre Berlusconi nie ein Politiker geworden, die Italiener haben gestimmt mit der Überzeugung, dass die Demokratia Christiana eine Partei der Verbrecher war, eine abartige Mafia, dass Andreotti der Führer der Mafia war, dass Gava der Führer der Camorra war usw. Und die Wähler der Mitte sind ohne Anhaltspunkt geblieben. Dann ist Berlusconi in die Politik gekommen, und die Wähler der Mitte haben ihn gewählt, weil er der einzige war, der in jenem Moment die Möglichkeit hatte, die Werte der Mitte in Italien zu bewahren. Sonst hätten wir in Italien heute kein bürgerliches Lager. Dies ist der Grund, warum die Italiener für Berlusconi die eigenen Stimmen abgegeben haben.

    Gerner: Verkörpert er auch - Berlusconi - möglicherweise die italienische Version des amerikanischen Traumes - vom Staubsaugerverkäufer zum reichsten Mann?

    Buttiglione: Das mag sein, aber das ist nicht der Hauptgrund des politischen Erfolgs von Berlusconi. Wenn etwas nicht ganz normal ist in der politischen Karriere von Berlusconi: Der Grund liegt in der Art und Weise, wie die Parteien in der demokratischen Mitte in Italien zerstört wurden. Und zur Zeit, als Italien ein normales Land war, hat Berlusconi nie davon geträumt, ein Politiker zu werden. Aber auf alle Fälle: Ein reicher Mann, der Regierungschef wird, ist ein Faschist? Sollen wir ihn als Faschisten abstempeln, nur weil er ein reicher Mann ist? Sollen wir sagen, dass die Demokratie zugrunde gegangen ist, nur weil ein Unternehmer Regierungschef geworden ist? Das scheint mir ein Unding, ich bitte um Entschuldigung.

    Gerner: Das US-System sieht 'checks and balances' für so etwas vor. Das Vermögen wird an einen Verwalter während der Regierung übergeben . . .

    Buttiglione: . . . machen Sie sich keine Sorge, wir werden ein System von ‚checks and balances' machen, das ebenso tüchtig sein wird wie das der Vereinigten Staaten.

    Gerner: Sie sind ein Mann, der Rechtswissenschaften studiert hat, der sich als promovierter Philosoph auch mit Ethik und Demokratie und ihren Spielregeln auseinandergesetzt hat. Sie könnten das moralische Gewissen dieser Regierung sein.

    Buttiglione: Wir sagen nicht, dass das Parlament entscheidet, welche Verbrechen verfolgt werden sollen und welche nicht. Wissen Sie wer entscheidet, welche Verbrechen vorerst verfolgt werden sollen in den Vereinigten Staaten? Die politische Macht, weil der Staatsanwalt von dem Volk gewählt wird - nicht eine Körperschaft von Richtern, sondern das souveräne Volk über eine politische Wahl. Und wissen Sie, wer dies in Frankreich tut? Die Staatsanwaltschaft in Frankreich ist von der Regierung abhängig. Und in Deutschland? Italien ist das einzige Land, in der es keine solche Verbindung gibt. Wenn wir eine einführen sollten, die wäre viel leiser als die, die ihr in Deutschland habt. Und Ihr wollt uns darüber kritisieren? Ist dies Heuchelei?

    Gerner: Herr Buttiglione, Stichwort Europa. Italien galt lange als Musterland der Integration, der europäischen Integration, und da gab es eine Reihe, die Zweifel haben aufziehen sehen, als Silvio Berlusconi seinem Außenminister Ruggiero Anfang des Jahres die Tür wies, dann selbst das Außenministerium übernahm in Personalunion. Etwa um diese Zeit auch gab es die Diskussion um den europäischen Haftbefehl. Italien ist einige Zeit als Bremser dort aufgetreten. Gab es ein anderes Argument als das, was man immer wieder vermutete - den Schutz Berlusconis vor Verfolgung durch die Justiz?

    Buttiglione: Wir haben nur dies gesagt. Der gemeinsame Gesetzesraum in Europa sollte nicht mit dem Haftbefehl beginnen. Er sollte mit dem Schutz der Rechte beginnen. Wir sollten als erstes ein europäisches ‚habeas corpus' machen, ein europäisches 'bill of rights', das uns sagt, welches die Rechte des europäischen Bürgers sind und von keiner Autorität angetastet werden können. Wenn wir dies haben, dann können wir auch den Haftbefehl haben. Das ist dann kein Problem. Wir haben nur irgendwie die Zeitfolge umgekehrt.

    Gerner: Ist Italien auf Sanktionen vorbereitet, können Sie sich das überhaupt vorstellen - wie im Falle Österreichs?

    Buttiglione: Nein, und unsere Sanktion ist ein Lächeln.

    Gerner: Warum erscheint Ihnen das so utopisch?

    Buttiglione: Was utopisch?

    Gerner: Sanktionen. Im Falle von Österreich haben sie stattgefunden. Immerhin, damals, als die Sanktionen . . .

    Buttiglione: . . . es gibt keinen Grund für Sanktionen. Erstens, wir sind ein demokratisches Land. Zweitens, wir sind ein großes Land in Europa, und niemand hat je daran gedacht, Sanktionen gegen Italien vorzuschlagen.

    Gerner: Sie haben selbst gesagt, Italien muss seine Interessen in Europa mehr wahrnehmen - jetzt in dieser Zeit. Das heißt . . .

    Buttiglione: . . . ja, unbedingt . . .

    Gerner: . . . welche Interessen sind das?

    Buttiglione: Die Interessen der italienischen Arbeit. Die Gesetzgebung in Europa muss mehr Rücksicht auf die italienischen Verhältnisse nehmen.

    Gerner: Hat man Sie benachteiligt?

    Buttiglione: Ja, natürlich.

    Gerner: Wo?

    Buttiglione: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Italien haben wir eine sehr große Zahl von mittleren, kleinen und sehr kleinen Unternehmen. Wir sind eine Nation von kleinen Unternehmen. Alle Richtlinien, die aus Brüssel kommen, sind gedacht mit der Idee verhältnismäßig großer Unternehmen. Ein Unternehmen mit 100 Leuten gilt in Deutschland als klein. In Italien ist solch ein Unternehmen schon mittelgroß. Wir haben viele, viele Unternehmen mit drei, vier, fünf oder zehn Menschen, die darin arbeiten, Handwerker. Viele Richtlinien, die aus Brüssel kommen, sind gar nicht durchsetzbar in dieser Umgebung.

    Gerner: Es gibt offenbar so etwas wie ein neues Selbstvertrauen? Ich erinnere mich: Im November - der Afghanistan-Krieg hatte begonnen - gab es ein Treffen Blair, Chirac, Schröder - Berlusconi war anfangs nicht geladen, hat aber mächtig Druck gemacht, um dazu zugehören. Ist das auch, dass man weg will von einem - und sei es nur subjektiven - Minderwertigkeitsgefühl?

    Buttiglione: Vielleicht. Wissen Sie, wir haben kein Minderwertigkeitsgefühl. Die frühere Generation hatte nicht ein Minderwertigkeitsgefühl, die waren in gewisser Weise minderwertig. Italien war ein kleineres Land. Anfang der 50er Jahre, da hatte Italien hatte ein Bruttosozialprodukt von 40 Prozent von dem Vereinigten Königreich Großbritanniens. Heute haben wir eine wirtschaftliche Macht, die mehr oder weniger die gleiche ist wie Frankreich oder Großbritannien - ein bisschen weniger als Deutschland, aber Deutschland hat auch eine größere Bevölkerung. Wir behaupten heute, ebenbürtige Partner zu sein. Wir wollen diese Rechte ausüben und wir sehen darin nichts gegen Europa. Es ist auch für Europa besser, wenn Italien eine stärkere Stimme in Europa hat.

    Gerner: Herr Minister, Thema Zuwanderung. Täglich spielen sich an den Südküsten Italiens menschliche Tragödien ab - zuletzt ein rostiges, fast zerfallenes Schiff mit 1.000 Flüchtlingen etwa, angeblich Kurden aus dem Irak, viele Kinder darunter, die an Land drängen. Der Notstand ist ausgerufen worden in Italien, weitere Schiffe sind schon in Sichtweite der Küsten. Wie gedenken Sie, mit dem Problem fertig zu werden?

    Buttiglione: Das erste Problem ist, dass wir es nie zulassen werden, dass Menschen vor der italienischen Küste sterben, wenn wir ihnen helfen können. Das ist gegen unser christliches Bewusstsein, gegen unsere Gesetze und auch gegen das internationale Gesetz. Wir werden unsere Hilfe den Menschen in Gefahr anbieten. Später werden wir überprüfen, ob diese Menschen ein wirkliches Asylrecht haben oder nicht. Und wenn sie kein Recht auf Asyl haben, werden wir sie in ihr Land zurückschicken - nach dem italienischen Gesetz. Ich muss dazu sagen, dass dies nicht ein italienisches Problem ist. Dies ist ein europäisches Problem.

    Gerner: Da wollte ich gerade drauf zu sprechen kommen. Mehrere Mitglieder in Ihrer Regierung haben gesagt: Die EU muss zur Hilfe kommen. In welcher Form? Geld alleine, Polizei, Grenzschutz dazu? Konkretisieren Sie das...

    Buttiglione: Es gibt vieles. Erstens: Wir müssen die Staaten zur Rechenschaft ziehen, die diesen Sklavenhandel unserer Zeit tolerieren oder sogar unterstützen. Es gibt einige Staaten an der Küste des Mittelmeeres, die nicht alles machen was sie machen sollten, um diesen Sklavenhandel zu verhindern. Ich sage, dass diese Staaten - wie Syrien, Libanon, die Türkei, vielleicht Zypern - diese Staaten müssen unter Druck gesetzt werden, nicht nur von Italien, sondern von der Europäischen Union. Wir müssen ihnen klar sagen, dass sie diesen Handel nicht mehr tolerieren können.

    Gerner: Wie wollen Sie sie unter Druck setzen? Entwicklungshilfe entziehen, oder was meinen Sie?

    Buttiglione: Im Falle der Fälle sogar Entwicklungshilfe entziehen.

    Gerner: Wozu soll das führen, dann kommen noch mehr her.

    Buttiglione: Nein, das soll dazu führen, dass diese Staaten der eigenen Verantwortung bewusst werden und die entsprechenden Maßnahmen treffen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben mit Albanien verhandelt, wir haben ein gutes Abkommen mit Albanien gemacht. Wir geben Albanien Unterstützungshilfe, und Albanien hat konkrete Maßnahmen gegen diesen Menschenhandel getroffen. Diese funktionieren - nicht ganz, natürlich. Die Vollständigkeit gehört nicht zu dieser Mittelmeerwelt. Aber auf alle Fälle: Die haben diesen Sklavenhandel sehr stark reduziert. Ich sehe nicht, warum wir dasselbe nicht mit anderen Ländern machen könnten.

    Gerner: Herr Minister, möchten Sie auch, dass nichtitalienische Polizei, nichtitalienischer Grenzschutz Ihnen zur Hilfe kommt . . .

    Buttiglione: . . . das ist ein zweites Thema, das kommt natürlich später, das kann nicht sofort gemacht werden. Aber wir finden, dass es nicht korrekt und richtig ist, dass wir die Grenze der Union schützen müssen, während andere Länder keine Sorge dazu tragen. Diese Menschen wollten nicht nach Italien kommen, die wollten nach Deutschland.

    Gerner: Italien ist in der Tat nur oft Durchgangsland . . .

    Buttiglione: . . . ja, Italien ist ein Durchgangsland...

    Gerner: Aber Sie meinen, Deutschland und andere sollen teilnehmen an der Bewältigung dieser humanitären Katastrophe?

    Buttiglione: Natürlich. Die machen es schon, aber wir müssen uns besser koordinieren. Die gemeinsame Grenzkontrolle zum Beispiel, auch eine gemeinsame Politik für das Mittelmeer. Wir wollen nicht eine ‚Festung Europa'. Wir behaupten, dass die Wohlfahrt besser dadurch geschützt wird, dass sie ausgeweitet wird, dass andere Menschen durch die Entwicklungshilfe auch eine ökonomische Entwicklung haben, so dass diese Menschen jene kleinbürgerlichen Ideale haben können, die wir schon haben und die die Marxisten einmal so sehr geächtet haben - eine Arbeit zu finden, zu heiraten, Kinder zu haben, eine Familie zu gründen. Wenn die Menschen keine solche kleinbürgerlichen Ideale pflegen können, dann werden sie sich aufopfern für die Nation, für die Klasse, für die Weltrevolution. Und wir werden Menschen haben, die als Modell nicht den erfolgreichen Unternehmer wie Berlusconi haben, sondern den Krieger - und manchmal sogar den Massenmörder aus politischen Gründen.

    Gerner: Es gibt ein Sprichwort, Herr Buttiglione, das heißt: ‚Die Deutschen lieben die Italiener, die Italiener respektieren die Deutschen.' Ist das für immer gemeißelt in die bi-nationale Kulturgeschichte, oder kann sich daran was ändern?

    Buttiglione: Nun, ich glaube, das hat sich schon geändert. Viele Stereotypen sind schon gefallen . In den letzten Jahren glauben wir ein bisschen weniger an die berühmte 'deutsche Tüchtigkeit'. Ich weiß nicht, ob das Stereotyp der ‚italienischen Leichtfertigkeit' ebenso ein bisschen abgenommen hat.

    Gerner: Herr Minister Buttiglione, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

    Buttiglione: Ich danke Ihnen.