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C. Bernd Sucher: "Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung"
Bekenntnisse eines Muttersohns

Man kennt C. Bernd Sucher als scharfzüngigen Theaterkritiker. Nun hat er ein mutiges Buch über die schwierige Beziehung zu seiner jüdischen Mutter geschrieben. Die hatte als Teenager das KZ überlebt und kannte für ihren Sohn später nur ein Ziel: Er sollte immer und überall der Beste sein.

C. Bernd Sucher im Gespräch mit Gisa Funck | 15.07.2019
Buchcover: C. Bernd Sucher: „Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung“
Konnte es seiner traumatisierten Mutter oft nicht recht machen: der Theaterkritiker C. Bernd Sucher (Foto: Thomas Dashuber, Buchcover: Piper Velag)
Gisa Funck: Lieber Herr Sucher, Sie schreiben im Nachwort Ihres Buches "Mamsi und ich", Sie hätten die Idee dazu eigentlich schon vor zwanzig Jahren gehabt. Warum fiel es Ihnen so lange so schwer, dieses Buch über Ihre Mutter zu schreiben?
Curt Bernd Sucher: Also es war immer klar, dass ich dieses Buch nicht schreiben würde zu Lebzeiten meiner Mutter, das wäre nicht gegangen. Die Genesis dieses Buches ist, dass eine Verlegerin, die kurze Zeit Agentin war, meine Familiengeschichte kannte und mir sagte: Mensch, das sollte man aufschreiben. Und dann merkte ich, dass es einen Grund gab, dass es so ewig gedauert hat, auch jetzt beim Schreiben dieses Buches - das reine Schreiben dauerte etwas länger als ein Jahr. Und das Buch veränderte sich total. Also am Anfang habe ich noch so wenig wie möglich von mir darin verraten. Aber dann merkte ich, dass das alles falsch ist, wenn man so viel nicht verrät. Denn dann passt alles nicht zueinander. Und so wurde dieses Buch am Ende zu einer Offenlegung all meines Seins mit meiner Mutter.
Mit 17 Jahren ins KZ verschleppt
Funck: Ihre Mutter Margot Sucher, geboren am 9. Januar 1925, war Jüdin und eine Holocaust-Überlebende, das ist sehr wichtig zu wissen. Und Ihre Mutter sprach ja kaum über ihre schrecklichen Erfahrungen im Konzentrationslager während ihres Lebens. Wann wurde Ihnen das ganze Ausmaß bewusst, was diese Holocaust-Erfahrung mit Ihrer Mutter gemacht hatte? Beziehungsweise: Wie sehr diese Holocaust-Erfahrung sich auch auf den Erziehungsstil Ihrer Mutter ausgeprägt hat?
Sucher: So richtig bewusst wurde mir das eigentlich erst beim Schreiben dieses Buches. Ich wusste zwar vorher schon, dass meine Mutter sehr streng zu mir war. Und ich wusste, dass mein ganzer Ehrgeiz von ihr gefördert worden ist. Aber beim Aufschreiben merkte ich erst, mit welchen fürchterlichen Mitteln sie das getan hat. Ich nehme ihr das überhaupt nicht übel. Ich liebe sie immer noch. Das Buch ist ja auch eine Liebeserklärung an meine Mutter letztendlich. Aber beim Aufschreiben wurde mir erst klar, was diese Shoa-Erfahrung bei meiner Mutter angerichtet hat. Und dass sie diese Gewalterfahrung quasi an mich weitergegeben hat. Also die Idee dieses Buches ist ja immer, dass meine Mutter mich dorthin haben will, wo sie gestoppt worden ist. Denn zu dem Zeitpunkt, als sie ins KZ kam, war sie 17 und in einem großbürgerlichen Haus aufgewachsen, wurde mit einem Chauffeur zur Schule gefahren und all solche Dinge. Und sie wollte den Sohn, den sie irgendwann einmal haben würde, der sollte mindestens so gut und erfolgreich sein wie ihre Eltern und sie.
Funck: Sie schreiben in Ihrem Buch, Ihre Mutter hätte sich bei Ihrer Geburt in den Kopf gesetzt, dass Sie noch einmal das Leben führen sollten, dass ihr verwehrt geblieben war als Jüdin, die ins KZ verschleppt wurde. Und Sie benennen das wie beim Monopoly-Spielen, also dass sich Ihre Mutter vorgestellt hätte, dass sie mit ihrem Sohn sozusagen nochmal zurück auf "Los!" gesetzt würde. Heißt das, sie hat ihre ungelebten Wünsche in Sie hineinprojiziert als Ihren einzigen Sohn?
"Sie wollte ihre unerreichten Ziele mit mir erreichen!"
Sucher: Meine Mutter wollte die Ziele, die sie nicht hat erreichen können - weil sie auch nicht unbedingt den richtigen Mann dafür geheiratet hatte, nämlich einen Mann, der ihr intellektuell unterlegen war - sie wollte die Ziele, die sie mit diesem Mann nicht erreichen konnte, die wollte sie mit mir erreichen. Also ich sollte sozusagen stellvertretend für sie in der Welt eine Position einnehmen, die sie nicht mehr einnehmen konnte. Das meint "Zurück auf Los!" Also: "Fang an und mach!" Die Vorgabe in meinem Leben war immer: Höher, besser, mehr! Das ist natürlich auch ein jüdisches Problem. Denn, klar: Wie können Juden oder Minderheiten in einer Gesellschaft reüssieren? Doch eigentlich nur über ihren Intellekt und über ihren Charme - ja, das isses eigentlich schon! Und das hat meine Mutter eben gefördert. Sie hat gesagt: Du musst der Klügste werden. Das ist mir vielleicht nicht gelungen, aber ich bin nicht ganz doof geworden. Das habe ich ihr zu verdanken.
Funck: Sie schreiben, Ihre Erziehung glich eigentlich eher einer Dressur. "Scheitern war bei meiner Mutter nicht vorgesehen. Bekam ich in der Schule einen Einser, durfte ich mir ein Schnitzel wünschen oder ein Eis. Bei einem Dreier schämte sie sich und jammerte, dass sie nicht glauben könne, so ein unbegabtes Kind in die Welt gesetzt zu haben." Ich muss sagen, als ich das gelesen habe, fand ich das wirklich hart und ziemlich erschütternd. Warum spielte Ihr Vater, Heinz Sucher, keine große Rolle bei Ihrer Erziehung?
Schläge mit der siebenstriemigen Peitsche
Sucher: Ich sagte ja schon, dass mein Vater meiner Mutter intellektuell unterlegen war. Mein Vater sah auch meinen Lebensweg nicht argwöhnisch, aber doch so, dass er ihn nicht verstand. Er verstand nicht, wieso ein Junge quasi nur noch für die Schule schuftete. Und Musik machte und ins Theater ging und so. Das alles war nicht sein Ding. Er spielte bei meiner Erziehung wirklich keine Rolle. Es sei denn, dass er mir sagte: Pass auf, dass Du kein verweichlichter Junge wirst. Er spielte erst dann eine Rolle, als ich mein Coming Out hatte. Das war ganz schrecklich! Denn da war er zur Stelle sozusagen und hat sich aber - und das finde ich ganz toll von meinem Vater! - er hat sich für sein Tun kurz vor seinem Tod entschuldigt. Denn Sie müssen wissen - und Sie haben es ja auch gelesen: Wenn ich mit einer Fünf nach Hause kam, dann bat meine Mutter meinen Vater, mich mit einer Lederpeitsche, die sieben Riemen hatte, zu schlagen.
Und sie guckte zu! Und das wollte ich natürlich auch erzählen. Was passierte da im KZ? Sie ist ja auch so geschlagen worden. Sie hat es tausendmal gesehen, wie andere geschlagen wurden. Warum musste sie jetzt auch noch zugucken auf Wunsch von sich selbst, wie ihr Sohn geschlagen wird?
Funck: Ihre Mutter hat nur ganz knapp den Holocaust im KZ Belcek überlebt – dank einer jungen Polin. Die hat sich dann auch später noch mal bei ihrer Mutter gemeldet 1986. Und Sie selbst haben diese Polin, die ihre Mutter aus dem KZ gerettet hat, ja auch noch einmal besucht 1988. Was hat dieser Besuch bei Ihnen ausgelöst?
Sucher: Das war eine der wichtigsten Begegnungen in meinem Leben. Und ich glaube, ich habe selten so viel geweint wie bei dieser Begegnung mit dieser Frau. Denn sie konnte ein bisschen Deutsch. Das konnten die Polen zu dieser Zeit noch, weil in den 30er-Jahren viele Polen Deutsch in der Schule gelernt haben. Wie auch immer: Ich traf sie und sie nahm mich in den Arm und sagte als erstes: Du bist mein Sohn, denn ohne mich gäbe es dich nicht! Und dann verbrachten wir bei Tee weinend eine halbe Stunde zusammen. Danach war mir immer klar: Ohne diese Frau gäb’s mich nicht. Wir beide würden jetzt gerade nicht miteinander reden. Alles wäre anders gekommen.
Eine Erziehung wie eine "Dressur" ohne viel Zärtlichkeit
Funck: Sie schreiben, dieser ständige Tadel ihrer Mutter, der wäre Ihr "emotionaler und intellektueller Motor" gewesen. Gleichzeitig war diese Härte ihrer Mutter, diese geradezu preußische Strenge von ihr, war das nicht auch ein Gift für ihre Beziehung zu Ihrer Mutter? Sie schreiben ja auch, es hätte eigentlich nie richtig Körperkontakt zwischen ihnen gegeben, kaum Zärtlichkeit War das nicht auch ein wahnsinniger Mangel, habe ich mich gefragt?
Sucher: Natürlich war das ein Mangel! Also ich erinnere mich wirklich nicht, dass sie mich geherzt und geküsst hätte, sondern sie hat gesagt: Mach! Ich durfte ja auch nie krank sein. Diese Erfahrung KZ, die hat sie auf mich sozusagen übertragen, und darunter litt natürlich auch mein Vater. Denn da gab’s ja auch keine Nähe. Die haben irgendwie zwei Kinder gezeugt, aber das war’s dann auch. Aber ich versuchte, meine Mutter immer für mich in Schutz zu nehmen und zu erklären: Okay, die kann ja gar nicht anders, weil sie hat mit 17, 18, 19 Dinge erlebt, die es unmöglich machen, Nähe als beglückend zu empfinden.
Funck: Das ist mir aufgefallen, dass Sie Ihre Mutter sehr in Schutz nehmen, obwohl sie eigentlich sehr hart zu Ihnen ist. Und Sie schreiben ja auch: Sie hat Sie verletzt, sie hat Sie gepeinigt, sie hat Sie nicht zuletzt verraten bei Ihrem Coming Out mit der Homosexualität, als sie Ihnen eigentlich versprochen hatte, niemandem von Ihrer ersten Liebeserfahrung zu erzählen. Aber dann schickt sie doch wieder Ihren Vater in Ihr Zimmer – und Sie bekamen schon wieder eine Tracht Prügel. Warum haben Sie sich nicht stärker als Kind, als Jugendlicher und später als junger Mann gegen diese Mutter aufgelehnt? Was war die Hemmung dabei?
Sie kam aus "der Hölle": Wie soll man da widersprechen?
Sucher: Die Hemmung war: Kann ich eine Frau, die so tief verletzt worden ist, noch weiter verletzen? Oder noch mal was draufsetzen? Also ich habe mich immer gestoppt, was gegen sie zu machen. Denn Schlimmeres als das, was sie erlebt hatte, kann man nicht erleben. Also wozu muss ich, der als ihr Sohn vergleichsweise glücklich aufgewachsen ist, wieso kann ich mir rausnehmen, diese Frau jetzt noch nochmal zu demütigen?
Funck: Weil sie das KZ überlebt hatte? Weil sie quasi schon die Hölle überlebt hatte?
Sucher: Ja, sie hatte die Hölle. Und warum soll ich jetzt als Sohn, von dem sie ja nichts weiter verlangt – viel verlangt, aber trotzdem – nur verlangt: Pass mal auf, du musst mir zeigen, dass du mindestens so toll bist, wie ich es war oder hätte werden können. Warum muss ich ihr jetzt noch sagen: Pass mal auf: Ich pfeif drauf? Nein, ich wollte diese Zielvorgabe, die meine Mutter gegeben hatte, erreichen, ja.
Funck: Sie waren eigentlich ein exzellenter Schüler, Sie haben ein exzellentes Studium gemacht. Und dann haben Sie einen ganz großen Karriereschritt gemacht, indem Sie 1980 diese Redakteursstelle bei der "Süddeutschen Zeitung" erhalten haben - und Sie sind dann 25 Jahre lang ein einflussreicher Theaterkritiker in Deutschland geworden. Trotzdem reichte das Ihrer Mutter alles nie so ganz. Sie sagte immer: "Ich kann noch nicht so ganz stolz auf dich sein!" Wäre sie überhaupt irgendwann zufrieden gewesen mit Ihnen?
"Sie wäre nie wirklich mit mir zufrieden gewesen."
Sucher: Nein. Ich habe im letzten Jahr vier Bücher bei Droemer geschrieben – "Suchers Welt" – meine Favourites bei Film, Theater und so. Und die Verlegerin sagte bei der Buchpräsentation: Wahnsinn, dass dieser Mann vier Bücher in einem Jahr schreibt! Und ich antwortete ihr darauf: Meine Mutter im Himmel würde jetzt rumtanzen und fragen: Warum nicht fünf?
Funck: Einen Aspekt würde ich gern noch erwähnen in Ihrem Buch, denn ungewöhnlich in Ihrer Familie ist ja auch dieses generationsübergreifende Nebeneinander von zwei verschiedenen Religionen. Also Ihr Großvater war Protestant, hat eine Jüdin geheiratet, ihre Mutter war also streng genommen – schrecklicher Ausdruck! – Halbjüdin. Und Ihre Mutter hat dann später wieder einen Protestanten geheiratet. Es gab in Ihrer Familie also ständig dieses Nebeneinander zwischen protestantisch-christlichem Glauben und jüdischem Glauben. Wie verwirrend war das für Sie als Kind und Heranwachsender?
Nebeneinander von Protestantismus und Judentum
Sucher: Ich wusste ja dann, dass meine Mutter Jüdin war und dass ich qua Geburt Jude bin. Und ich kriegte außerdem raus, dass mein Großvater vor der Hochzeit meiner Eltern darauf bestanden hatte, dass die Kinder, die meine Mutter gebären würde, auf keinen Fall jüdisch erzogen werden sollten.
Funck: Der protestantische Großvater?
Sucher: Ja, der protestantische. Und das führte dazu, dass ich, der ohnehin schon Ausgeschlossene mit meinem schulischen Dasein wegen dieses "Ich will besser-besser-besser werden" jetzt auch noch entdeckte: Du bist ja auch Jude. Das war praktisch nochmal eine Verdopplung meines Ausgegrenzt-Seins.
Funck: Dieses Buch hat ja den Untertitel: "Geschichte einer Befreiung". War Ihre persönliche Hinwendung zum Judentum, das Ihre Mutter ja Zeit ihres Lebens verschwiegen hat und nur heimlich gelebt hat, war das der erste Schritt einer Befreiung von Ihrer Mutter?
"Sie schämte sich für die Wahl ihres Mannes"
Sucher: Ja, das war sicher der Anfang einer Revolte. Irgendwann wusste ich ja, dass meine Mutter wahrscheinlich gezwungen wurde, ihre Kinder protestantisch zu erziehen. Und ich glaube, vieles bei ihr entsprang einer tiefen Scham. Schauen Sie, sie hatte das KZ überlebt, ging zurück nach Deutschland, heiratete einen Protestanten, dessen Vater Kirchenrat war und dem Nationalsozialismus zumindest nicht fern stand. Also, das waren ja alles Tabubrüche, wenn Sie so wollen. Und natürlich schämte sie sich für ihr Tun. Und die einzige Erklärung, die sie für sich wahrscheinlich hatte, war: Sie liebte diesen Mann, meinen Vater. Aber letztendlich schämte sie sich. Sie schämte sich für das, was sie getan hat. Und sie schämte sich wahrscheinlich auch für die Wahl dieses Mannes.
Funck: Heißt das, Sie haben Ihrer Mutter alles verziehen, was sie Ihnen angetan hat?
Sucher: Aus tiefstem Herzen: Ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassung wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
C. Bernd Sucher: "Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung"
Piper Verlag, München. 256 Seiten, 15 Euro