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Care: Wir fliegen jetzt gezielt Experten ein

Die Zivilgesellschaft auf den Philippinen sei sehr gut organisiert, sagt Care-Sprecherin Sabine Wilke. Dennoch seien die Taifun-Opfer auf Hilfsgüter angewiesen. Darüber hinaus schicke ihr Hilfswerk auch Experten aus den Bereichen Logistik, Telekommunikation oder Unterkünfte in das Katastrophengebiet.

Sabine Wilke im Gespräch mit Dirk Müller | 12.11.2013
    Dirk Müller: Hunderttausende Menschen warten auf Hilfe. Zahlreiche Rettungsmannschaften scheitern jedoch daran, irgendwo in diesen Trümmerwüsten mit ihren Fahrzeugen weiterzukommen, mit ihren Fahrzeugen durchzukommen. Straßen, Flughäfen und Brücken sind zerstört. Lebensmittel, Trinkwasser, Medikamente und auch Unterkünfte, es fehlt an allem. Neue Ausläufer eines weiteren Sturmtiefs haben die Region inzwischen erreicht.

    Wir haben es gehört in den vielen Berichten und Analysen, Korrespondentengesprächen: eine Herkules-Aufgabe für alle, die helfen wollen, die mit anpacken wollen in der Krisenregion. Auch für Sabine Wilke von der Hilfsorganisation Care Deutschland. Guten Tag!

    Sabine Wilke: Schönen guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Frau Wilke, wie weit sind Ihre Mitarbeiter vor Ort gekommen?

    Wilke: Ich hatte kurz vor unserem Gespräch zum ersten Mal seit gestern Abend wieder telefonischen Kontakt zu den Teams vor Ort. Die sind in Süd-Leyte, das ist die Insel, wo auch die Stadt Tacloban ist, die am stärksten betroffen war. Man muss ganz ehrlich sagen: Im Moment ist die Kommunikation extrem schwierig. Das geht im Grunde nur über Satellitentelefon. Und auch die Wege sind mehr oder weniger unpassierbar. Die Kollegen berichteten, dass sie auf einer Strecke dreimal den Reifen wechseln mussten, und das zeigt schon, was das für unglaubliche Herausforderungen sind.

    Müller: Was haben Sie noch erfahren?

    Wilke: Die Kollegen sagten, sie sind in Tacloban eingefahren und sind alle tatsächlich in Tränen ausgebrochen. Das muss man einfach mal so deutlich sagen. Da liegen nach wie vor noch die Leichen auf den Straßen, der Verwesungsgeruch liegt in der Luft, das ist selbst für den erfahrensten Nothelfer – und Care ist seit 1949 auf den Philippinen – wirklich schwer zu ertragen.

    Die Menschen stehen stundenlang Schlange, um Nahrungsmittel, Hilfsgüter zu bekommen. Ihre Füße sind im Wasser, in Pfützen, denn – Tag vier nach dem Taifun (MP3-Audio) Ihre Korrespondentin sagte es gerade – der Regen hat eingesetzt. Und auch wenn es ein tropisches Gebiet ist und sehr, sehr warm, führt so ein Dauerregen natürlich dazu, dass sich da auch Krankheiten sehr, sehr schnell ausbreiten können, wenn die Menschen über einen längeren Zeitraum nass sind und ihre Kleidung nicht trocknen kann. Das macht uns im Moment auch große Sorgen.

    Müller: Wie schützen sich Ihre Mitarbeiter?

    Wilke: So gut es geht. Die haben gestern Nacht in einem Evakuierungszentrum übernachtet und haben teilweise auch im Auto kurz geschlafen. Geschützt sind wir natürlich auch dadurch, dass wir vorsorgen mit Impfungen und so weiter. Aber das ist jetzt für alle Hilfsorganisationen, aber vor allen Dingen auch für die lokale Bevölkerung vor Ort natürlich eine unglaubliche Zerreißprobe und jede Hand ist gebraucht.

    Und ich denke, was auch noch mal wichtig ist zu betonen: Die erste Hilfe, das haben tatsächlich die Gemeinden selber geleistet. Die Philippinen sind sehr, sehr gut organisiert zivilgesellschaftlich. Care arbeitet mit lokalen Partnern und auch die Gemeinden sind mit Freiwilligen schon seit vielen Jahren organisiert, und die Philippiner kennen natürlich auch Wirbelstürme und Erdbeben. Sie sind häufig von Naturkatastrophen betroffen und die erste Hilfe funktioniert dann in den Gemeinden selbst. Das Problem ist nur, dass da natürlich die Hilfsgüter jetzt inzwischen aufgebraucht sind und dass der Zugang von außen zu diesen Gemeinden jetzt sehr, sehr schwierig ist.

    Müller: Wie groß ist Ihr Team auf der Insel Leyte?

    Wilke: Wir haben mit Partnerorganisationen ungefähr 30 Leute, aber wie gesagt freiwillige Helfer dann in den Gemeinden, die mit anpacken und die mit uns zusammenarbeiten. Wir haben jetzt Experten noch mal geschickt aus unserem Care-Nothilfeteam für bestimmte Bereiche, zum Beispiel die Satellitenkommunikation, aber auch Logistik, weil die jetzt natürlich gebraucht werden, um das System in Gang zu bringen. Wir koordinieren mit den Vereinten Nationen, mit den philippinischen Behörden und allen, die vor Ort tätig sind, und bemühen uns, so schnell wie möglich die Nothilfe in Gang zu bringen.

    Müller: Haben Sie Informationen darüber bekommen, was am dringendsten gebraucht wird? Wir haben zwar in den Nachrichten gemeldet und auch in den Agenturen, in den Korrespondentenagenturen nachlesen können, es fehlt an allem. Aber was heißt das konkret?

    Wilke: Konkret heißt das – das berichtete ja auch die Kollegin gerade am Telefon -, dass natürlich Nahrung knapp wird, aber auch sauberes Trinkwasser, und es sind tatsächlich einfach von vielen Unterkünften die Dächer nicht mehr intakt. Das heißt, jetzt mit dem Regen bedeutet das, dass die Menschen keine sichere Unterkunft haben, mehr oder weniger im Freien übernachten müssen, und man kann sich vorstellen, was das über mehrere Tage oder sogar Wochen bedeutet. Wasser, Nahrung, Unterkunft, medizinische Versorgung, alles, was man zum unmittelbaren Überleben gerade jetzt braucht, das ist am dringendsten notwendig.

    Sie sagte auch, dass viele Menschen kommen, um Ihnen so einen Eindruck zu verleihen, wie verzweifelt die Situation ist und auch wie schwierig die Kommunikationswege sind. Sie hat ein Satellitentelefon, unsere Kollegin vor Ort, und wird von ganz, ganz vielen Menschen gefragt, ob sie das benutzen können, um ihre Familien zu informieren. Die Kommunikationswege sind im Moment so schwierig, dass da im Grunde jeder froh ist, wenn er mal mit der Außenwelt Kontakt hat.

    Müller: Ihre Hilfsorganisation, Sabine Wilke, Care, Care Deutschland, hat ja sehr, sehr viel Erfahrung. Sie haben es eben noch mal gesagt: über Jahrzehnte schon mit weltweiten Einsätzen in Krisenregionen. Nun wollen wir nicht darüber reden, inwieweit das jetzt wieder eine andere oder neue Dimension ist. Sie waren ja auch damals beim Tsunami 2004 engagiert. Aber wenn wir noch einmal auf diesen Mikrokosmos Team blicken – Sie sagen, 30 Mitarbeiter, Kollegen, freiwillige Helfer und so weiter - wer muss da alles dabei sein? Wie spezifisch sind die Leute ausgebildet?

    Wilke: Man braucht natürlich zum einen Manpower für Verteilung von Nahrungsmitteln und von anderen Hilfsgütern. Das sind aber dann, wie ich eben sagte, vor allen Dingen lokale Menschen, die da mit anpacken.

    Und dann braucht man ganz dezidiert Experten für verschiedene Bereiche: Logistik zum Beispiel. Wir haben einen Kollegen, der jetzt versucht, mit den Vereinten Nationen und mit allen anderen vor Ort zu gucken, dass die Kette in Gang kommt.

    Telekommunikation, also Satellitensysteme, zu schauen, dass da die Systeme in Gang kommen. Wir haben auch einen Kollegen, der für Obdach und Unterkünfte ein Experte ist. Der guckt, was sind die lokalen Bedingungen, wie ist der Untergrund, welche Art von Unterkunft – das ist natürlich von Land zu Land auch unterschiedlich – können die Menschen am besten brauchen, was kostet am wenigsten, wovon können wir schnell etwas bekommen, sind das Plastikplanen, sind das Zelte, sind das vielleicht auch andere Konstruktionen. Solche gezielte Expertise fliegen wir dann ein.

    Care – Sie sagten es gerade – ist seit 1945 in der Nothilfe tätig und humanitäre Hilfe hat sich in den letzten 10, 20 Jahren noch immer weiter professionalisiert. Das heißt, wir stimmen uns dann auch mit den anderen Hilfsorganisationen ab und schließen Lücken beziehungsweise bauen dann in unserer Expertise darauf auf, was wir in vergangenen Katastrophen schon gelernt haben.

    Müller: Ist das denn jetzt schon klar, wer diese Oberaufsicht übernimmt, wer der Supervisor quasi ist, der das alles koordiniert und vor allen Dingen darauf achtet, dass nicht zu viele Stränge parallel verlaufen, die sich vielleicht dann auch gegenseitig behindern oder vielleicht sogar überflüssig sind?

    Wilke: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, und da haben wir natürlich auch gerade aus dem Tsunami sehr, sehr viele wichtige Lektionen gezogen. Grundsätzlich ist natürlich die erste Bedingung, dass die Regierung international um Hilfe bittet. Das hat die philippinische Regierung sehr, sehr schnell gemacht. Der Notstand ist ja auch ausgerufen. Und dann kommt ein System in Gang, das von den Vereinten Nationen koordiniert wird.

    Da sind wir in verschiedenen thematischen Bereichen, in sogenannten Clustern organisiert. Das heißt, die Hilfsorganisationen koordinieren sich dann nicht nach ihrer Nationalität oder nach anderen Punkten, sondern nach dem Sektor, in dem sie tätig sind – sei das Unterkünfte, medizinische Versorgung, die Bereitstellung von Wasser oder aber auch die gezielte Betreuung zum Beispiel von schwangeren Frauen und stillenden Müttern.

    In diesen einzelnen Clustern findet natürlich im Moment sehr, sehr viel Kommunikation statt und Absprache, damit hier sehr schnell die Hilfe in Gang kommt und damit auch keine Doppelungen stattfinden und irgendwo anders dann die Hilfe nicht ankommt.

    Müller: Und bei den Vereinten Nationen fühlen Sie sich effektiv und produktiv aufgehoben?

    Wilke: Ja. Wir sind als Nicht-Regierungsorganisation natürlich da mit eingebunden als internationale. Das sind auch viele andere, nicht nur Care. Wir sind aber auch mit den Vereinten Nationen immer im Gespräch, auch nach solchen Katastrophen, um zu gucken, wie man das optimieren kann. Care hat zum Beispiel gerade ein großes Projekt, um das Cluster im Bereich Wasser und sanitäre Versorgung noch zu optimieren und da mehr Expertise reinzubringen, und unser Experte in dem Bereich ist jetzt im Auftrag der UN dort hingeflogen und koordiniert dort.

    Das ist ein ständiger Lernprozess, in dem wir uns alle gemeinsam befinden, aber natürlich muss man auch sagen, jede Katastrophe ist erst mal chaotisch. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein, die Hilfe muss schnell ankommen, aber da arbeiten im Moment eine ganze Reihe von Organisationen, aber auch von Menschen rund um die Uhr daran, dass das so schnell wie möglich jetzt passiert.

    Müller: Zum Schluss noch die Frage: Was macht das Spendenaufkommen?

    Wilke: Wir sind sehr, sehr froh und dankbar, dass bereits am Wochenende die ersten Spenden bei uns eingegangen sind. Wir bitten natürlich weiterhin auch in den nächsten Tagen sehr offensiv um Spenden, weil die Erfahrung zeigt, auch, dass das natürlich nach einiger Zeit dann wieder ein bisschen in den Hintergrund gerät.

    Ganz wichtig ist, dass wir die Gelder dann auch so verwenden, dass wir beim Wiederaufbau noch was zur Verfügung haben, damit die Menschen sich für die nächste Katastrophe besser schützen können. Katastrophenvorsorge ist hier ein sehr wichtiges Stichwort. Da kann man immer nur weiter an die deutsche Bevölkerung appellieren, gerade jetzt auch in der Vorweihnachtszeit dann noch mal so großzügig zu sein, wie sie es glücklicherweise in der Vergangenheit immer waren, und Care ist da wirklich sehr dankbar für und die Hilfe kommt bei allen Organisationen, die vor Ort schon lange tätig sind und die auch zertifiziert sind und geprüft sind, garantiert an.

    Müller: Sabine Wilke von Care Deutschland bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch und Ihnen alles Gute.

    Wilke: Vielen Dank.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.