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Caritas-Helfer über Kurden-Region
"Eine Mischung aus Wut, Empörung und Entsetzen"

Der Rückzug der US-Amerikaner werde von vielen Kurden als Verrat empfunden, sagte der Journalist und Caritas-Helfer Jan Jessen im Dlf. Es herrsche absolutes Unverständnis, dass der Westen die Kurden im Stich lasse. Zugleich spiele sich vor Ort eine Flüchtlingskrise katastrophalen Ausmaßes ab.

Jan Jessen im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 26.10.2019
Syrische Araber und kurdische Zivilisten auf der Flucht vor Bombenangriffen durch die Türke in der syrischen Stadt Ras al-Ain, 9.10.2019
Syrische Araber und kurdische Zivilisten auf der Flucht vor Bombenangriffen durch die Türke in der syrischen Stadt Ras al-Ain vor knapp zwei Wochen (AFP / Delil Souleiman )
Jürgen Zurheide: Wechseln wir vom Irak nur ein wenig weiter nordwestlich ins Kurdengebiet. Wir alle haben mitbekommen, was in den zurückliegenden Tagen dort passiert ist. Die Türken sind einmarschiert, riesige Flüchtlingsbewegungen sind dort zu verzeichnen, und die humanitäre Lage der Menschen ist schwierig. Und wenn ich das so sage, ist das noch einigermaßen untertrieben. Über dieses Thema wollen wir reden, und dazu begrüße ich am Telefon den Kollegen Jan Jessen, Politikredakteur bei der "NRZ" und gleichzeitig Mitglied der Caritas-Flüchtlingshilfe. Herr Jessen, Sie waren kürzlich in Dohuk, das ist im Nordwesten des Iraks, und haben dort die Situation beobachten können. Wann waren Sie da und was haben Sie beobachtet?
Jan Jessen: Wir waren in der vergangenen Woche wieder unterwegs. Wir arbeiten als Caritas-Flüchtlingshilfe schon seit geraumer Zeit im Norden des Iraks, konkret in der kurdischen Autonomieregion. Und wie gesagt, wir waren jetzt in der vergangenen Woche wieder da, eigentlich um Projekte zu betreuen, die wir da schon seit Längerem haben, aber jetzt aktuell mussten wir da natürlich Nothilfe leisten. Man kann es nicht anders sagen, in der Region herrscht momentan eine Mischung aus Wut, Empörung und Entsetzen. Das Verhalten insbesondere der Amerikaner wird als Verrat an denjenigen empfunden, die in den vergangenen Jahren im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat einen hohen Blutzoll bezahlt haben. Dass jetzt ausgerechnet mit der Türkei ein NATO-Partner einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die in Nordsyrien lebenden Kurdinnen und Kurden und ihre Verbündeten durchführen kann, ohne dass es bislang nennenswerte Konsequenzen gibt, sorgt für völliges Unverständnis.
Zugleich spielt sich erneut eine Flüchtlingskrise katastrophalen Ausmaßes ab. Mittlerweile sollen auf syrischer Seite zwischen 200.000 und 400.000 – nach unterschiedlichen Schätzungen – Menschen auf der Flucht sein. Viele von denen wollen in diese irakisch-kurdische Autonomieregion, dort leben allerdings aktuell noch etwa 1,1 Millionen Flüchtlinge aus der Zeit des IS-Terrors. Man muss sich, um das mal einschätzen zu können, vorstellen, dass diese Autonomieregion in etwa so groß ist wie Nordrhein-Westfalen, ungefähr fünf Millionen Einwohner ursprünglich, wie gesagt, jetzt noch 1,1 Millionen Flüchtlinge dazu. Momentan stellt sich die Autonomieregierung auf eine neue Flüchtlingswelle ein. Bis gestern sind in Irakisch-Kurdistan rund 11.000 Flüchtlinge eingetroffen aus Syrien, die in reaktivierten Camps notdürftig versorgt werden, und wir hatten auch die Gelegenheit, mit dem kurdischen Innenminister Rebar Ahmed. zu sprechen, und er erzählte uns, dass er sich dort auf bis zu 250.000 zusätzliche Flüchtlinge einstellt. Also die Situation ist ziemlich schwierig.
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Zurheide: Jetzt haben Sie gerade gesagt, da gibt es so etwas wie Camps, die man reaktivieren kann, wie müssen wir uns das vorstellen?
Jessen: Das sind Camps, die in der Nähe von Mossul sind, also dieser Millionenstadt, die ehemals eine der Hauptstädte des sogenannten Islamischen Staates waren, die 2016/2017 ja massiv umkämpft waren. Während dieser Kämpfe sind Hunderttausende geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen, auch die wiederum in die kurdische Autonomieregion. Diese Camps waren bis Ende 2017 mit Flüchtlingen aus Mossul belegt, wurden dann geräumt, als die Leute wieder zurückgehen konnten, und die werden jetzt sozusagen wieder auf Vordermann gebracht. Das sind im Prinzip, als wir jetzt da waren in einem dieser Camps, Bodenplatten, Betonbodenplatten, über die jetzt Plastikplanen als Zeltersatz gebaut wurden, und da werden jetzt eben die Flüchtlinge aus Syrien untergebracht.
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Zurheide: Jetzt haben Sie gerade gesagt, es gibt da eine Autonomieregierung, es gibt einen Innenminister, das heißt, die staatlichen Strukturen oder die Strukturen funktionieren?
Jessen: Ja, absolut. Die kurdische Autonomieregion im Norden des Irak war eigentlich immer ein Ort der Stabilität, selbst während der Zeit des IS haben die sich da gehalten, diese Strukturen, und das funktioniert einigermaßen gut. Die haben jetzt mittlerweile die vierte Flüchtlingswelle, die sie innerhalb kürzester Zeit, also seit 2012 erleben, sind da auch sehr, sehr professionell im Umgang mit dieser Flüchtlingswelle, brauchen aber eben dringend Hilfe der internationalen Gemeinschaft, um das alles schaffen zu können.
Zurheide: Da reden wir gleich noch drüber. Ich will noch mal fragen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist - die Menschen, mit denen Sie reden konnten oder auch jetzt, wenn Sie weitere Kontakte haben, Sie haben es schon angesprochen, politisch fühlt man sich natürlich verraten. Wie geht man damit um?
Jessen: Wie gesagt, es ist eine Mischung aus Wut, Empörung, Entsetzen, die Leute verstehen es einfach nicht. Es gab zwischen Irakisch-Kurdistan und den kurdischen Gebieten in Syrien, ja, ich würde nicht sagen Spannungen, aber es gab immer ideologische Unterschiede bei denjenigen, die da das Sagen haben. Momentan erfährt man eine große, große Solidarität, es gab auch Demonstrationen gegen diesen Militäreinsatz der Türkei gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Und es herrscht einfach komplettes Unverständnis, dass der Westen die syrischen Kurdinnen und Kurden und ihre Verbündeten dermaßen im Stich lässt und alleine lässt und dass jetzt sozusagen da jetzt auch ethnische Säuberungen im Grunde genommen vonstattengehen, gegen die der Westen nichts tut. Und das wird eben, wie gesagt, als Verrat empfunden, die Leute sind empört und entsetzt.
"Der IS ist immer eine Gefahr"
Zurheide: Wie groß ist die Sorge, dass der IS wieder erstarken könnte oder sagen die, na ja, mit den Türken und was die da veranstalten haben wir schon genug Probleme.
Jessen: Also der IS ist immer eine Gefahr. Das Narrativ, was bei uns ja erzählt ist, der IS sei besiegt, ist völliger Unfug. Subkutan ist er jetzt immer noch vorhanden, in erheblicher Stärke. In Städten wie beispielsweise Kirkuk ebenfalls im Norden des Irak heißt es, der IS beherrscht dort die Nacht. Die bauen also immer wieder Fake-Checkpoints auf, wo Menschen entführt werden, es gibt immer wieder Anschläge, und natürlich hat man die große Befürchtung, dass jetzt durch diesen türkischen Vormarsch der IS an Stärke gewinnen wird und damit eben auch eine Bedrohung für die kurdische Autonomieregion im Irak darstellen kann.
Zurheide: Jetzt haben Sie gerade schon angesprochen, humanitäre Hilfe ist dringend nötig. Was können Sie zum Beispiel, als Flüchtlingshilfe der Caritas, was können Sie tun im Moment oder was tun Sie?
Jessen: Was wir getan haben, ist ganz simple Nothilfe: Lebensmittelpakete in die Camps reinbringen, damit die Leute erst mal sozusagen erstversorgt sind. Was dringend gebraucht wird, sind auch Decken, Medikamente und derlei Dinge, also reine einfache Erstversorgung, Notversorgung, damit die Leute vernünftig, was heißt vernünftig, aber einigermaßen leben können.
"Die Lage in Syrien ist äußerst prekär"
Zurheide: Was brauchten Sie an Hilfe oder wie müsste internationale Hilfe koordiniert werden? Wird die koordiniert irgendwo?
Jessen: Im Moment ist die UNO vor allem vor Ort, UNHCR und die anderen UNO-Organisationen, World Food Programme et cetera, die sind eigentlich ziemlich gut, was diese Nothilfe, was diese Ersthilfe angeht. Ein Problem ist, dass sich in den vergangenen Monaten, Jahren, also seit der IS territorial besiegt worden ist, viele, viele Hilfsorganisationen aus der Region herausgezogen haben, weil schlicht und ergreifend der mediale Fokus eben nicht mehr auf der Region war, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite sind aus Syrien sehr viele NGOs rausgegangen beziehungsweise haben ihre ausländischen Helfer herausgezogen, seit dem Agreement zwischen den Kurden und der syrischen Regierung, was ihnen ja aufgezwungen wurde durch den türkischen Einmarsch. Seitdem ist die syrische Armee im Norden wesentlich präsenter in Syrien, und jeder, der kein Visum hat – was die allermeisten ausländischen Helferinnen und Helfer nicht haben –, läuft Gefahr, verhaftet zu werden und ins Gefängnis zu kommen wegen illegalen Grenzübertrittes. Deswegen haben die schon vor zehn Tagen viele, viele Helferinnen und Helfer herausgezogen, das heißt, gerade in Syrien ist die Lage da äußerst prekär.
Zurheide: Gerade wenn Sie Syrien ansprechen, wie groß ist die Sorge, dass diese erzwungene Zusammenarbeit irgendwann auch wieder in neuen Konflikten enden wird, wie groß ist das Vertrauen in Assad?
Jessen: Es gibt kein Vertrauen in Assad. Diese Vereinbarung, die da jetzt getroffen worden ist, ist reinem Pragmatismus geschuldet. Da geht es um die Frage, welchen Feind man als schlimmer erachtet. Das sind momentan die Türken beziehungsweise die türkische Armee, insbesondere ihre islamistischen Verbündeten, die Milizen, mit denen sie diesen Angriffskrieg durchführen, vor denen herrscht eine riesengroße Angst. Die werden auch nicht anders eingeschätzt als beispielsweise der sogenannte Islamische Staat. Das Vertrauen in Assad ist nicht da, aber es bleibt ihnen schlicht und ergreifend nichts anderes übrig. Es gab jetzt in den vergangenen Jahren im Norden Syriens im Grunde genommen so eine Art Stillhalteabkommen zwischen den kurdisch dominierten Streitkräften, demokratischen Streitkräften Syriens und der syrischen Armee. Es gab immer eine Präsenz der Syrer auch oben im Norden, punktuell aber wie gesagt, Vertrauen ist da nicht da. Man muss jetzt natürlich damit rechnen, dass all das, was da in den vergangenen Jahren aufgebaut wurde im Norden Syriens, also eine gewisse Autonomie auch der Kurdinnen und Kurden und ihrer Verbündeten, dass das der Vergangenheit angehört.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.