Samstag, 20. April 2024

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Carolin Emcke: "Journal"
Tagebuch in Zeiten der Pandemie

Jede Pandemie bringt auch Chroniken hervor: Zeitzeugen schreiben das auf, was gerade passiert und wie sie es erleben. Jetzt ist das Corona-Tagebuch der Friedenspreisträgerin Carolin Emcke erschienen. Es zeichnet sich vor allem durch die globale Sicht auf das Geschehen aus.

Tanya Lieske im Gespräch mit Miriam Zeh | 11.03.2021
Ein Portrait der Autorin Carolin Emcke und das Cover von „Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie“
2016 wurde Carolin Emcke mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im ersten Lockdown schrieb die Publizistin ein Corona-Tagebuch. (Buchcover Fischer Verlag / Portrait Carolin Emcke Copyright: Andreas Labes)
Während des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr schrieb Carolin Emcke für die Süddeutsche Zeitung zwei Monate lang, vom 23. März bis zum 29. Mai 2020 an jedem Wochentag einen kurzen Text über ihren Alltag im Ausnahmezustand. Die "politisch-persönlichen Notizen" - im Stil mal essayistisch, mal aphoristisch - sind jetzt in Buchform erschienen. Darin beschreibt die preisgekrönte Publizistin eigene Erfahrungen als Teil eines kollektiven Ganzen, wobei das Ganze weit über Deutschland hinausreicht. Emcke deutet die Pandemie im Sinn eines ethischen Weltbürgertums als globales Geschehen.

Ethisches Weltbürgertum

So erkennt Emcke sehr früh, dass es die ärmsten Regionen der Welt sein werden, die an den Folgen des Virus besonders schwer zu tragen haben werden. Sie unterfüttert diese Erkenntnis mit persönlichen Nachrichten, die sie aus aller Welt erreichen. von Freunden aus Kolumbien oder dem Gazastreifen. Die globale Vernetzung der ehemaligen Kriegsreporterin kommt in diesen Kolumnen genau so zum Tragen wie ihre große Hoffnung, dass die Pandemie dank überstaatlicher Kooperationen eingedämmt werden könnte, dass es also nicht zu einer nationalstaatlichen Regression kommen werde.
"Ich suche die Statistiken nach niedrigen Infektions- und Todeszahlen ab und hoffe, die erfolgreichsten Länder mögen solche sein, die nicht das Kriegsrecht ausgerufen und nicht den Rechtsstaat ausgesetzt haben, die die Bürgerrechte so weit wie möglich geschützt und die Zivilgesellschaft als mündige respektiert haben."

Integrität der Chronistin

Stets überprüft die Chronistin ihre eigene Integrität, ihre Rolle im epochalen Ereignis, dem sie beiwohnt: "Wir werden später wissen, wie wir uns geirrt haben. Ein Journal wie dieses wird auch ein Journal der Fehleinschätzungen sein."
Einige Einblicke in ihr Privatleben gibt Carolin Emcke auch. Sie beschreibt insbesondere die Verlangsamung des Alltags und den erzwungenen Rückzug in eine häusliche Zweisamkeit. Im Mai 2020 beendet Carolin Emcke ihre täglichen Notzen. Die Pandemie dauert fort, die schleichende Gewöhnung an den Ausnahmezustand deutet sich schon an. Das unterscheidet diese Kolumnen von Chroniken aus früheren Jahrhunderten. Dennoch kann man wiederkehrende Narrative finden. So stehen auch bei Emcke nicht mehr stattfindende Begräbnisrituale für eine Bedrohung der Zivilgesellschaft.
Carolin Emcke: "Journal"
Tagebuch in Zeiten der Pandemie
S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main
268 Seiten, 21 Euro