Freitag, 10. Mai 2024

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CDU-Außenpolitiker Röttgen
Europa in Syrien "ohnmächtig" und "machtlos"

"Europa spielt in diesem Konflikt keine Rolle" - laut CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen ist das die "beschämende" und "bittere" Erkenntnis nach sieben Jahren Krieg in Syrien. Er forderte im Dlf eine gemeinsame europäische Außenpolitik für die gesamte Region.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Dirk Müller | 06.09.2018
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen.
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Das "Versagen des Westens" habe begonnen, als der damalige US-Präsident Barack Obama im Jahr 2013 auf einen Giftgaseinsatz nicht wie angekündigt militärisch reagiert hatte, meint Röttgen. Damit habe der Westen das Signal gegeben, dass der Iran, Russland sowie das syrische Regime "freies Feld" hätten.
    Das mangelnde europäische Engagement in Syrien nannte Röttgen beschämend - gerade weil Europa von den Folgen des Krieges viel stärker betroffen sei als etwa die USA. Es sei jedoch nie zu spät, anzufangen. Europa sei in der Rolle eines "diplomatischen Bettlers ohne Machtinstrument".
    Röttgen sagte weiterhin, er glaube nicht, dass man Russland davon überzeugen könne, von einem militärischen Einsatz an der Seite Assads bei der Rückeroberung Idlibs Abstand zu nehmen. Es gehe in Syrien nicht um Diplomatie, sondern um harte Machtpolitik.
    Europa müsse nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten Region viel stärker präsent sein, etwa im Irak. Die europäischen Staaten und auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini müssten sich permanent mit dem Thema auseinandersetzen.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Millionen auf der Flucht, hunderttausende Tote, gescheiterte Friedensbemühungen – seit mehr als sieben Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien, und er ist immer noch nicht zu Ende. Die Provinz Idlib ist noch in den Händen der Rebellen, in den Händen der Gegner von Baschar al-Assad. Assad will Idlib zurückerobern, aus den Händen der Aufständischen befreien, und das um jeden Preis, wie aus Damaskus zu hören ist, mit der militärischen Unterstützung von Wladimir Putin, massiver Angriffe aus der Luft. Es geht um mehr als drei Millionen Menschen in Idlib und der Umgebung, und davon ist die Hälfte ohnehin schon vor dem Krieg in Syrien geflüchtet. – Am Telefon ist nun der CDU-Politiker Norbert Röttgen. Er ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Guten Morgen.
    Norbert Röttgen: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Röttgen, wer kann verhindern, dass Russland wieder beginnt zu bomben?
    Röttgen: Russland kann das verhindern und an Russland hängt es. Wenn Russland als Kriegspartner Assads ausfällt, dann wird das nicht stattfinden. Aber es gibt bislang kein Anzeichen, dass Russland davon absieht, zumal Russland ja schon mit den ersten Bombardierungen begonnen hat.
    "Wir sind eine ohnmächtige Region"
    Müller: Keinerlei Drohmöglichkeiten, keinerlei Einflussmöglichkeiten des Westens?
    Röttgen: Das muss man leider so sagen. Diese Ohnmacht des Westens, man kann auch sagen dieses Versagen des Westens über den Zeitraum von sieben Jahren des Krieges, muss man feststellen, beschämt und mit Bitterkeit. Das hat begonnen unter Präsident Obama. Als Obama damals bei dem Giftgas-Einsatz Assads seine angekündigte, für diesen Fall angekündigte militärische Aktion unterlassen hat, hat er das Signal gegeben, hat der Westen, die USA das Signal gegeben, dass Russland, Iran und Assad militärisch freies Feld haben. Das heißt, wir können hier sehen, was es bedeutet, wenn die USA sich zurückziehen. Dann sind andere dort, um das Vakuum zu füllen.
    Und man muss zweitens sagen: Es ist ja nicht die Nachbarschaft der USA, sondern es ist die Nachbarschaft Europas. Europa spielt in diesem ganzen Konflikt, in all diesen Tragödien und Dramen und dem Blutvergießen, das dort stattfindet, in der Region selber keine Rolle. Das ist noch beschämender. Wir nehmen zwar Flüchtlinge auf, haben Flüchtlinge aufgenommen. Das heißt, zu uns kommen die Folgen, die Geflüchteten. Aber wir sind eine ohnmächtige Region. Das ist ganz bitter. Die Akteure dort heißen Russland vor allem, Iran und Assad und ein bisschen Türkei.
    "Testfrage dafür, ob es europäische Außenpolitik gibt"
    Müller: Wir reden immer über Europa. Wir reden über Außenpolitik, über Sicherheitspolitik, über die Außenbeauftragte, über Koordination von Außen- und Sicherheitspolitik, auch über Militärpolitik. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es gar kein Europa?
    Röttgen: An dieser Stelle nicht. Es ist ein bitterer, aber gleichwohl nach meiner Einschätzung realistischer Befund. Dieser Krieg – Sie haben es eben selber gesagt – dauert seit ungefähr sieben Jahren. Wir haben die Katastrophen gesehen. Und es hat von europäischer Seite im Grunde nichts gegeben in dieser Reaktion.
    Müller: Gibt es Deutschland?
    Röttgen: Das gilt auch für Deutschland. Das gilt für Deutschland, das gilt für Frankreich, es gilt für die EU, es gilt für die Außenbeauftragte. Sie haben auch völlig recht: Das ist die Testfrage dafür, ob es so etwas wie europäische Außenpolitik gibt oder nicht, weil wir von keiner anderen Region so betroffen sind wie von dieser Region. Die Flüchtlingskrise hat die Stabilität unserer Gesellschaften in ganz Europa erschüttert als Dauerphänomen, und trotzdem fangen wir nicht an, uns um die Ursachen zu kümmern. Darum bleibt es aber natürlich das, was notwendig ist. Es ist nie zu spät anzufangen, aber im Moment können wir nur unsere Machtlosigkeit angesichts eines sich abzeichnenden humanitären Dramas feststellen – ganz bitter.
    Müller: Machtlosigkeit, sagen Sie. Derjenige, der nichts macht, darf der überhaupt Ansprüche stellen?
    Röttgen: Wir stellen ja auch keine Ansprüche.
    "Wir müssen am besten immer mit den USA zusammenwirken"
    Müller: Aber Sie kritisieren die amerikanische Regierung.
    Röttgen: Ja! Man darf natürlich schon historisch analysieren.
    Müller: Aber Sie wollen, dass die Amerikaner das Problem lösen?
    Röttgen: Wir sind sowieso weit davon entfernt, in einer Weise außenpolitisch unter Einschluss der militärischen Komponente präsent und aktiv zu sein, wie das die USA ist. Daraus folgt übrigens auch, dass auch der Mittlere Osten ein Beispiel dafür ist, dass die USA aus europäischer Sicht nicht ersetzbar sind. Trotz Trump sind die USA durch Europa auf absehbare Zeit nicht ersetzbar. Das heißt, wir müssen, wenn wir wirksam werden wollen, am besten immer mit den USA zusammenwirken. Wenn sich die USA zurückziehen, kann es aber – das lernen wir – nicht heißen, dass wir bei unserer Null-Position bleiben. Wir sind ja jetzt auf dem Tiefpunkt, auf dem Tiefpunkt eines diplomatischen Bettlers, ohne irgendein Machtinstrument, und bitten Herrn Putin, dass er von dem, was er machtpolitisch vorhat, Abstand nimmt, ohne dass wir irgendeine Aussicht darauf haben, gehört zu werden von Herrn Putin.
    Müller: Auch das Treffen mit der Kanzlerin und dem russischen Staatspräsidenten wird mit Blick auf diese Syrien-Situation, jetzt konkret Idlib auch nichts bewirkt haben? Davon sind Sie fest überzeugt?
    Röttgen: Das kann ich mir nicht vorstellen, weil das ist ja nicht nur Diplomatie. Das ist harte Machtpolitik, die sich in dieser Region vollzieht. Und wenn die einen mit Panzer und Bomben auffahren und die europäischen Politiker mit guten Worten, dann ist es einfach nicht realistisch, dass man mit guten Worten etwas erreicht. Die wissen auch, was sie da tun. Russland weiß, dass das völkerrechtswidrig ist. Jeder sieht das Leiden von Hunderttausenden von Menschen. Den einen ist es nur egal um der machtpolitischen Vorteile, und wir haben nicht effektiv etwas einzusetzen.
    "Wir müssten zum Beispiel im Irak viel präsenter sein"
    Müller: Sie beklagen diese Ohnmacht, die Machtlosigkeit, definieren das auch, Herr Röttgen, ganz klar und sagen, das ist das Versagen Europas, auch Deutschlands und so weiter. Was würden Sie denn machen? Gegenüber Russland noch mehr Sanktionen, noch härter vorgehen gegen Moskau?
    Röttgen: Es müssen zwei Dinge geschehen. Erstens müssen wir anfangen in dieser Region mit einer europäischen Politik. Die Region hängt ja miteinander zusammen. Syrien ist jetzt der schlimmste Fall. Aber wir müssten zum Beispiel im Irak – das ist kein verlorener Fall – viel präsenter sein, umfassend präsenter sein. Wir reden jetzt über eine relativ kleine Ausbildungsmission. Das ist ein Punkt, wo man anfangen könnte im Irak.
    Müller: Mehr Bundeswehr?
    Röttgen: Bitte?
    "Es geht um eine umfassende Stabilisierung von Staaten"
    Müller: Mehr Bundeswehr, oder was heißt das? Mehr deutsche Soldaten?
    Röttgen: Es geht nicht nur um mehr Bundeswehr. Es geht um eine umfassende Stabilisierung von Staaten. Dazu gehört auch eine Schutzkomponente immer, weil ansonsten alles, was man zivil tut, militärisch bedroht und zerstört wird. Aber es gehört der wirtschaftliche, staatliche Wiederaufbau und auch eine militärische Präsenz dazu, um Strukturen zu schützen, um auch eigene Fähigkeiten, Verteidigungsfähigkeiten auszubilden. Das ist überhaupt alles nicht nur militärisch zu lösen, aber ohne militärische Fähigkeiten und Komponenten geht es in dieser Region nicht.
    Müller: Aber wirtschaftlich geht es ja auch nur, wenn die Unternehmen davon überzeugt sind, dass es Sinn macht zu investieren, und vor allem, dass sie diese Sicherheit haben. Die ist ja nicht gegeben.
    Röttgen: Sie haben völlig recht, und darum wird man die wirtschaftliche Entwicklung nur absichern können, indem man sowohl staatliche Strukturen wie auch Sicherheitsstrukturen entwickelt. Die muss man am Anfang selber platzieren, dislozieren, um dann auch immer weiter eine eigene Sicherheitsfähigkeit solcher Staaten zu gewährleisten.
    Das ist ja auch nur ein Anfang. Ich glaube, dass die europäischen Staaten, vor allen Dingen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Außenbeauftragte im Grunde permanent sich damit beschäftigen müssen. Und ich finde auch, dass man Russland nicht einfach davonkommen lassen kann mit einem sich wiederabzeichnenden völkerrechtswidrigen Tun, und auch an dieser Stelle bin ich der Auffassung, dass das Sanktionsinstrument eingesetzt werden müsste – in der Tat.
    "Die Türkei ist mit islamistischen Rebellengruppen verbündet"
    Müller: Ich möchte, Herr Röttgen, vielleicht bei der Gelegenheit den russischen Vizeaußenminister Rapkow, wenn ich den richtig ausspreche, noch einmal zitieren. Der sagt: Unsere westlichen Verbündeten verstehen durchaus, dass man die Region – wir reden jetzt von Idlib – von Terrorgruppen und Banditen befreien muss, auch von der Dschihadisten-Allianz. Gibt es dort westliche Interessen, die die Russen durchaus bedienen?
    Röttgen: Davon kann man angesichts der Art und Weise des Vorgehens nicht sprechen. Es gibt in dieser Region dschihadistische Terrorgruppen, ohne Zweifel. Die gibt es in dem ganzen, jetzt wieder von Damaskus zurückeroberten Gebiet verstreut. Die Türkei ist mit anderen Rebellengruppen, islamistischen Rebellengruppen verbündet. Das ist auch nicht der Punkt, den wir beanstanden.
    Das was beanstandet wird von der Weltgemeinschaft und auch vom Westen, ist die Art und Weise, wie man vorgeht. Diese Terrorgruppen mischen sich unter die Normalbevölkerung und die Kriegstechnik dort besteht darin, gezielt auch die Zivilbevölkerung militärisch zu bombardieren, um die Zivilbevölkerung zur Flucht zu veranlassen, damit am Ende nur die Kämpfer zurückbleiben, um dann gezielt gegen Kämpfer vorgehen zu können, die sich dann nicht mehr unter die Normalbevölkerung gemischt haben.
    Müller: Sie sagen, diese Dschihadisten-Gruppierungen müssen intelligenter militärisch bekämpft werden, sollen aber militärisch bekämpft werden?
    Röttgen: Nein, ich will nicht, dass es intelligenter wird. Sie dürfen nicht dadurch bekämpft werden, dass man zuerst mal anfängt, gegen die Zivilbevölkerung zu kämpfen, indem gezielt Schulen, Kindergärten, Marktplätze bombardiert werden. Überall dort, wo sich normale Menschen aufhalten, diese Plätze bombardiert man, damit diese Menschen fliehen. Die Kämpfer wollen ja am Anfang nicht fliehen, sondern sie bleiben dort, und dann sollen die Kämpfer zurückbleiben und gegen die geht man dann vor.
    Müller: Herr Röttgen, ist das für Sie unstrittig?
    Röttgen: Das war das Muster bislang. In Aleppo und in Ostghouta war das das militärische Vorgehen vor allen Dingen von Russland mit den Militärangriffen aus der Luft, und das war die Art des Vorgehens: wie identifiziert man überhaupt Terroristen und Kämpfer, indem man erst mal die Zivilbevölkerung durch militärische Angriffe vertreibt. Das ist ganz eindeutig völkerrechtswidrig, das sind Kriegsverbrechen.
    "Die Türkei ist ein Teil des Problems in Syrien"
    Müller: Jetzt hatten wir beide noch ein anderes Stichwort auf dem Zettel stehen – gestern, als wir Sie angefragt haben, ob wir heute Morgen zusammenkommen können: Die Türkei, Außenminister Maas derzeit vor Ort in Ankara zu politischen Gesprächen. Morgen gibt es diese Teheran-Konferenz, noch einmal Syrien das Thema. Der Iran ist dann dabei, logischerweise in Teheran, dann Russland und die Türkei. Wenn wir einmal von den innertürkischen Verhältnissen im Moment absehen, von der Frage Freilassung deutscher Inhaftierter und so weiter, brauchen wir die Türkei zur Lösung beziehungsweise zur Abdämpfung des Syrien-Konflikts, der Syrien-Tragödie?
    Röttgen: Das hat unterschiedliche Aspekte. Zum einen ist die Türkei ein Teil des Problems in Syrien, weil das NATO-Land Türkei völkerrechtswidrig militärisch auf dem Territorium Syriens präsent ist, da ist, um dort den Kampf gegen die Kurden zu führen. Das ist damit ein Teil, dieser kurdisch-türkische Konflikt, der auf syrischem Staatsterritorium ausgetragen wird, ein Teil des Problems.
    Müller: Zum eigenen Schutz, sagt Ankara.
    Röttgen: Bitte?
    Müller: Zum eigenen Grenzschutz und Schutz, sagt Ankara.
    Röttgen: Na ja, das ist die türkische Sicht. Aber es ist mehr, als die eigenen Grenzen zu schützen. Es ist eine machtpolitische Ausdehnung der Türkei über das eigene Staatsterritorium hinaus und weit, weit mehr, als zum Schutz eigener Grenzen notwendig wäre.
    Die andere Frage ist: Die Türkei ist in Idlib mit Rebellengruppen, die in Idlib sitzen, politisch/militärisch verbunden, und insofern sieht man, dass in dieser unheiligen Kriegsallianz, die Sie beschrieben haben, vor allen Dingen auch ganz erhebliche Interessenunterschiede schon immer waren und jetzt auch in einer militärischen Konfrontation sichtbar werden. Ob die Türkei irgendetwas tun kann, das abzuwehren, weil ja sich dieser Angriff auch gegen türkische Präsenz und Verbündete richtet, das wird man abzuwarten haben. Ich habe meine Zweifel.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Röttgen: Ich danke Ihnen, Herr Müller. – Danke!
    Müller: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.