Archiv


CDU-Finanzaffäre - Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern

Koczian: Wie viel Moral gibt es noch in diesem Lande? Am Telefon in München begrüße ich nun den früheren Bundesjustizminister Hans-Joachim Vogel. Guten Morgen Herr Vogel.

    Vogel: Guten Morgen.

    Koczian: Verabredet ist dieses Interview zum Thema 'NS-Zwangsarbeiterentschädigung'. Wir werden diese Problematik auch ansprechen. Aber die Entwicklung des Wochenendes – die Kontenaffäre der hessischen CDU – lässt andere Fragen sich vordrängen. Sind wir jetzt auf dem Weg, den Italien schon hinter sich gebracht hat? Wird die Parteikrise gerade zur Staatskrise?

    Vogel: Die Vorgänge sind im höchsten Maße bedrückend, und man soll sich auch gar keine Illusionen machen, dass das nur eine Partei trifft. Das wirft Schatten auf unsere demokratischen Strukturen. Ich finde es gut, dass von Seiten der anderen Parteien eigentlich auch gar kein Gefühl der Schadenfreude zu erkennen ist. Das ist alles sehr ernst zu nehmen. Dennoch glaube ich, dass der Vergleich mit Italien – nach dem gegenwärtigen Stand – nicht am Platze ist, denn in Italien hat es sich um handfeste, von den Gerichten festgestellte Bestechungen mit Korruptionsgeldern gehandelt. So weit ist unsere Entwicklung noch nicht. Ich möchte das nicht bagatellisieren, aber diesen Vergleich halte ich für überzogen.

    Koczian: Man kann aber vielleicht - oder muss sogar - von einem 'Werteverfall' sprechen?

    Vogel: Ich glaube, eine Gesellschaft, die darauf verzichtet, sich an Werten zu orientieren, setzt sich ganz großen Gefahren aus. Ich nenne nur die Grundwerte, in denen jedenfalls die beiden großen Parteien in ihren Programmen übereinstimmten – nämlich Freiheit und Gerechtigkeit und Solidarität. Ich glaube, es muss auch festgehalten werden daran, dass Demokratie eine Einigung über Unabstimmbares, über das im Mehrheitsbeschluss Entzogenen, voraussetzt, also Menschenwürde, Leben, Freiheit usw. Aber wenn Sie die 68er-Bewegung nennen, kommt mir eigentlich was anderes in den Sinn, nämlich eine gewisse Geringschätzung für das, das man damals 'Sekundärtugenden' genannt hat oder unter den Begriff 'Sekundärtugend' eigentlich etwas verdächtig gemacht hat. Ich glaube – und beziehe mich da auch darauf, was mir in meinem Leben begegnet ist –, dass eine Gemeinschaft und ein Gemeinwesen ohne ein gewisses Maß an gewissen sekundären Tugenden - Pflicht, Zuverlässigkeit, Redlichkeit - nicht bestehen kann.

    Koczian: Nun gibt es ja tiefe Volkseinsichten, die zeigen, dass die Geschichte, lange vor demokratischen Zeiten, wusste, wie man sich zu wehren hat. Eine dieser Einsichten heißt: 'Der größte Lump im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant'. Insoweit bringen viele Verständnis für Helmut Kohl und sein Ehrenwort auf, etwa wie für einen Menschen, der den falschen Zug besteigt aber ordentlich eine Fahrkarte kauft. In Hessen wurden freilich Vermächtnisse berührt, also die Pietät verletzt. Hätte Manfred Kanter gemäß seiner eigenen Forderung und Logik nicht die CDU durch den Verfassungsschutz beobachten lassen müssen?

    Vogel: Also, das ist alles außerordentlich zugespitzt, das ist also nicht mein Zugang. Aber es ist für mich, der ja Herrn Kanter kannte und ihm im Parlament als Sprecher der Opposition gegenüber stand, einfach nicht zu fassen und nicht zu verstehen, wie ein Innenminister, der ja nun gerade Recht und Gesetz und Ordnung betont, überhaupt auf solche Gedanken kommen kann. Und mir ist auch immer noch nicht ganz verständlich, warum dieses Geld, das ja offenbar in großem Maße verfügbar war, überhaupt ins Ausland gebracht worden ist. Also, ich schließe mich denen an, die sagen, sie können es schlechterdings nicht fassen. Ich glaube, Herr Rühe hat das gestern oder vorgestern sogar öffentlich gesagt. Es ist unfassbar und unverständlich.

    Koczian: Kommen wir nun zum Thema 'NS-Zwangsarbeiterentschädigung'. Sie sind ja der Vorsitzende des Vereins 'Gegen Vergessen der Demokratie'. Die vorliegende Regelung gilt nun wieder als gefährdet. Vertreten die Anwälte in ihrer Kritik noch die Interessen ihrer Mandanten, oder haben Sie Verständnis für diese Kritik?

    Vogel: Erstens einmal ist diese Verständigung zustande gekommen und von allen akzeptiert. Jetzt geht es um die Umsetzung der Verständigung in gesetzliche Regelung, weil es natürlich wegen der Verteilung des Gesamtbetrages noch lebhafte Auseinandersetzungen gibt. Aber dass die Anwälte schon wieder die Verständigung selbst in Frage gestellt haben – da war ich überrascht, und das halte ich auch nicht für hilfreich. Alles, was neue Grundsatzprobleme wieder aufwirft oder alles wieder in Frage stellt, läuft auf eine weitere Verzögerung hinaus. Und so sehr ich die Wirtschaft insoweit kritisiere, weil es noch immer fast 90 Prozent aller in Betracht kommenden Firmen sind, die sich der Stiftungsinitiative nicht angeschlossen haben, so sehr bitte ich die Anwälte, diesen Zeitgesichtspunkt im Auge zu behalten. Sicher müssen noch Lösungen innerhalb der Gesamtsumme gefunden werden, aber das grundsätzliche Einverständnis darf nicht in Frage gestellt werden.

    Koczian: Nun ist ja schon der Verdacht laut geworden, den Anwälten gehe es um den Streitwert. Das klingt ziemlich bösartig, aber liegt dieser Gedanke nicht nahe?

    Vogel: Ja, diese Behauptung ist immer wieder aufgestellt worden, aber sehen Sie mal: Die Summe von 10 Milliarden ist der Gegenstand bei Einigung gewesen, auch der Staaten, die an diesen Verhandlungen beteiligt waren, zum Beispiel auch der osteuropäischen Staaten. Und nun müssen sich die Anwälte überlegen: Das ist doch nicht ein beliebiger Schadensersatzstreit, wie etwa der Prozess in Sachen Klage gegen die Zigarettenindustrie. Das ist doch eher ein ganz sensibles Thema. Darum würde ich doch sehr erwarten, dass hier auch seitens der Anwälte das, was das amerikanische oder das deutsche Gebührenrecht hergibt, nicht bis zum letzten Punkt ausgeschöpft wird, sondern dass man auch hier sich vernünftig verständigt. Die Anwälte haben übrigens – einige wenigstens- erheblich Auslagen gehabt, die müssen in jedem Fall ersetzt werden. Man kann ihnen auch ein Honorar nicht verweigern. Aber das muss alles in vernünftigen Grenzen bleiben und vor allen Dingen: Immer im Auge behalten, warum es eigentlich geht – nämlich Menschen, die 55 Jahre auf ein Zeichen warten, dass Unrecht, das ihnen zugefügt worden ist, bedauert wird, und die auf eine materielle Geste warten. Eine Entschädigung kann es ja nicht sein, das übersteigt die Möglichkeit - aber die materielle Geste, dass die jetzt endlich zum Zuge kommt.

    Koczian: Nun hat ja das Bundesfinanzministerium sich ja bereits flexibel gezeigt. Ist also doch vielleicht der Text mit heißen Nadeln gestrickt – und: Es gibt ja zwei Dinge. Einmal ist von den Grenzen 1937 die Rede, und zum anderen von der Anrechnung bereits gezahlter Leistungen. Hätte man das nicht sorgfältiger formulieren können?

    Vogel: Also ich sage: Man soll immer bedenken, dass das nicht ein beliebiger Gegenstand der Gesetzgebung ist; das gilt natürlich auch für die Entwurfsverfasser unserer Vereinigung. Sie haben zwei Punkte genannt, wo dieser Entwurf sicher nicht das letzte Wort ist. Die Frage, was und inwieweit angerechnet wird – es kann nicht alles angerechnet werden, was jemals schon bezahlt worden ist. Man muss fragen, für was ist was bezahlt worden – und man muss auch hier sensibel vorgehen. Es sind nicht Situationen, wo man mit der Strenge eines Finanzamtes vorzugehen hat, man muss doch immer das Menschliche Leid im Bewusstsein haben. Das Zweite – das halte ich also auch für unverständlich: Dass Zwangsarbeiter, die in Schneidemühle eingesetzt worden sind, dass die leistungsberechtigt – wie es der Entwurf nennt – sind, währen die, die in Posen zwangsweise eingesetzt worden sind, leer ausgehen sollen. Man muss ja auch ein bisschen daran denken, dass ja damals Auschwitz Morowitz, wo Zwangsarbeiter eingesetzt worden sind, damals auch deutsches Reichsgebiet war. Das muss also korrigiert werden. Ein anderer Punkt ist, dass wir – glaube ich – Österreich einladen müssen, dass es selber zu einer Verständigung mit den Betroffenen kommt. Insofern kann man nicht einfach sagen: 'Das Reichsgebiet in seiner größten Ausdehnung' – sonst würden wir ja auch für alles, was Österreich betrifft, mit die Verantwortung übernehmen. Aber – von Österreich abgesehen – muss man sich nicht nach der Grenze von 37 orientieren. Auf eines muss ich allerdings aufmerksam machen: Man wird die Summe von 10 Milliarden wahrscheinlich nicht mehr erhöhen können. Das ist nun wirklich nach zähen Gesprächen wohl das letzte Wort. Das kann man bedauern, das muss man aber wohl akzeptieren. Drum ist jede Erweiterung des Streits vielleicht automatisch damit verbunden, dass für den Einzelnen die materielle Geste geringer ausfällt. Das muss man also bei diesen schwierigen Verhandlungen, die jetzt vor allen Dingen im Deutschen Bundestag und in den zuständigen Ausschuss stattfinden werden, auch sehen.

    Koczian: Nun wird der Streit um die Aufteilung – Sie haben ja drauf hingewiesen, dass manche Fragen offen sind – geregelt werden müssen. Aber wer kann dieses tun?

    Vogel: Alles, was die großen Entscheidungen angeht, muss der Gesetzgeber tun. Das ist jetzt Aufgabe des Gesetzgebers, des Bundestages. Es wird dann wohl weitere noch weitere Aufteilungsentscheidungen bei den Stiftungen geben, beispielsweise den Stiftungen für Verständigung und Versöhnung in Moskau, Warschau, Minsk und hier. Die werden auch noch einen gewissen Spielraum haben müssen. Ob noch weitere Gruppen einbezogen werden – was aber dann evtl. eine Reduzierung zur Folge hat –, das wird man nicht alles in Berlin entscheiden können.

    Koczian: Im Deutschlandfunk war das Hans-Joachim Vogel, der frühere Bundesjustizminister und jetzt Vorsitzender des Vereins 'Gegen Vergessen – für Demokratie'. Danke nach München.

    Vogel: Bitte sehr.