Der große Saal im "Neuberinhaus" ist schon frühzeitig gut gefüllt an diesem Mittwochabend. Knapp 300 Interessierte haben sich eingefunden, um am "Sachsen-Gespräch" mit Ministerpräsident Michael Kretschmer und seinen Kabinettskollegen aus allen Ressorts teilzunehmen. Die Erwartungen der Zuschauer sind hoch:
"Ich bin sehr gespannt auf den neuen Ministerpräsidenten, und wir haben natürlich auch ein paar Fragen mit im Gepäck."
"Ja, ich möchte gerne was loswerden in Bezug auf die Schule, und ich hoffe, dass man hier in einen regen Austausch treten kann, was dabei raus kommt, bin ich relativ ergebnisoffen, aber es brennt, und das System Schule in Sachsen fährt sehenden Auges vor die Wand."
"Mich interessiert die innere Sicherheit. Die Polizei ist ja unterbesetzt, und wie es halt in Zukunft weitergehen soll. Und ich finde solche Gesprächsrunden wie heute sehr gut. Ich bin auch positiv überrascht, dass die Zuschauerzahl so toll ist, also hätte ich persönlich nicht erwartet. "
Enthemmung der politischen Meinungsäußerung
Es ist die zweite Veranstaltung dieser Art, zu der der Mitte Dezember gewählte Regierungschef eingeladen hat. Kretschmers Wunsch:
"Dass wir mit Ihnen im Gespräch sind und das wir uns ein bisschen verteilen, dass es jeweils einen Tisch gibt und einen Raum, wo man mit einem Minister oder mit einer Ministerin sprechen kann."
Der Zugang zum "Sachsen-Gespräch" ist offen, es gibt keinerlei Vorbedingungen für die Teilnahme an den Frage- und Diskussionsrunden. Das ist neu für die Sachsen-CDU und wäre früher undenkbar gewesen. Es ist auch ambitioniert, denn angesichts der zunehmenden Enthemmung in der politischen Meinungsäußerung auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken lässt sich bei diesem Gesprächsformat nicht absehen, was an einem solchen Abend passieren kann. Dementsprechend umfänglich und unauffällig sind die Sicherungsmaßnahmen durch Polizeibeamte in Zivil.
"Haltung eines politischen Dummkopfs"
Die Gesprächsoffensive ist Teil der neuen Strategie des jungen Regierungschefs und seines erst 30-jährigen CDU-Generalsekretärs, Alexander Dierks. Beiden sitzen das letzte Bundestagswahlergebnis und die heraufziehende Landtagswahl 2019 im Genick. Zu Recht - konstatiert der Dresdner Politologe Werner Patzelt:
"Die Sachsen-CDU hat zumindest begriffen, dass sie ein Problem mit der AfD hat. Lange Zeit war ja die sächsische Union in einer nachgerade sprachlos machenden Selbstgefälligkeit und Bräsigkeit. Wir sind die Schönsten und Besten, uns kann keiner, von rechts her ohnehin nicht. Und die AfD, die nehmen wir nicht einmal zur Kenntnis, wir machen uns gemeinsam mit den linken Parteien einfach lustig über diese Dummköpfe. Ja das war eine Haltung eines politischen Dummkopfs, und da ist der Sächsischen Union der Schreck gehörig in die Glieder gefahren."
Trotz inzwischen wieder gestiegener Umfragewerte gilt es für die Christdemokraten daher, unbedingt eine Wiederholung des Bundestags-Wahlergebnisses vom September 2017, bei dem die AfD in Sachsen ganz knapp vor der CDU landete, zu verhindern. CDU-"General" Alexander Dierks setzt auf eine zweigeteilte Strategie, um Vertrauen zurückzugewinnen:
"Indem wir die Probleme lösen, die es im Land gibt, wir auch demütig sind, auch zugeben, dass wir in der Vergangenheit – und ich glaube, das liegt in der Natur der Sache, wenn man fast 28 Jahre regiert – auch Fehler gemacht haben, dass wir nicht immer alles richtig gemacht haben, dass wir das auch korrigieren, und dass wir da mit neuem Schwung vorangehen."
Doch auch die Sachsen-AfD macht mobil und hat jüngst proklamiert, 2019 die Macht im Freistaat übernehmen zu wollen. Dazu werde man die Kräfte bündeln und künftig mit Pegida, der islam- und europafeindlichen Bürgerbewegung, zusammenarbeiten - ungeachtet des bisher noch geltenden Kooperationsverbots der Bundes-AfD.
Pegida-Anhänger lassen sich allerdings nur schwer mit rationalen Argumenten erreichen, das weiß auch CDU-Generalsekretär Dierks.
Masterplan für ländliche Regionen
Populistische Thesen mit Populismus beantworten will er keinesfalls, wohl aber mit Emotion und positiven Botschaften: "Politik ist – glaube ich – immer eine Mischung aus Botschaften für den Kopf und Botschaften für den Bauch. Man muss auch immer das Herz ansprechen. Politik hat immer viel mit Emotionalität zu tun, mit Gefühl, mit Wahrnehmung."
Wahrnehmung und Problembewusstsein verlangt auch Ulf Solheid. Den Kölner hat vor vielen Jahren die Liebe nach Reichenbach gezogen. Er ist ein Fan Sachsens und der Vogtlandregion; derzeit aber ziemlich sauer auf die CDU-geführte Landesregierung.
Sie habe zugelassen, dass ländliche Regionen ins Abseits gerieten, beklagt der Jurist: "Wir haben keine Perspektiven! Ich bin Anwalt in dieser Stadt Reichenbach und nehme heute als Anwalt aus der Presse zur Kenntnis, dass das letzte Postamt in der Innenstadt geschlossen wird. Wenn hier nichts geschieht, darf sich niemand wundern, dass rechte, populistische Kräfte die Oberhand gewinnen und das Land einem Niedergang entgegen geht!"
Der Abkopplung ländlicher Regionen will die schwarz-rote Koalition in Sachsen mit einem Masterplan entgegenwirken, kündigt Ministerpräsident Kretschmer an diesem Abend an. Darin geht es um viel Geld für Breitband und Infrastruktur. Doch die Mühlen der Behörden mahlen langsam. Bürgermeister und Bürger sind ungeduldig, viele misstrauisch: "Er hat ein junges, dynamisches Auftreten, er hat sich viele Ziele gesetzt, und jetzt werden wir ihn an den Zielen messen."
Die Entwicklung in Sachsen habe durchaus Signalwirkung auch für andere Bundesländer, sagt der Dresdner Politwissenschaftler Werner Patzelt, denn "im Osten werden die gleichen Probleme intensiver wahrgenommen als im Westen. Infolgedessen kann man dann tatsächlich vom Osten, wenn man ihn als ein Frühwarnsystem begreift, ziemlich schnell etwas lernen. Hier läuten die Warnglocken eher als anderswo in Deutschland."