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CDU-Vize Wulff: Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren

Vor der am Abend beginnenden Klausurtagung des CDU-Vorstands hat der stellvertretende Parteivorsitzende Christian Wulff als wichtige Themen die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft und den Dialog mit den verschiedenen Kulturen und Religionen genannt. Dies seien Bereiche, in denen sich die CDU auch in einer großen Koalition profilieren könne, sagte Wulff.

Moderation: Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Eine Klausurtagung, das ist eine Sitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ab heute Abend bis morgen Mittag gibt es eine solche Klausurtagung in Mainz, denn dazu trifft sich dort der CDU-Bundesvorstand. Mit dabei in Mainz ist der stellvertretende CDU-Vorsitzende und Ministerpräsident Niedersachsens, Christian Wulff. Herr Wulff, Sie haben in einem "Stern"-Interview vor vier Wochen gesagt, dass die Bundesvorstände von Union und auch SPD künftig die Schaltstellen der Politik sein werden, denn dort würden die Ministerpräsidenten ihren Einfluss geltend machen können. Was wollen Sie denn heute Abend durchsetzen?

    Christian Wulff: Bisher haben wir den Einfluss geltend gemacht im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat und über den Bundesrat und dazu wird es halt tatsächlich seltener kommen. Ich vermute mal, die nächsten Jahre wird der Vermittlungsausschuss nie tagen, weil es dann immer viel zu spät ist, wenn das vom Bundestag bereits von SPD und CDU beschlossen ist, da noch Änderungen einbringen zu wollen, das wäre beckmesserisch. Also muss man im Vorfeld, bei dem Lostreten von Reformvorstellungen oder Veränderungen voll dabei sein. Und das findet nun mal in Bundesvorständen statt, mit den Fraktionsvertretern, die natürlich ganz wesentlich sind, mit den Ländervertretern, mit den Parteivertretern. Von daher sind diese Klausurtagungen tatsächlich wichtiger. Und wir werden über den Zeitplan reden für das neue Grundsatzprogramm - wie wir die soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln, was unsere Gesellschaft zusammenhält, was gerecht ist im 21. Jahrhundert, wie wir den Dialog der Generationen führen, aber auch der Kulturen, der Religionen in unserem Land. Und das sind Themen, die die nächsten zwei Jahre die Union ganz wesentlich beschäftigen werden und die auch die Chance geben, ein eigenständiges Profil von CDU in Deutschland erkennbar werden zu lassen - was in der großen Koalition immer die Gefahr ist.

    Spengler: Ja. Wird auch das Thema, was uns in den letzten Tagen beschäftigt hat, eine Rolle spielen? Also der Atomausstieg, den die CSU fordert - da hat sich ja Herr Oettinger ihr angeschlossen in dieser Forderung; die Bundeskanzlerin hat sich ja nun dagegen klar zum Koalitionsvertrag mit der SPD bekannt, da steht drin: Atomausstieg bis etwa zum Jahr 2020. Ist das Ihrer Ansicht nach zu kurzfristig gedacht, sich auf so lange Frist festzulegen?

    Wulff: Wir haben nicht erreicht, den Energiekonsens, den die alte, rot-grüne Bundesregierung den Energieversorgern abgerungen hat, zu verändern. Das ist richtig in den Koalitionsverhandlungen. Nichtsdestotrotz gibt es ja Spielraum bei den Restmengen der Kernkraftwerke. Und das, was Günther Oettinger, was Edmund Stoiber, was ich und viele andere vertreten, ist, dass wir in dieser Legislaturperiode nicht aus ideologischen Gründen Kernkraftwerke abstellen, die auf dem neuesten Stand technischer Entwicklung sind, die ständig nachgerüstet worden sind mit Hunderten Millionen Euro Aufwand, und dann einfach aus formalen Gründen abgestellt werden müssten. Denn das Energiethema, die Energiepreise, ist ein zentrales Thema. Wir haben oben an der Küste in Niedersachsen gerade zwei Aluminium-Hersteller in Stade und Hamburg verloren; wir haben den Druck der Zink-Industrie. Die gesamte energieintensive Industrie will aus Deutschland weg, wenn die Energiepreise hier 30 Prozent höher sind als in anderen europäischen Ländern. Deshalb muss über ein Energie-Mix gesprochen werden. Und auch die Regenerativen wie Wind-, wie Wasserkraft brauchen die Quersubventionierung durch andere große leistungsfähige Kraftwerke. Und von daher braucht es einen Energie-Mix.

    Spengler: Das heißt, der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil irrt, wenn er sagt, dass nach dem Machtwort von Angela Merkel die Atomdiskussion mit der Union beendet sei?

    Wulff: Das ist zumindest zu einfach. Denn den Energiekonsens nicht infrage zu stellen, heißt noch nicht, Kernkraftwerke in dieser Legislaturperiode wirklich abstellen zu müssen. Darüber wird zu reden sein. Vor allem über diese vier Jahre, die SPD und CDU jetzt zusammen die Regierung stellen, dass man da möglichst Entscheidungen der Vernunft und nicht der Ideologie trifft. Bestimmte Themen werden sonst auch die SPD sehr schnell wieder einholen.

    Spengler: Ihr Parteifreund Christoph Böhr, der ist heute Gastgeber in Mainz. Er hat davor gewarnt, jetzt Konflikte in der großen Koalition in Berlin zu provozieren. Hat er damit Recht?

    Wulff: Natürlich muss man erst einmal sehr positiv in dieses Jahr gehen, sehr optimistisch, sehr geschlossen, harmonisch. Die Menschen erwarten einfach, dass wieder regiert wird, dass schlüssig regiert wird, dass möglichst hinter verschlossenen Türen gestritten wird - was ja im Sinne von uns Politikern eher Ringen um den besten Weg ist, aber die Bevölkerung will natürlich nicht dieses Ringen ständig morgens im Radio erleben, sondern die will, dass vernünftig Entscheidungen getroffen werden, die dann auch greifen, die zu wirtschaftlichem Aufschwung führen. Also es wäre gut, man könnte in der Klausurtagung des Bundeskabinetts am Montag, Dienstag eine Stimmung erreichen, dass sich alle dem Ernst der Lage bewusst sind. Und da kommt jetzt einiges auf uns zu: Wir werden die Staatsquote senken müssen, den Haushalt konsolidieren müssen, ein faires Steuersystem kreieren müssen, wir brauchen aktivere Arbeitsmarktpolitik im Niedriglohnsektor mit dem Thema Kombilohn, wir brauchen eine Reform der Gesundheitssysteme, damit die Lohnzusatzkosten nicht ständig steigen, wir brauchen mehr Investitionen in Bildung, Forschung, mehr frühkindliche Erziehung - das wird ja ein Thema in Mainz sein, wir haben Experten dort, die uns erzählen, was wir alles im Bereich von Familien und Kindern besser machen können, besser machen wollen, bei der Bekämpfung der Kinderarmut, mehr Betreuungsangeboten, Elterngeld, mehr Generationenhäusern. Also die Politik erwartet einfach jetzt eine ganze Menge an Entscheidungen. Und das sollte man möglichst natürlich geschlossen treffen und nicht jedes Thema immer gleich in der Öffentlichkeit streitig diskutieren. Aber da können wir ja auch zu beitragen, dass man auch den Bürgern erklärt: Wir ringen hier um gute Lösungen für Deutschland, für unser Land, und es ist nicht vordergründiger Streit; wir sitzen in einem Boot, wir regieren jetzt zusammen. Das wird eine andere Diskussions- und Streitkultur erfordern.

    Spengler: Fühlen Sie sich denn als Ministerpräsident eines Bundeslandes an die Koalitionsvereinbarungen in Berlin gebunden?

    Wulff: Als stellvertretender CDU-Vorsitzender habe ich die miterarbeitet, mitbeschlossen und stehe hinter dieser Koalitionsvereinbarung. Was nicht heißt, dass man als Ministerpräsident auf die Landesverfassung vereidigt in bestimmten Fällen, an bestimmten Momenten dann auch sagen: Hier hätten wir noch gern eine Änderung, eine Korrektur. Und dann wird es auch darüber Diskussionen geben - zudem ja fünf Bundesländer in Deutschland nun einmal keine absolute Mehrheit von CDU oder CSU haben, sondern eine Koalition mit der FDP. Und da ist dann auch hier und da mal auf den Koalitionspartner Rücksicht zu nehmen. Dafür hat aber jeder Verständnis. Und glücklicherweise hat die große Koalition im Moment auch eine alleinige Mehrheit im Bundesrat, aus rein SPD- oder CDU/CSU-regierten Ländern.

    Spengler: Die Nachrichten der letzten Wochen, Herr Wulff, bestanden vor allen Dingen aus einstürzenden Hallendächern, umknickenden Strommasten, von Schlaglöchern übersäten Straßen, will ich mal sagen, aus renovierungsbedürftigen Schulen - braucht es statt eines Soli Ost einen Solidaritätszuschlag West?

    Wulff: Wir brauchen die Erkenntnis, dass der Staat sich die letzten Jahrzehnte übernommen hat, überfordert hat. Immer mehr Zuständigkeiten, immer mehr Beauftragte, immer mehr Gesetze. Und immer mehr Belastungen auch von Bürgern und Unternehmen. Und wenn ich gesagt habe: Die Staatsquote muss gesenkt werden, dann heißt das, dass der Staat sich auf seine Kernaufgaben konzentriert: das Sichern innerer Sicherheit, sozialer Gerechtigkeit und vor allem die Vorhaltung einer ordentlichen Infrastruktur der Kommunen, der Länder, des Bundes. Und da wird es von einer Reihe von Fragen Abschied nehmen gelten. Um sich auf diese Kernaufgaben - dass die Straßen, die Radwege funktionieren, dass die Schulen instand sind, die Einrichtungen für die Bevölkerung -, dieser Diskussionsprozess - Was muss der Staat wirklich machen?, Was ist Sache des Staates und was können auch Private - Vereine, Verbände, bürgerschaftliches Engagement - machen? -, die muss geführt werden. ...

    Spengler: Ich muss Sie trotzdem noch mal an meine Frage erinnern: Müssen wir dann dafür auch eine Neuordnung der Finanzen haben?

    Wulff: Ich glaube nicht, dass wir bei der Neuordnung der Finanzen zu mehr Geld in den öffentlichen Kassen unter dem Strich kommen werden, weil die Bürger nicht mehr belastbar sind. Die haben heute schon zu wenig netto vom Brutto. Wir können die Bürger nicht weiter belasten. Und deshalb muss das vorhandene Geld, muss stärker im investiven Bereich eingesetzt werden, statt im konsumtiven - für Transferleistungen zum Beispiel oder für die Schulden der Vergangenheit, für Zinsen für Schulden der Vergangenheit. Ich zahle in Niedersachsen jeden Tag sieben Millionen Euro Zinsen für alte Schulden, jede Woche 50 Millionen. Ich könnte jeden Tag an irgendeiner Stelle im Land sagen: Hier baue ich die Straße neu, hier baue ich einen Kindergarten, hier baue ich eine Schule, hier mache ich an einer Hochschule was - mit sieben Millionen jeden Tag, 365, 351 Tage - oder was das Jahr hat -, jeden Tag, das wäre eine wunderbare Sache. Aber wir zahlen eben viel zu viel Geld für die Vergangenheit, für früher aufgenommene Schulden. Deswegen müssen wir aus der Verschuldung raus, aus der Schuldenfalle, müssen weg vom Abgrund der Verschuldung und die öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen zwischen Einnahmen und Ausgaben - was jeder Privathaushalt muss, muss auch die öffentliche Hand machen. Und wir in Niedersachsen sind auf einem guten Weg. Wir haben die Verschuldung jetzt jedes Jahr 350 Millionen Euro gesenkt. Und das erwarte ich auch bei den anderen Ländern und beim Bund: Dass wir uns auf einen nationalen Entschuldungsplan einigen, wie wir rauskommen aus dieser Verschuldung hin zu geordneten finanziellen Verhältnissen, wie wir sie in den 50er, 60er Jahren in Deutschland immer hatten, wo ein Finanzminister Fritz Schäffer mit seinem Juliusturm die Einführung der Bundeswehr aus Rücklagen finanziert hat und weder die Steuern erhöht wurden noch die Einnahmen verbessert wurden noch Schulden gemacht wurden. Das ist einfach eine Kultur der öffentlichen Finanzen, die in Deutschland wieder tugendhaft Eingang finden muss.

    Spengler: Das ist das eine. Das andere ist aber doch, dass man den Eindruck hat, dass sich die Balance etwas zu Ungunsten westlicher Bundesländer verändert hat.

    Wulff: Das hat natürlich damit zu tun, dass im Osten ein großer Nachholbedarf nach wie vor ist. Und der Nachholbedarf durch Neubauten gedeckt wird, während bei uns eben Sanierungsbedarf ist. Nur, es gibt ja auch Gemeinschaftsaufgabe-Wirtschaftsstruktur-West-Mittel. Und es gibt ja auch Infrastrukturförderung in den alten Bundesländern. Und wir müssen eben das ganze System so entwickeln, dass nicht nach Ost oder West mehr geschaut wird, sondern nach strukturschwach, nach hoher Arbeitslosigkeit oder nicht. Deswegen haben wir unter den Ministerpräsidenten ja auch einen Konflikt mit den Ministerpräsidenten der neuen Länder, die dann mal gesagt haben: Ja, es soll aber an Ländergrenzen gemessen werden und wenn Gelsenkirchen arm ist, aber Nordrhein-Westfalen reich ist, dürfen die trotzdem kein Geld bekommen. Das weisen wir zurück und sagen: Nein, es gibt in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen, in Rheinland-Pfalz, anderswo strukturschwache Räume, die der Förderung bedürfen, die müssen zukünftig gefördert werden, weil sie zum Teil gleich hohe Arbeitslosigkeit wie im Osten haben oder gleiche Strukturschwächen, gleiche Armut. Also es muss nach der Bedürftigkeit gehen, nach der Armut eines Raumes, einer Region, nach dem Entwicklungsdefizit. Wenn man zum Beispiel nach europäischen Kriterien nur 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in einer Region hat oder darunter, dann müssen dort die Fördermittel hin. Ob das West ist oder Ost ist, muss dabei völlig egal sein. Denn auch im Osten gibt es natürlich hoch entwickelte Räume: In Sachsen, im sächsischen Bereich, wo die Förderung nicht mehr so stark erforderlich ist. Also an den objektiven Kriterien anzusetzen und nicht an der Frage Ost oder West, neues oder altes Bundesland, das ist unsere Forderung.

    Spengler: Das ist wahr. Aber das heißt: Neujustierung?

    Wulff: Das heißt, jetzt bei der Umsetzung auch der europäischen Strukturfondsmittel ab 2007, auf diese Kriterien auch national abzustellen - das ist ja jetzt gerade Thema auch der Wirtschaftsministerkonferenz: Ob es auch in den alten Bundesländern Regionen, "Ziel 1"-Regionen, geben kann, die besonders strukturschwach sind und die besondere Mittel bekommen oder ob es sie nur in den neuen Bundesländern geben kann. Und hier erwarte ich, dass man dort auch zugesteht, wenn in Westdeutschland etwas unter 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist, müssen auch dort diese Mittel hinfließen können. Das ist die Diskussion, die wir jetzt gerade führen über die Verwendung europäischer Mittel. Denn die europäischen Töpfe sind natürlich sehr viel voller als die nationalen Wirtschaftsförderfondsmittel.

    Spengler: Gehört zu dieser Neujustierung auch eine Neuordnung der Bundesländer?

    Wulff: Ich kann mir vorstellen, dass wir in einem zweiten Schritt der Grundgesetzreform die Neubildung von Bundesländern zumindest erleichtern, schneller möglich machen, mit anderen Quoren, anderen Abstimmungsverfahren möglich machen, dass es im Falle Berlin-Brandenburg zur Fusion gekommen wäre oder jetzt kommen könnte, dass es Schleswig-Holstein und Hamburg erleichtert wird. Dann muss aber immer von den kleineren Ländern auch irgendwo ein Signal ausgehen. Wenn die großen Länder - Niedersachsen ist das zweitgrößte Bundesland der 16, von der Fläche her -, wenn von den großen Bundesländern das Signal ausgeht, dann ist das immer sehr schnell besitzergreifend. Zudem wir die Probleme der kleinen auch gar nicht ohne weiteres lösen könnten, deswegen sich auch bei uns da das Bestreben natürlich in Grenzen hält. Aber die kleinen Länder, die ich jetzt gar nicht namentlich benennen will, die müssten, die besondere Probleme haben, die müssten sagen: Wir wollen einen größeren Partner. Und vorher sollte man die Zusammenarbeit vertiefen, grenzüberschreitend, mit gemeinsamen Einrichtungen. Wir haben gestern mit Sachsen-Anhalt den Nationalpark Harz gerade gegründet. Aus dem Nationalpark Hochharz - Sachsen-Anhalt und dem Nationalpark Harz in Niedersachsen jetzt nur noch einen Nationalpark, der ist kostengünstiger, der ist effektiver. Das ist grenzüberschreitend ein Signal für Zusammenarbeit. Das stelle ich mir auf ganz vielen Feldern in Deutschland vor. Aber vielleicht kann man die Neubildung von Länder etwas erleichtern über das Grundgesetz. Am Ende müssen es aber die Menschen in den Bundesländern wollen und entscheiden.