Liminski: Was sind denn die wirklichen Probleme des Landes? Denn auf dem Aschermittwoch wird ja alles Mögliche erzählt.
Von der Leyen: Dieses Land ist in einer Krise, aber ich denke, wir sollten uns da nichts vormachen. Das, was wirklich als großes Problem auf unser Land zukommt, ist die Vergreisung der Gesellschaft. Ich will Ihnen das an drei Zahlen mal eben kurz skizzieren. Das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung liegt bei 25 Jahren. Wissenschaftler haben inzwischen festgestellt, dass die größte Innovationskraft eines Menschen, das heißt das Alter, in dem er sagt, ich habe Mut, ich habe Ideen, die setze ich um, ich gründe ein Unternehmen, ich schaffe Arbeitsplätze, etwa bei Mitte 30 liegt, und in unserem Land, in Deutschland, ist das Durchschnittsalter heute schon bei 41 Jahren. Das heißt, das sagt einiges aus, was da auf uns zukommt bei der Vergreisung der Gesellschaft. Und dann ist ein zweiter Punkt, der mir immer am Herzen liegt, dass ich feststelle, wir sind zwar ein reiches Land, aber wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass der Staat für alles sorgt in diesem Land, und deshalb haben wir unter diesem Berg an staatlicher Fürsorge wahrscheinlich auch die Kraft begraben, die dieses Land mal hatte. Ich bin eigentlich sicher, dass in diesem Land so viel an Energie und Potential liegt, was wir nur verschüttet haben in der Bequemlichkeit der letzten Jahrzehnte, dass wir dieses wieder freilegen müssen.
Liminski: Nun fällt auf, dass Ihre Partei, die CDU, in der programmatischen Erklärung von Hamburg vor wenigen Wochen über die politischen Handlungsfelder der CDU, wie es da heißt, sich lange über die Probleme des Landes, insbesondere das mangelnde Wachstum, ausgelassen hat, dass aber das Wort Familie gar nicht mehr vorkommt. Wie erklären Sie diese Familienvergessenheit der CDU? Sieht Ihre Partei da keinen Handlungsbedarf mehr?
Von der Leyen: Zunächst einmal muss man sagen, dass diese Hamburger Erklärung ein sehr gutes Papier ist, denn es macht eins deutlich: Dass Wachstum nämlich der entscheidende Faktor für die Zukunftsbewältigung ist, für die Bewältigung der Probleme. Familie ist das Zentrum. Ich sage immer gerne, Familienpolitik ist Wachstumspolitik, denn wenn die Familie nicht mehr funktioniert, wenn wir nicht mehr ernst nehmen, was Erziehungsleistung ist, dann hat eine Gesellschaft auch nicht mehr die Kraft, das Wachstum umzusetzen, was sie in Zukunft brauchen wird. Ich nehme es an zwei Punkten. Die Gesellschaft in Deutschland hat es sich sehr bequem gemacht, indem sie eingeteilt hat, entweder sind die Mütter zu Hause Heimchen am Herd oder aber die Frauen, die berufstätig sind, sind Rabenmütter, und damit haben wir einen Riesenfehler gemacht, denn wir haben polarisiert, wir haben Familie in eine Schuldecke gestellt, anstatt genau umgekehrt zu denken, dass wir sagen, diese Gesellschaft muss erst einmal das Signal aussenden, Kinder sind hochwillkommen, und dann schaffen wir den Rahmen um diese Kinder herum so, dass Familien sich auch aus eigener Kraft helfen können, das heißt, entweder sie erziehen die Kinder so, wie sie es für richtig halten, oder aber sie widmen auch Teile ihres Lebens der Arbeit, die dazu gehört, eine Familie großzuziehen. Das heißt, wir müssen eine Arbeitswelt schaffen, die im Mittelpunkt die Familienfreundlichkeit hat und auch Zeit und Muße zulässt, Familie neben der Arbeit zu haben. An die Wirtschaft muss da ganz klar die Forderung gehen, eben nicht nur dieses Humanvermögen, wie wir Kinder auch nennen, abzuschöpfen, sondern das Humanvermögen auch mitbilden zu helfen, indem man jungen Frauen das Signal gibt, es ist willkommen, dass ihr Kinder habt, und dennoch brauchen wir euch auf die Dauer in der Arbeitswelt.
Liminski: Aber von alldem, was Sie jetzt erzählen, steht im Papier der CDU nichts oder kaum etwas drin.
Von der Leyen: Ich denke, das ist auch ein Thema, das wir in Zukunft diskutieren werden. Das ist ja ein erster Entwurf, und ich werde von meiner Seite aus auch dieses Thema, Familienpolitik ist auch Wachstumspolitik, ganz aktiv auf der politischen Ebene einbringen.
Liminski: Ihre Partei muss also noch einiges lernen?
Von der Leyen: Ich denke, man sollte da keine Schuldzuweisung an eine einzelne Partei richten. Wenn ich das mal etwas zuspitzen darf, meine Partei ist es, die immerhin den Finger in die Wunde legt und sagt, in den Sozialsystemen muss in Zukunft bei den Reformen Erziehungsleistung honoriert werden bei der Rente, bei der Pflege. Da müssen Familien, die Kinder erziehen, einen Bonus haben, denn sie legen die Grundlage für die nächste Generation. Unsere politischen Gegner haben gar kein Wort dazu gesagt, also die CDU weiß sehr wohl, wie wichtig Familie ist.
Liminski: Darf ich da noch mal nachhaken. In dem Papier wird auch von der Bildung gesprochen und dem Bürger versprochen, dass die bestmögliche Entfaltung in der Entwicklung der Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen der zentrale Anspruch an das Bildungswesen bleibe. Auch hier fehlt wieder die Familie, aber an die Kindertagesstätten wird ein Bildungsauftrag erteilt. Sind denn die Familien in Deutschland zu dumm, um in solch einem Konzept des lebenslangen Lernens, wie es da politisch korrekt heißt, zu passen?
Von der Leyen: Nein, die Familien sind keineswegs zu dumm. Im Gegenteil, man muss sie auch auf diesem Gebieten stärken. Aber gerade bei Kindergarten und bei Schule, denke ich, ist es auch ein Wechselspiel mit Familie, das stattfindet. So wie wir Familie nicht ernstgenommen haben – wir haben einfach gesagt, sie ist da, wir müssen uns nicht weiter darum kümmern – in den vergangen zehn, zwanzig Jahren, so haben wir auch Bildung vernachlässigt, dieses Wechselspiel zwischen Elternhaus und Schule und Kindergarten. Ich will Ihnen ein Beispiel aus Niedersachsen nennen, wie wir das inzwischen sehr ernst nehmen. Wir haben hier die offene Ganztagsschule als Angebot. Die sagt, Vormittags ist Blockunterricht, und zwar für alle, ohne dass ausfällt, und dann kommt das Angebot an die Familien: Diejenigen, die ihre Kinder gerne nach Hause nehmen und den Nachmittag selber strukturieren, nehmen die Kinder nach Hause, aber die, die aus welchen Gründen auch immer ein strukturiertes Angebot für die Kinder brauchen, nehmen das Angebot der offenen Ganztagsschule wahr mit warmem Mittagessen und am Nachmittag Angebote in Kunst, Werken, Hausaufgabenbetreuung. Hier wird Familie sehr ernstgenommen, denn man sagt einerseits, wir wissen, dass ihr der wichtigste Motor in der Erziehung seid, und wenn ihr sie wahrnehmen könnt, ausgezeichnet, aber andrerseits wissen wir auch, dass in der Realität manche Familien einfach am Nachmittag nicht vorhanden sind, denn sie müssen Geld verdienen oder aber die Familienstruktur sind so, dass die Kinder nicht versorgt sind, und da muss der Staat dann auch mehr Ernsthaftigkeit zeigen.
Liminski: Eine konkrete Frage: Man nennt die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre hier und da eine Bonsaipädagogik. Sind auch Sie für die Verkürzung?
Von der Leyen: Da, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, schöpfe ich aus der persönlichen Erfahrung, die ich im Leben gemacht habe. Ich bin in Brüssel geboren und dort in den ersten acht Schuljahren, also bis zum 13. Lebensjahr, in die europäische Schule gegangen. Das war eine Ganztagsschule, und die war von vorne herein damals in den siebziger Jahren angelegt auf zwölf Schuljahre. Wir haben damals sofort von der ersten Klasse an eine zweite Fremdsprache gelernt, und ich erinnere mich noch sehr genau, als ich mit meinen fünf Brüdern hier nach Deutschland kam, dass wir alle einfach so gut waren in der Schule, nicht weil wir klüger waren als der Rest der Welt, sondern weil man unseren frischen Kopf gut ausgenutzt hat am Anfang des Lebens, dass wir weitgehend eine Klasse überspringen konnten im deutschen Schulsystem, und das hat mich wirklich nachdenklich gemacht, denn wir können diese klugen Köpfe, die kleine Kinder haben, besser ausnutzen am Anfang des Lebens, und zwölf Jahre Schule ist im internationalen Vergleich völlig selbstverständlich, so dass wir da auch nachbessern können.
Liminski: Am Wochenende beginnt in Hamburg der Wahlreigen dieses Jahres. Zumindest steht zu befürchten, dass nichts mehr passiert, weil sich alle Parteien gegenseitig belauern. Brauchen wir angesichts der großen Probleme vor allem in Ihrem Bereich, Soziales, Gesundheit, Rente, nicht eine große Koalition, die unabhängig von den Wahlen agieren könnte?
Von der Leyen: Nein, ich denke nicht, dass wir grundsätzliche große Koalitionen brauchen. Das sind die absoluten Ausnahmesituationen, und darauf muss sich das dann auch beschränken. Aber das heißt nicht, dass wir in den großen Sachfragen ein sehr vernünftiges Miteinander pflegen müssen. Ich schätze hier im Landtag zum Beispiel eine sehr scharfe Opposition, denn dadurch werde ich besser, denn ich werde schärfer kontrolliert als Regierung. Aber ich weiß auch, dass in den Sachfragen wir ganz eng beieinander stehen, auch mit den anderen Parteien, und dass wir sagen, es geht uns darum, die massiven Probleme dieses Landes zu lösen, und da hat keine Parteifarbe den Stein der Weisen gefunden. Ich denke auch, dass wir in der nahen Zukunft viel stärker um Lösungen gefragt sind, also nicht mehr reine Blockadehaltung oder diese Schuldzuweisung von einer Partei zur anderen, sondern es wird gefragt werden, was ist das Konzept, das ihr vorlegt? Und da hat gerade die CDU in den letzten Monaten Hervorragendes geleistet, aus der Opposition heraus Konzepte auf den Tisch gelegt, die nicht jedermann passen – das ist mir völlig klar -, aber immerhin gezeigt, wir haben ganz klare Vorstellungen darüber, was die Antworten für die Zukunft sein sollen.
Liminski: Eine letzte Frage. Adenauer wurde in seinem letzten Fernsehinterview gefragt, welche Eigenschaft am wichtigsten für einen Politiker sei, und er antwortete, am wichtigsten ist der Mut. Glauben Sie nicht, dass Ihrer Zunft diese Eigenschaft in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen ist? Man hat gelegentlich den Eindruck, gerade was die Familienpolitik angeht, der öffentliche Diskurs ist Wortgeklingel, entscheidend sind nur die Umfragewerte.
Von der Leyen: Also zunächst einmal muss man zu dem wunderbaren, großen Adenauer sagen, dass damals, als er mittendrin war im politischen Handeln – nehmen wir nur das Stichwort Rente -, er auch entschieden hat aus der Sicht der Dinge, wie sie damals war, denn es ist ihm damals geraten worden, die Erziehungsleistung in der Rente stärker zu verankern, und er hat es nicht getan, weil er damals offensichtlich nicht vorhergesehen hat, was auf uns zukommt. Soweit zum Stichwort Mut. Es ist oft einfach Wissen dabei, aber Mut ist, gekoppelt mit Zuversicht, eines der wichtigsten Attribute für die Zukunft.
Liminski: Besten Dank für das Gespräch.