Dienstag, 19. März 2024

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Cem Özdemir (Grüne)
"Die CSU will diesen Murks Maut in die Länge ziehen"

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir wirft Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) vor, bei der Klärung der Kosten für die gescheiterte Pkw-Maut auf Zeit zu spielen. Die Entschädigungszahlungen für die gekündigten Betreiberfirmen könnten bis zu einer halben Milliarde Euro betragen, sagte Özdemir im Dlf.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 24.07.2019
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir (Imago)
Die Steuerzahler hätten ein Recht zu erfahren, welche Kosten entstanden seien, sagte Özdemir vor der heutigen Befragung des Verkehrsministers in einer Sondersitzung des Verkehrsausschusses im Bundestag. Er betonte, er gehe davon aus, dass das Ministerium einen genauen Überblick habe.
Özdemir kritisierte zudem, Scheuer hätte mit der Vergabe der Beraterverträge für die Maut-Planung noch ein halbes Jahr warten müssen - bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die Rechtmäßigkeit der Maut. Von der Beantwortung dieser beiden Fragen zu den Kosten und den Gründen für die frühe Auftragsvergabe hänge ab, ob die Oppositon im Bundestag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Maut-Desaster fordere.

Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Das äußerst umfangreiche Vertragswerk zur Mauterhebung steht also seit vergangener Woche für alle zugänglich im Internet, auch für Cem Özdemir, Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag. Er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!
Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!
Müller: 2.650 Seiten im Netz, geht noch mehr Transparenz?
Özdemir: Ja, er hat jetzt auf unseren Druck hin, auf Druck der Opposition diese Verträge veröffentlicht. Aber die zwei wesentlichen Fragen, die wir von Anfang an gestellt haben, die hat er bis jetzt nicht beantwortet. Und davon hängt auch ab, ob wir gemeinsam mit der anderen demokratischen Opposition einen Untersuchungsausschuss fordern oder nicht. Es ist erstens die Frage, wieso hat Andreas Scheuer die Beraterverträge 2018 abgeschlossen, Auftragsvolumen von über zwei Milliarden Euro, obwohl das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs noch ausstand. Und die zweite Frage: Wie viel kostet die gescheiterte CSU-Maut die Steuerzahler. Beide Fragen, da hat die Öffentlichkeit, aber auch das Parlament das Recht darauf zu erfahren, was diese von der Wissenschaft schon als nicht durchführbare Idee uns alle kostet und warum.
"Dieses halbe Jahr hätten wir warten können"
Müller: Herr Özdemir, Sie sind ja seit vielen Jahren Realpolitiker. Und Sie kennen ja auch Regierungsverantwortung. Was wäre denn passiert, wenn es dieses Urteil zum Positiven gegeben hätte, also aus Sicht von Andreas Scheuer, und hätte noch keinerlei Vorbereitungen getroffen, hätte noch nichts in die Wege geleitet? Dann hätten alle gesagt, und auch Sie hätten das vermutlich gesagt: Das kann ja jetzt nicht wahr sein, jetzt fangen wir hier bei null an und müssen noch jahrelang drauf warten.
Özdemir: Wenn es, was weiß ich, zehn Jahre, lassen Sie es zwei Jahre gewesen wären zwischendrin, dann wäre die Frage wahrscheinlich berechtigt gewesen. Wobei wir immer noch gegen die Maut gewesen wären, weil ich nicht glaube, dass es eine nationale Lösung für das Thema gibt. Aber das war ja nicht Ihre Frage. Gehen wir doch zum zeitlichen Kontext: Am 10.10.2018 gab Verkehrsminister Scheuer im "Münchner Merkur" bekannt, dass der Auftrag zur Kontrolle der Pkw-Maut an den österreichischen Anbieter Kapsch vergeben wurde, Vertragslaufzeit zwölf Jahre, Vergütung 120 Millionen. Und jetzt kommt das Entscheidende: Ende Dezember 2018 gab das Ministerium bekannt, dass auch die Erhebung der Pkw-Maut vergeben wurde an ein Konsortium aus dem österreichischen Anbieter Kapsch und dem deutschen Anbieter Eventim, Auftragsvolumen über zwölf Jahre über zwei Milliarden. Die EuGH-Entscheidung, die ist aber vom 18.06.2019, also ein knappes halbes Jahr später. Das halbe Jahr später, da hätte ihn niemand dafür kritisiert, wenn er gesagt hätte: Ich muss aufpassen, es geht hier um Steuerzahlergeld, große Summen, das warten wir jetzt erst mal ab. Ich glaube, im Gegenteil, da hätten ihm alle gedankt dafür, dass wir es mit einem vorausschauenden Minister zu tun haben. Haben wir aber nicht.
Müller: Verstehe ich trotzdem nicht. Also das heißt, er hätte noch ein paar Monate warten sollen und dann zuschlagen.
Özdemir: Ein halbes Jahr, wir reden wie gesagt nicht über Jahre. Das Ding hat Jahre gedauert, dieses halbe Jahr hätten wir warten können, um Rechtssicherheit herzustellen. Das Problem war doch, lassen Sie uns es offen sagen, er wusste, diese Wahlkampfidee aus Bayern, die musste er eben präsentieren, um sich entsprechend abfeiern zu lassen. Aber so arbeitet man als Minister nicht, wenn es nicht ums eigene Geld geht.
"CSU hat viele Warnungen von Experten in den Wind geschlagen"
Müller: Herr Özdemir, gilt das jetzt immer, können wir das festhalten, also ohne Rechtssicherheit kein politisches Handeln.
Özdemir: Nicht, wenn ein halbes Jahr später das Urteil des EuGH aussteht. Und jetzt machen wir es doch ein bisschen konkreter. Es ist ja jetzt nicht so, dass alle sich einig waren, diese Maut ist rechtssicher. Die CSU hat viele Warnungen von Experten in den Wind geschlagen. Scheuer war es nicht zu billig, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages auf Twitter 2017, ich darf zitieren, "fachliche Ignoranz" vorzuwerfen. Er wollte unbedingt diese Maut und hat damit auch ein verstörendes Verhältnis zur Wissenschaft deutlich gemacht. Ich finde, es ist auch eine Entschuldigung bei den Kollegen des Wissenschaftlichen Dienstes notwendig, und die CSU sollte sich mal überprüfen, wie ihr Verhältnis zur Wissenschaftlichkeit ist.
Müller: Muss die EU-Kommission sich auch entschuldigen, weil die hat im Grunde ja grünes Licht dann gegeben?
Özdemir: Sie hat eben kein grünes Licht gegeben, sondern die EU-Kommission hat in einem ganz spezifischen Fall mit Dobrindt gesagt, dass man weiterarbeiten kann. Aber noch mal: Das Urteil stand aus. Spannend wäre ja auch zu hören, was im eigenen Haus dort für Warnungen entsprechend möglicherweise gegeben wurden. Herr Scheuer hat sich über all diese Warnungen, über das, was ja sogar die Schwesterpartei gesagt hat – erinnern Sie sich an die Kanzlerin im Wahlkampf noch, über das - was der Koalitionspartner gesagt hat, über das, was nahezu die gesamte veröffentlichte Meinung gesagt hat, hinweggesetzt, weil er wollte, dass diese Idee, die in einem Bierzelt in Bayern geboren wurde, in ein Gesetzesblatt gegossen wird. Ich hab auch schon im Bierzelt viel erzählt, wenn der Tag lang ist, aber ich würde niemals auf die Idee kommen, dass das, was im Bierzelt gesagt wird, sich in einem Gesetz wiederfindet.
"Das bezahlen wir alle als Steuerzahler"
Müller: Sie haben ja auch nicht immer in Ihrer Karriere auf die Warnungen der Kanzlerin gehört, um das noch mal zu sagen.
Özdemir: Ich gehöre allerdings auch nicht der CDU/CSU an, und ich will noch mal sagen, diese Politik, das ist ja jetzt nicht etwas, was die CSU bezahlt. Das bezahlen wir alle als Steuerzahler wider besseres Wissen. Und dass der Minister jetzt die Vorwärtsstrategie wählt, indem er jetzt versucht, den Schadensersatzforderungen zu entgehen, und einen Rechtsstreit vom Zaun bricht, das sorgt doch dafür, dass wir jetzt diese Frage über Jahre hinweg in die Länge ziehen, sodass die politische Verantwortung an den möglichen Nachfolger gegeben wird. Aber auch da entsteht ja Geld. Wir reden über 1,9 Milliarden allein für die Gebühren, die Anwaltskosten 10 bis 20 Millionen pro Jahr, das Verfahren dürfte mindestens zwei bis drei Jahre dauern, das heißt, in der nächsten Legislaturperiode wird es entschieden – die CSU will diesen Murks Maut in die Länge ziehen. Jetzt ist einfach mal genug, reinen Tisch machen, die Fakten auf den Tisch, und das erwarte ich heute in der Sitzung.
Müller: Herr Özdemir, jetzt führt Andreas Scheuer ja mehrere Gründe auf für diese Kündigung des Vertrages, unmittelbar nach dem Urteil. Ordnungs- und Europarecht ist ein Punkt, die Leistungen der Auftragnehmer, so heißt es, und das Verhalten der Unternehmen nach der ausgesprochenen Kündigung hätten eben auch zu wünschen übrig gelassen. Und die Leistung des Vertragspartners, sagte Scheuer unter anderem, hat auch nicht gestimmt und Fristen sind überschritten worden. Also klare Argumente aufseiten des Verkehrsministers, dass die betroffenen Unternehmen, wie er sagt, jedenfalls nicht korrekt und zuverlässig gearbeitet haben.
Özdemir: Er stellt es ja so dar, wie wenn er sowieso vorgehabt hätte, die Verträge zu kündigen. Er hat das dann in der Ausschusssitzung wieder relativiert, als er mit seiner Aussage konfrontiert war, so nach dem Motto, er wäre ja schon fast dankbar gewesen, dass das EuGH-Urteil kommt. Mir scheint das eine nachgeschobene Begründung zu sein, um da eben nicht ganz so deppert auszusehen. Das alles überzeugt die Opposition nicht. Solange diese zwei Fragen nicht beantwortet sind, die ich gesagt habe: Warum ein halbes Jahr vorher, Auftragsvolumen zwei Milliarden, obwohl man auf das Urteil hätte warten können, und zweitens, ich will die Kosten, ich will sie vollständig beziffert haben. Die Steuerzahler haben ein Recht darauf zu erfahren, wie viel uns das Ganze kostet.
"Viel Arbeit für die Opposition"
Müller: Aber das kann er doch jetzt noch nicht wissen, er muss doch erst mal diesen Prozess, diese Auseinandersetzung mit den Unternehmen führen.
Özdemir: Wir helfen ihm doch dabei, wir bieten ihm doch Amtshilfe an, indem er die Unterlagen alle vollständig öffentlich macht. Dann können wir das selber entsprechend überprüfen, wenn wir wissen beispielsweise, alle internen Vermerke und Ministervorlagen, die Dokumente zum Risikomanagement, die gesamte digitale und analoge Kommunikation mit den Beratern, mit den Auftragnehmern, mit den Maut-Betreibern, und schließlich die Vertragsvarianten – Entwürfe zu den Dokumenten und Verhandlungsrunden. Viel Arbeit für die Opposition, aber wir sind bereit, uns diese Arbeit zu machen, denn sonst macht es keiner.
Müller: Wenn Sie das alles gelesen habe, können Sie uns dann vor Andreas Scheuer verraten, wie hoch die Entschädigungen werden?
Özdemir: Ich gehe schon davon aus, dass die CSU und das CSU-geführte Ministerium da ein ganz guten Überblick drüber hat, aber die Zahl dürfte Sie genauso erschrecken wie sie die Öffentlichkeit erschrecken würde. Das, was man heutzutage ja schon weiß, ist ja schon erschreckend genug, was die Summen angeht. Und man versucht jetzt eben, wie gesagt, die Flucht nach vorne anzutreten, indem man Zeit rausschindet und jetzt erst einmal guckt, dass man das auf der Zeitachse nach vorne verschiebt, bis die nächste Amtszeit beginnt. Aber ich sag nochmals: Das muss man der Fairness halber auch sagen, das ist ja nicht nur Minister Scheuer, sondern die Idee – das hat man in Ihrem Beitrag vorher gehört – stammt ursprünglich vom jetzigen Innenminister und damaligen Ministerpräsidenten in Bayern, Herrn Seehofer. Herr Dobrindt hat vier Jahre ein komplettes Ministerium lahmgelegt mit dieser Maut, anstatt sich um die Frage zu kümmern, Dieselskandal, Elektrifizierung Eisenbahn, Verkehrswende…
"Schadenersatzforderungen bis zu einer halben Milliarde Euro"
Müller: Aber das sieht die CSU ja anders, Herr Özdemir. Ich muss Sie aber noch mal unterbrechen: Sagen Sie mal, welche Summe Sie im Kopf haben, damit wir das ein bisschen einordnen können. 400 Millionen, 600 Millionen, in welcher Dimension bewegen wir uns?
Özdemir: Na ja, wir haben doch gerade gehört, dass allein die Vergabe noch mal mit zwei Milliarden taxiert, und wenn jetzt die Schadensersatzforderungen kommen, dann geht man davon aus, bis zu einer halben Milliarde Euro, was die Ausfälle angeht, die die da jetzt einfordern. Das sind schon mal stattliche Summen, und wenn man sieht, wie viel Geld uns fehlt im Haushalt – manchmal für wenige Kilometer elektrifizierte Eisenbahnstrecken und für andere Dinge –, da würden, glaube ich, vielen Leuten vor Ort Dinge einfallen, für die man das Geld sinnvoller ausgeben könnte. Insofern, es gibt ja jetzt auch Kritik, warum der Ausschuss da eine Sondersitzung macht.
Müller: Kostet auch Geld.
Özdemir: Kostet auch Geld, aber es ist auch wichtig, dass wir einen Minister nicht einfach agieren lassen, sondern schauen, wie er mit dem Geld umgeht. Uns stellt sich natürlich die Frage, Herr Scheuer, warum hat er das Problem von seinem Vorgänger Dobrindt und von seinem Innenminister Seehofer zu seinem Problem gemacht durch die Vergabe. Aber es ist klar, da kommt er jetzt nicht mehr raus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.