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Chancen der Türkei auf einen EU Beitritt

    Spengler: Die Türkei will also in die EU und nicht zuletzt um die politischen Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, hat Ministerpräsident Erdogan dutzende Gesetze verändern lassen. Bei uns am Telefon ist Matthias Wissman, CDU-Abgeordneter und Vorsitzender des Europaauschusses des Deutschen Bundestags. Guten Tag, Herr Wissmann.

    Wissmann: Guten Tag, Herr Spengler.

    Spengler: Die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei, die Zulassung der kurdischen Sprache, die Entschärfung der Anti-Terror-Gesetze, die Verbesserung der Meinungsfreiheit - das hat man doch noch vor zwei, drei Jahren nicht für möglich gehalten und man kann es heute eigentlich gar nicht laut genug loben, oder?

    Wissmann: Ich glaube schon, dass man feststellen kann, dass mindestens in der äußeren Form in der Türkei Bewegungen hin zu mehr Rechtsstaat. Aber die Frage ist zum einen, wie viel von diesen postulierten Überlegungen ist in der Praxis angekommen und wird die Türkei weitere Fortschritte machen. Wenn heute morgen Amnesty International türkische Menschenrechtsverstöße kritisiert und darauf hinweist, dass im Bereich der freien Meinungsäußerung und Folter noch vieles getan werden muss, dann ist das ja nur ein Beispiel. Nächstes Jahr wird die Europäische Kommission einen Bericht abgeben müssen über den Fortschritt in der Türkei und da werden diese Bereiche Rechtsstaat, wie weit ist die Türkei wirklich gekommen und ein zweites Thema: wie stark hilft die Türkei dabei mit, das Zypern-Problem zu lösen, eine große Rolle spielen und ich kann mir ohne weitere dramatische Fortschritte in diesen beiden Gebieten die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht vorstellen.

    Spengler: Warum nicht? Es ist doch ein Unterscheid, ob man über den Beitritt verhandelt oder ob man schon beitritt. Es wäre ja auch noch im Laufe der Verhandlungen Zeit für die Türkei, nachzubessern.

    Wissmann: Ich glaube, dass man, bevor man überhaupt Beitrittsverhandlungen aufnimmt, sich die Frage stellen muss: Kann die EU ein Land wie die Türkei integrationsmäßig verkraften und welche Folgen hat das auch für weitere potentielle Beitrittskandidaten in der Zukunft. Was wollen wir in einigen Jahren der Ukraine sagen, wenn sie auf die Idee käme, in die EU zu wollen, was Russland? Das heißt, ich bin gegen jeden Kulturkampf und jede ideologische Auseinandersetzung mit dem Thema, aber wir müssen uns fragen: Hält eigentlich eine Schicksalsgemeinschaft wie die EU es aus, dass man sie so überdehnt, dass sie möglicherweise gar nicht mehr entscheidungsfähig ist und ich glaube, würde man die Türkei aufnehmen, dann ist eines ganz klar, dann wird am Ende sich ein Kerneuropa herausbilden, eine kleine Gruppe von Nationen innerhalb der EU, die dann voranmarschiert und die weitere EU bleibt eine gehobene Freihandelszone und wird ihre Integrationskraft verlieren.

    Spengler: Die Frage, ob die Union die Türkei verkraftet ist sicherlich eine berechtigte, aber die stellt sich nicht erst gestern. Warum hat man der Türkei über Jahrzehnte und zwar auch Sie, als Sie noch die Regierung gestellt haben, im Prinzip die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt?

    Wissmann: Ich glaube persönlich, dass es ein strategischer Fehler war, eigentlich seit den Sechzigerjahren, dass man der Türkei gegenüber immer Eindrücke erweckt hat, die man eigentlich nicht hat unterlegen können.

    Spengler: Warum hat man das gemacht?

    Wissmann: Weil, so glaube ich, die Diplomaten dieser Welt gelegentlich im Umgang miteinander freundlicher sind, als es die Realität erlaubt und ich stehe nicht an, zu sagen, dass man damit natürlich auch in ein strategisches Dilemma gerät, weil man vermeiden muss, dass es in der Türkei einen Rückfall gibt in eine totalitäre militaristische Richtung. Deswegen glaube ich, der Weg aus der Problematik könnte dadurch beschritten werden, dass die europäischen Regierungschefs sich baldmöglichst ein Konzept überlegen, wie man der Türkei eine strategische Partnerschaft mit Europa anbietet, die ihr viele Vorteile einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit eröffnet, ohne sie zum Vollmitglied zu machen und ein solches Sonderverhältnis mit einigen unserer Nachbarländer weit über die Assoziierung hinaus, könnten wir ja eines Tages auch Russland anbieten, der Ukraine, Weißrussland. Bisher haben wir nicht genügend Phantasie entwickelt, überall in Europa, uns etwas zu überlegen, was der Türkei und ihren Interessen entgegenkommt, ohne sie zum Vollmitglied der EU zu machen. Ein Sonderverhältnis mit Europa, das ihr auch eine echte Mitsprache in der zukünftigen strategischen Orientierung Europas gibt.

    Spengler: Sie haben eben gesagt, dass natürlich das Argument immer gewesen ist, eine Destabilisierung dieses strategisch ja auch wichtigen Partners der NATO zu verhindern. Dass das das Argument war, weswegen man der Türkei das immer in Aussicht gestellt hat. Ist jetzt, wo die Türkei endlich Fortschritte macht und man ihr jetzt sagen würde, dass sie doch nicht rein darf die Gefahr einer Destabilisierung nicht viel größer?

    Wissmann: Natürlich gibt es die Gefahr, deswegen muss man mit Klugheit und Augenmaß vorgehen und kann nicht einfach die Türkei abweisen, sondern muss ihr etwas interessantes drittes in Aussicht stellen. Im übrigen verhält sich aber die Türkei bis heute auch unter der Regierung Erdogan ausgesprochen doppelgesichtig. Sie hat eine Einigung in der Zypern-Frage in den letzten Monaten verhindert, wie wir von allen Fachleuten vor Ort wissen und auf der anderen Seite in rechtstaatlichen Fragen einige Fortschritte in Aussicht gestellt. Vollkommene Klarheit über die wahre Orientierung der gegenwärtigen Regierung der Türkei ist bis heute jedenfalls nicht in der Praxis zu erkennen.

    Spengler: Könnten Sie noch etwas näher ausführen, was Sie sozusagen mit dem dritten Weg meinen, was man also der Türkei wirklich anbieten könnte, wo sie dann mit zufrieden sollte?

    Wissmann: Wir haben zur Zeit das Problem, dass wir auf der einen Seite die Assoziierung verschiedener Staaten mit der EU haben und auf der anderen die Vollmitgliedschaft. Ich könnte mir vorstellen, dass wir einigen Ländern eine Partnerschaft mit Europa anbieten, die ihnen durchaus auch Einflussmöglichkeiten in der Gestaltung der gemeinsamen Politik gibt und sie nicht nur zu Handelspartnern macht und gleichzeitig über einen Prozess von Jahren praktisch eine volle Integration in den europäischen Binnenmarkt verspricht, so dass diese Länder politische und wirtschaftliche Vorteile bekommen und dass beispielsweise die Türkei insofern zu einem Partner Europas wird, ohne dass wir alle Risiken einer vollen Hereinnahme der Türkei in die EU tragen müssen und zu den Risiken gehört beispielsweise ein vollkommen offener Arbeitsmarkt, den wir gegenwärtig nicht verkraften könne und viele andere Aspekte mehr.

    Spengler: Das heißt letztlich, die deutsche und europäische Politik müsste sich ehrlicher machen?

    Wissmann: Das meine ich nicht erst seit heute, aber wir dürfen nicht einfach die Türkei abweisen sondern müssen ihr einen interessanten dritten Weg in Aussicht stellen, der eine Chance gibt, ihren Wohlstand zu mehren und gleichzeitig zu einem echten Partner der EU zu werden.

    Spengler: Danke Ihnen für das Gespräch. Das war Matthias Wissmann, CDU-Abgeordneter und Vorsitzender des Europaauschusses im Deutschen Bundestag.

    Link: Interview als RealAudio