Verheugen: Guten Morgen.
Gerner: Gleich mit zehn Ländern aus Mittel- und Osteuropa sowie Malta und Zypern will man heute über den Beitritt nicht direkt verhandeln, aber sozusagen einladen zu Beitrittsge-sprächen. Soll die EU im nächsten Jahrhundert auf den ganzen Kontinent ausgedehnt wer-den?
Verheugen: Erstens verhandeln wir bereits mit sechs und es wird heute beschlossen werden, dass Anfang nächsten Jahres die Verhandlungen mit weiteren sechs aufgenommen werden. Das ist nicht nur eine Einladung; das ist der Beginn der offiziellen Beitrittsverhand-lungen. Wir werden dann in absehbarer Zeit also 27 Mitglieder haben. Wo die Grenzen der Europäischen Union liegen, das ist eine wirklich spannende Frage. Ich selber bin der Meinung, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, dass es unser Ziel sein sollte, die Europäische Union auf das ganze Gebiet auszudehnen, das wir geographisch als Europa bezeichnen, sondern dass wir für andere Gebiete Europas, die dazugehören wollen, aber heute noch nicht dazugehören, auch andere Formen der Integration, der Kooperation, der Zusammenarbeit finden können.
Gerner: Aber die Frage ist ja, ob dem Bürger nicht einmal mehr aufgezwängt wird, was er möglicherweise nicht will. Stichwort Osterweiterung. Die ist in Deutschland den Umfragen nach alles andere als populär. Sie kennen die Ängste von möglichem Zustrom billiger Ar-beitskräfte bis hin zum Import von Kriminalität. Was sagen Sie dann?
Verheugen: Da muß ich zunächst einmal sagen, dass gerade Deutschland am besten verstehen sollte, dass alle europäischen Völker das Recht haben, in einer Gemeinschaft zu leben, in der die Demokratie, der Rechtsstaat und der Frieden dauerhaft gesichert sind. Ge-rade in Deutschland sollte man auch wissen, dass einige dieser Länder nur deshalb nicht dazugehören, weil das die Folge des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges war. Zweiter Punkt: Erweiterung bringt Vorteile, und zwar unmittelbar für beide Seiten. Ein Gewinn an politischer Stabilität ist das eine, aber auch ein Gewinn an ökonomischen Chancen. Alle Untersuchungen, die wir kennen, und auch alle praktischen Ergebnisse der bisherigen Er-weiterungsrunden zeigen, dass Erweiterungen sich positiv auf das Wachstum und auf die Arbeitsplätze auswirken. Die Ängste in Deutschland sind unbegründet.
Gerner: Sie sind gleichwohl da!
Verheugen: Ja. Es gibt sie in dieser Form fast nur in Deutschland und in Österreich und das liegt daran, dass Deutschland und Österreich eben an die Staaten grenzen, die in Ost- und Mitteleuropa jetzt beitreten sollen. Man muß darauf aber wirklich sorgfältig eingehen und man kann dort nicht einfach mit einer Vision antworten. Was die Zuwanderung von Arbeit-nehmern angeht so ist immer klar gewesen - und ich bin wirklich erstaunt darüber, dass das nicht allmählich begriffen wird -, dass hier mit Übergangsfristen gearbeitet werden wird und dass die volle Freizügigkeit erst dann eingeführt wird, wenn wir sicher sind, dass es keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten hat.
Gerner: Wie lange werden diese Übergangsfristen denn sein, länger als die acht Jahre, die es für Spanien gebraucht hat?
Verheugen: Im Falle Spaniens hat es Übergangsfristen gegeben. Sie sind aber über-haupt nicht gebraucht worden, weil sich herausgestellt hat, dass es eben diesen Wande-rungsdruck dann aus Spanien in die alten Mitgliedsländer überhaupt nicht gegeben hat. Das-selbe galt für Portugal. Wir werden über die Länge und die Ausgestaltung der Übergangsfri-sten am Ende der Verhandlungen reden, doch nicht vorher, weil wir erst einmal wissen müs-sen, wie die wirtschaftliche Lage in der Union und in den Beitrittsländern zum Zeitpunkt des Beitrittes wirklich ist. Ich kann hier aber wirklich eine Garantie abgeben: Wir werden nur dann Länder zum Beitritt in die Europäische Union einladen und die Entscheidungen treffen, wenn wir sicher sind, ddasswir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Beitritts auf beiden Seiten auch beherrschen.
Gerner: Herr Verheugen, steht fest, dass die Türkei in Helsinki den Status eines Bei-trittskandidaten erhält?
Verheugen: Nein, das steht nicht fest. Das ist eines der spannenden Gipfelthemen. Alle Vorschläge der Kommission, die auf meinen Vorschlägen zum Thema Erweiterung beruhen, werden wohl ohne Probleme akzeptiert werden, aber die Frage Türkei ist offen bis zum letz-ten Moment. Es gibt noch eine Reihe von Schwierigkeiten zu überwinden, die damit zusam-menhängen, dass Griechenland bestimmte Garantien wünscht, was ich übrigens verstehen kann, denn für Griechenland ist das eine sehr, sehr weitreichende Entscheidung. Wir haben inzwischen aber eine Lage, wo tatsächlich die 14 anderen der Meinung sind, man sollte jetzt einen ernsthaften Versuch machen.
Gerner: Immerhin ist das ja eine bedeutende Trendwende beziehungsweise Kehrtwen-de, die Sie beim Thema Türkei machen. Warum glauben Sie auf einmal, dass die Türkei un-bedingt ins Boot genommen werden muß?
Verheugen: Weder eine Kehrtwende noch ist irgend etwas Neues daran. Das ist ziem-lich das älteste, was es in der Europäischen Union gibt. Die Türkei hat die Perspektive der Vollmitgliedschaft seit 36 Jahren. Die Türkei hat schon länger das Versprechen, Mitglied werden zu können, als ein großer Teil derjenigen, die heute Mitglied sind, überhaupt drin sind. Und es ist immer wieder bestätigt worden, dass die Türkei diese Perspektive hat.
Gerner: Das Risiko, das Helmut Kohl einmal gesehen hat, dass es ein islamischer Staat in einem Klub christlicher Länder wird, sehen Sie nicht?
Verheugen: Helmut Kohl hat in Luxemburg - das ist mal gerade zwei Jahre her - zuge-stimmt, dass die Türkei in den Erweiterungsprozeß aufgenommen wird. Sie ist ja bereits drin. Sonst wäre ich ja für die Türkei gar nicht zuständig. Es geht jetzt nur darum, dass für die Tür-kei eine Heranführungsstrategie entwickelt wird wie für die anderen auch, weil nur eine solche klare Heranführungsstrategie es uns erlaubt, an die Türkei auch konkrete Erwartungen zu richten und der Türkei zu sagen, welche Bedingungen sie konkret erfüllen muß, damit über-haupt die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können. Wir haben es hier ja mit zwei Zielsetzungen zu tun. Das eine ist: Wir wollen eine Türkei, die fest im Westen verankert ist, aus Gründen unserer eigenen Sicherheit und unserer eigenen Stabilität. Das muß man endlich mal begreifen, dass es hier nicht darum geht, der Türkei ei-nen Gefallen zu tun, sondern dass wir uns selber einen Gefallen tun. Jeder kann sich ja leicht vorstellen, was mit der europäischen Sicherheit passieren würde, wenn die Türkei instabil würde. Dagegen ist das, was wir im Kosovo erlebt haben, dann wirklich eine Kleinigkeit.
Gerner: Aber was berechtigt zur Hoffnung, dass sich auch in Punkto Menschenrechte mit einem Beitrittskandidatenstatus die Sachen zum besseren ändern?
Verheugen: Es ist eine klare Sache, dass die Türkei die politischen Kriterien für den Beitritt anerkannt hat. Diese Kriterien sind eindeutig: ein volles demokratisches System, Rechtstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte und der Minderheiten. Wir werden das im Zuge dieser Heranführungsstrategie, von der ich gesprochen habe, verbinden mit einem tief-greifenden Reformprozeß in der Türkei. Wenn dieser Reformprozeß in der Türkei nicht in Gang kommt und sich nicht entwickelt, dann erreichen wir das Stadium von Beitrittsverhand-lungen überhaupt nicht. Ich verstehe die Aufregung, die hier in Deutschland besteht, nicht. Es ist die einzige Chance, die wir haben, auf die Türkei den Einfluß zu nehmen, den wir seit lan-gem nehmen wollen, und eine demokratische und rechtstaatliche Türkei zu kriegen, was ge-rade für Deutschland angesichts seines hohen türkischen Bevölkerungsanteils eine Frage von ganz entscheidender Bedeutung ist.
Gerner: Herr Verheugen, Stichwort Tschetschenienkrieg. Man ist an einem Wende-punkt, der Westen im Verhältnis zu Russland mit dem Ultimatum an die Bevölkerung von Grosny angelangt. Wird es Sanktionen gegen Russland auf dem Gipfel von Helsinki geben?
Verheugen: Es muß auf jeden Fall eine Antwort geben, einen klaren Standpunkt der Europäischen Union. Ich muß Ihnen leider sagen, dass ich nicht vorhersagen kann, zu wel-chem Ergebnis die Staats- und Regierungschefs in dieser Frage kommen werden.
Gerner: Halten Sie denn das Sanktionspotential oder das Reaktionspotential bisher für ausgeschöpft?
Verheugen: Das Reaktionspotential ist ganz sicher noch nicht ausgeschöpft.
Gerner: An was denken Sie denn, wenn Sie das sagen?
Verheugen: Sie wollen mich aufs Glatteis führen. Sie wissen, dass dies ein Gebiet ist, für das ich nicht verantwortlich bin. Das haben die Staats- und Regierungschefs zu entschei-den, und die sind sehr empfindlich, wenn sie am Morgen, bevor sie anfangen zu tagen, von einem Mitglied der Kommission hören, was sie zu tun haben.
Gerner: Wird man denn noch einmal darauf drängen, dass die Delegation der OSZE wie versprochen, aber bisher noch nicht erfüllt, einreisen darf?
Verheugen: Das halte ich für sehr wahrscheinlich und auch für notwendig.
Gerner: Macht es Sie aber nicht mißtrauisch, dass Moskau trotz der Zusagen auf dem Gipfel in Istambul neulich dort nichts getan hat?
Verheugen: Das macht einen nicht nur mißtrauisch; das macht einen zornig und zeigt, dass in Russland ganz offensichtlich die innenpolitische Zielsetzung dieses Tschetschenien-Krieges für deutlich wichtiger genommen wird als eine mögliche Gefährdung der internatio-nalen Beziehungen.
Gerner: Was können Sie in drei Sätzen von diesem Helsinki-Gipfel an die Öffentlichkeit versprechen?
Verheugen: Zuerst einmal kommt ein klares und überzeugendes Signal in bezug auf die politische Einigung des europäischen Kontinents. Das ist das Thema Erweiterung. Zum zweiten kommt ein klares und eindeutiges Reformbekenntnis. Die europäischen Institutionen werden reformiert werden, damit sie auch im nächsten Jahrhundert funktionieren. Drittens wird Europa einen großen Schritt vorwärts machen in Richtung auf die Übernahme von mehr Verantwortung im Bereich von Verteidigung und Sicherheit. Das sind die drei Dinge, die si-cher sind, und die anderen Fragen sind offen.
Gerner: Günter Verheugen war das, EU-Kommissar für die Erweiterung der Union nach Mittel- und Osteuropa. - Ganz herzlichen Dank und erfolgreiche Gespräche in Helsinki.
Gerner: Gleich mit zehn Ländern aus Mittel- und Osteuropa sowie Malta und Zypern will man heute über den Beitritt nicht direkt verhandeln, aber sozusagen einladen zu Beitrittsge-sprächen. Soll die EU im nächsten Jahrhundert auf den ganzen Kontinent ausgedehnt wer-den?
Verheugen: Erstens verhandeln wir bereits mit sechs und es wird heute beschlossen werden, dass Anfang nächsten Jahres die Verhandlungen mit weiteren sechs aufgenommen werden. Das ist nicht nur eine Einladung; das ist der Beginn der offiziellen Beitrittsverhand-lungen. Wir werden dann in absehbarer Zeit also 27 Mitglieder haben. Wo die Grenzen der Europäischen Union liegen, das ist eine wirklich spannende Frage. Ich selber bin der Meinung, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, dass es unser Ziel sein sollte, die Europäische Union auf das ganze Gebiet auszudehnen, das wir geographisch als Europa bezeichnen, sondern dass wir für andere Gebiete Europas, die dazugehören wollen, aber heute noch nicht dazugehören, auch andere Formen der Integration, der Kooperation, der Zusammenarbeit finden können.
Gerner: Aber die Frage ist ja, ob dem Bürger nicht einmal mehr aufgezwängt wird, was er möglicherweise nicht will. Stichwort Osterweiterung. Die ist in Deutschland den Umfragen nach alles andere als populär. Sie kennen die Ängste von möglichem Zustrom billiger Ar-beitskräfte bis hin zum Import von Kriminalität. Was sagen Sie dann?
Verheugen: Da muß ich zunächst einmal sagen, dass gerade Deutschland am besten verstehen sollte, dass alle europäischen Völker das Recht haben, in einer Gemeinschaft zu leben, in der die Demokratie, der Rechtsstaat und der Frieden dauerhaft gesichert sind. Ge-rade in Deutschland sollte man auch wissen, dass einige dieser Länder nur deshalb nicht dazugehören, weil das die Folge des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges war. Zweiter Punkt: Erweiterung bringt Vorteile, und zwar unmittelbar für beide Seiten. Ein Gewinn an politischer Stabilität ist das eine, aber auch ein Gewinn an ökonomischen Chancen. Alle Untersuchungen, die wir kennen, und auch alle praktischen Ergebnisse der bisherigen Er-weiterungsrunden zeigen, dass Erweiterungen sich positiv auf das Wachstum und auf die Arbeitsplätze auswirken. Die Ängste in Deutschland sind unbegründet.
Gerner: Sie sind gleichwohl da!
Verheugen: Ja. Es gibt sie in dieser Form fast nur in Deutschland und in Österreich und das liegt daran, dass Deutschland und Österreich eben an die Staaten grenzen, die in Ost- und Mitteleuropa jetzt beitreten sollen. Man muß darauf aber wirklich sorgfältig eingehen und man kann dort nicht einfach mit einer Vision antworten. Was die Zuwanderung von Arbeit-nehmern angeht so ist immer klar gewesen - und ich bin wirklich erstaunt darüber, dass das nicht allmählich begriffen wird -, dass hier mit Übergangsfristen gearbeitet werden wird und dass die volle Freizügigkeit erst dann eingeführt wird, wenn wir sicher sind, dass es keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten hat.
Gerner: Wie lange werden diese Übergangsfristen denn sein, länger als die acht Jahre, die es für Spanien gebraucht hat?
Verheugen: Im Falle Spaniens hat es Übergangsfristen gegeben. Sie sind aber über-haupt nicht gebraucht worden, weil sich herausgestellt hat, dass es eben diesen Wande-rungsdruck dann aus Spanien in die alten Mitgliedsländer überhaupt nicht gegeben hat. Das-selbe galt für Portugal. Wir werden über die Länge und die Ausgestaltung der Übergangsfri-sten am Ende der Verhandlungen reden, doch nicht vorher, weil wir erst einmal wissen müs-sen, wie die wirtschaftliche Lage in der Union und in den Beitrittsländern zum Zeitpunkt des Beitrittes wirklich ist. Ich kann hier aber wirklich eine Garantie abgeben: Wir werden nur dann Länder zum Beitritt in die Europäische Union einladen und die Entscheidungen treffen, wenn wir sicher sind, ddasswir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Beitritts auf beiden Seiten auch beherrschen.
Gerner: Herr Verheugen, steht fest, dass die Türkei in Helsinki den Status eines Bei-trittskandidaten erhält?
Verheugen: Nein, das steht nicht fest. Das ist eines der spannenden Gipfelthemen. Alle Vorschläge der Kommission, die auf meinen Vorschlägen zum Thema Erweiterung beruhen, werden wohl ohne Probleme akzeptiert werden, aber die Frage Türkei ist offen bis zum letz-ten Moment. Es gibt noch eine Reihe von Schwierigkeiten zu überwinden, die damit zusam-menhängen, dass Griechenland bestimmte Garantien wünscht, was ich übrigens verstehen kann, denn für Griechenland ist das eine sehr, sehr weitreichende Entscheidung. Wir haben inzwischen aber eine Lage, wo tatsächlich die 14 anderen der Meinung sind, man sollte jetzt einen ernsthaften Versuch machen.
Gerner: Immerhin ist das ja eine bedeutende Trendwende beziehungsweise Kehrtwen-de, die Sie beim Thema Türkei machen. Warum glauben Sie auf einmal, dass die Türkei un-bedingt ins Boot genommen werden muß?
Verheugen: Weder eine Kehrtwende noch ist irgend etwas Neues daran. Das ist ziem-lich das älteste, was es in der Europäischen Union gibt. Die Türkei hat die Perspektive der Vollmitgliedschaft seit 36 Jahren. Die Türkei hat schon länger das Versprechen, Mitglied werden zu können, als ein großer Teil derjenigen, die heute Mitglied sind, überhaupt drin sind. Und es ist immer wieder bestätigt worden, dass die Türkei diese Perspektive hat.
Gerner: Das Risiko, das Helmut Kohl einmal gesehen hat, dass es ein islamischer Staat in einem Klub christlicher Länder wird, sehen Sie nicht?
Verheugen: Helmut Kohl hat in Luxemburg - das ist mal gerade zwei Jahre her - zuge-stimmt, dass die Türkei in den Erweiterungsprozeß aufgenommen wird. Sie ist ja bereits drin. Sonst wäre ich ja für die Türkei gar nicht zuständig. Es geht jetzt nur darum, dass für die Tür-kei eine Heranführungsstrategie entwickelt wird wie für die anderen auch, weil nur eine solche klare Heranführungsstrategie es uns erlaubt, an die Türkei auch konkrete Erwartungen zu richten und der Türkei zu sagen, welche Bedingungen sie konkret erfüllen muß, damit über-haupt die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können. Wir haben es hier ja mit zwei Zielsetzungen zu tun. Das eine ist: Wir wollen eine Türkei, die fest im Westen verankert ist, aus Gründen unserer eigenen Sicherheit und unserer eigenen Stabilität. Das muß man endlich mal begreifen, dass es hier nicht darum geht, der Türkei ei-nen Gefallen zu tun, sondern dass wir uns selber einen Gefallen tun. Jeder kann sich ja leicht vorstellen, was mit der europäischen Sicherheit passieren würde, wenn die Türkei instabil würde. Dagegen ist das, was wir im Kosovo erlebt haben, dann wirklich eine Kleinigkeit.
Gerner: Aber was berechtigt zur Hoffnung, dass sich auch in Punkto Menschenrechte mit einem Beitrittskandidatenstatus die Sachen zum besseren ändern?
Verheugen: Es ist eine klare Sache, dass die Türkei die politischen Kriterien für den Beitritt anerkannt hat. Diese Kriterien sind eindeutig: ein volles demokratisches System, Rechtstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte und der Minderheiten. Wir werden das im Zuge dieser Heranführungsstrategie, von der ich gesprochen habe, verbinden mit einem tief-greifenden Reformprozeß in der Türkei. Wenn dieser Reformprozeß in der Türkei nicht in Gang kommt und sich nicht entwickelt, dann erreichen wir das Stadium von Beitrittsverhand-lungen überhaupt nicht. Ich verstehe die Aufregung, die hier in Deutschland besteht, nicht. Es ist die einzige Chance, die wir haben, auf die Türkei den Einfluß zu nehmen, den wir seit lan-gem nehmen wollen, und eine demokratische und rechtstaatliche Türkei zu kriegen, was ge-rade für Deutschland angesichts seines hohen türkischen Bevölkerungsanteils eine Frage von ganz entscheidender Bedeutung ist.
Gerner: Herr Verheugen, Stichwort Tschetschenienkrieg. Man ist an einem Wende-punkt, der Westen im Verhältnis zu Russland mit dem Ultimatum an die Bevölkerung von Grosny angelangt. Wird es Sanktionen gegen Russland auf dem Gipfel von Helsinki geben?
Verheugen: Es muß auf jeden Fall eine Antwort geben, einen klaren Standpunkt der Europäischen Union. Ich muß Ihnen leider sagen, dass ich nicht vorhersagen kann, zu wel-chem Ergebnis die Staats- und Regierungschefs in dieser Frage kommen werden.
Gerner: Halten Sie denn das Sanktionspotential oder das Reaktionspotential bisher für ausgeschöpft?
Verheugen: Das Reaktionspotential ist ganz sicher noch nicht ausgeschöpft.
Gerner: An was denken Sie denn, wenn Sie das sagen?
Verheugen: Sie wollen mich aufs Glatteis führen. Sie wissen, dass dies ein Gebiet ist, für das ich nicht verantwortlich bin. Das haben die Staats- und Regierungschefs zu entschei-den, und die sind sehr empfindlich, wenn sie am Morgen, bevor sie anfangen zu tagen, von einem Mitglied der Kommission hören, was sie zu tun haben.
Gerner: Wird man denn noch einmal darauf drängen, dass die Delegation der OSZE wie versprochen, aber bisher noch nicht erfüllt, einreisen darf?
Verheugen: Das halte ich für sehr wahrscheinlich und auch für notwendig.
Gerner: Macht es Sie aber nicht mißtrauisch, dass Moskau trotz der Zusagen auf dem Gipfel in Istambul neulich dort nichts getan hat?
Verheugen: Das macht einen nicht nur mißtrauisch; das macht einen zornig und zeigt, dass in Russland ganz offensichtlich die innenpolitische Zielsetzung dieses Tschetschenien-Krieges für deutlich wichtiger genommen wird als eine mögliche Gefährdung der internatio-nalen Beziehungen.
Gerner: Was können Sie in drei Sätzen von diesem Helsinki-Gipfel an die Öffentlichkeit versprechen?
Verheugen: Zuerst einmal kommt ein klares und überzeugendes Signal in bezug auf die politische Einigung des europäischen Kontinents. Das ist das Thema Erweiterung. Zum zweiten kommt ein klares und eindeutiges Reformbekenntnis. Die europäischen Institutionen werden reformiert werden, damit sie auch im nächsten Jahrhundert funktionieren. Drittens wird Europa einen großen Schritt vorwärts machen in Richtung auf die Übernahme von mehr Verantwortung im Bereich von Verteidigung und Sicherheit. Das sind die drei Dinge, die si-cher sind, und die anderen Fragen sind offen.
Gerner: Günter Verheugen war das, EU-Kommissar für die Erweiterung der Union nach Mittel- und Osteuropa. - Ganz herzlichen Dank und erfolgreiche Gespräche in Helsinki.