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Chanson des Monats
Der verfluchte deutsche Tatendrang

"Der Faschismus beginnt im Garten", singt Musikkabarettist Thomas Pigor. In seinem September-Chanson regt er sich auf über Steinwüsten in Gärten, zu früh abgeräumte Esstische und Baumarkt-Junkies, die ein Gerät nach dem anderen nach Hause tragen. Sein Plädoyer: Gebt der Patina eine Chance!

Von Thomas Pigor | 13.09.2018
    Der verfluchte deutsche Tatendrang (Szene aus dem Video zum Chanson des Monats 09/2018)
    Der verfluchte deutsche Tatendrang (Szene aus dem Video zum Chanson des Monats 09/2018) (Deutschlandradio / Thomas Pigor)
    Der verfluchte deutsche Tatendrang
    Musik: Konrad Koselleck/Thomas Pigor
    Text: Thomas Pigor
    Dieses ewige Gewusel, Gemache, Getue, ohne Sinn und Zweck
    Kaum hast du aufgegessen, räumen sie dir den Teller weg
    Mitten im Gespräch springen alle auf am Tisch
    Hektisch. Sobald sie dreckige Teller auf dem Tisch seh'n
    Müssen alle aufsteh'n
    Das Ritual ist eingespielt
    Die Teller müssen sofort in die Spülmaschine
    Aber vorher unter fließendem Wasser abgespült
    Und das Gespräch am Tisch verrinnt
    Weil alle beim Abräumen sind
    Immer muss alles perfekt sein, fleckenlos, gelackt, geleckt
    Tipptopp, picobello, wie aus dem Möbelhaus-Prospekt
    Hausfrauen wischen Staub, wo gar keiner ist
    Kehren die Straße, die gar nicht verdreckt ist
    Versiegelte Flächen, bis in die letzte Ecke asphaltiert
    Immer alles frisch lackiert
    Lauthals abgeschmirgelt und neu grundiert
    Wenn da was abblättert, sind sie mit dem Schwingschleifer da
    Keine Chance für Patina
    Keinen Sinn für Muße und für Müßiggang
    Immer Hummeln im Hintern
    Dieser verfluchte deutsche Tatendrang
    Maniacs. Alles Maniacs. Durchgeknallte Gestalten
    Die sich selber allesamt für nette Nachbarn halten
    Randvoll mit Ideen, was man noch tun kann
    Bau'n sie wie wild Veranden an, Sichtschutzzäune, Alarmanlagen
    Baumarkt-Junkies, die ein Gerät nach dem anderen nach Hause tragen
    Laubrechen, Hecken schneiden.
    An sich meditative Tätigkeiten. Gartenarbeiten
    Bei denen man seinen Gedanken nachhängen kann
    Unter der Flagge der Effektivität triumphiert das Gerät
    Und das Nachbarschaftsrecht gibt ihnen Recht
    Die Leute mit den zwangsneurotischen Lebensentwürfen
    Dürfen wüten bis zum Exzess
    Und sie tun es. Und sie tun es, weil sie es dürfen
    Lärminferno ist Normalzustand
    Stille ist eine Ressource ... Aber bitte: Ihr seid das Volk. Armes Deutschland
    Ein Volk opfert Muße, Kraft und Geld und Zeit
    Auf dem Altar der Makellosigkeit
    Die gilt es mit allen Mitteln zu erreichen
    Dafür geht man über Leichen
    Nimmermüde, umtriebig, emsig, fleissig, agil,
    Verfolgt die Bevölkerung nur ein Ziel
    Kurzgeschoren auch in den Trockenphasen
    Ist ihr höchstes Ideal: der englische Rasen
    Man hat sich hüben wie drüben
    Diesem Rasen verschrieben
    Selbst bei der Hitze dieses Jahr
    Dauer-Rasenmähen statt Siesta
    Wie sie einer nach dem ander'n ihre Rasenmäher starten
    Der Faschismus beginnt im Garten
    Dieser verfluchte deutsche Tatendrang, es herrscht Arbeitszwang
    In den Neubaugebieten, Melancholieverbot
    Orgien des Ordnungswahns in den Zwangsneurosengärten
    Doch nicht nur in den Kleingartenkolonien,
    Auch in der Mitte von Berlin
    Lässt die junge Bourgeoisie andauernd ihre Böden abzieh'n
    Leere makellose Räume voll mit makellosen Dingen
    Lassen sie die Handwerker springen. Maniacs!
    Sie legen selbst nicht Hand an, sie lassen lärmen
    Während sie im Urlaub von verwilderten Gärten schwärmen
    Und die reichen Spießer in den Neubau-Villen
    Lassen sich ihre Gärten mit Steinen auffüllen
    Das ist die neueste Perversion, das ist der Ordnungswahn hoch drei
    Lauter schwarzer Schotter und darin ein einsamer Bonsai
    Und dann hocken sie in ihren Eigenheimen
    Um das sie alle ihre Freunde beneiden und lassen sich scheiden
    Und wenn ein neuer Lebenspartner einzieht in das supertolle Haus
    Muss der Schotter wieder raus