Donnerstag, 28. März 2024

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Lokalpolitiker zu Marokko bei WM
Samy Charchira (Grüne): Ein Spiel als "Ventil"

Für Marokko seien die Erfolge bei der Fußball-WM auch deswegen wichtig, weil man gegen frühere Kolonialmächte gewonnen habe, sagte Grünen-Politiker Samy Charchira im Dlf. Das Halbfinale gegen Frankreich habe ebenfalls eine "kleine politische Brisanz".

Samy Charchira im Gespräch mit Stefan Heinlein | 14.12.2022
Nach dem Sieg Marokkos gegen Portugal im WM-Halbinfale feiern die Fans auch in Düsseldorf
Nach dem Sieg Marokkos gegen Portugal im WM-Halbinfale feiern die Fans auch in Düsseldorf (IMAGO / NurPhoto / Ying Tang)
Mit Marokko steht erstmals eine afrikanische Mannschaft im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft. Das Spiel gegen Titelverteidiger Frankreich habe vor dem Hintergrund der Geschichte von kolonialer Unterdrückung auch eine politische Brisanz, sagte der Düsseldorfer Grünen-Lokalpolitiker Samy Charchira im Deutschlandfunk. Der Sozial-Pädagoge lehrt auch am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.
In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt leben zahlreiche Menschen mit nordafrikanischen Wurzeln. Tausende hatten nach den jüngsten Siegen der marokkanischen Nationalelf auf den Straßen Düsseldorfs gefeiert - weit überwiegend friedlich. In anderen europäischen Städten wie Brüssel und Paris kam es dagegen teils zu gewalttätigen Ausschreitungen. Charchira sprach von "schrecklichen Ereignissen". Allerdings gebe es für diese Taten auch "handfeste soziale Gründe" - etwa die Perspektivlosigkeit. Dann könne Freude in Aggressivität kippen.
Marokkanische Fans feiern in der Innenstadt den Sieg ihrer Mannschaft bei der FuÃball-Weltmeisterschaft in Katar über Portugal. AuÃenseiter Marokko hat als erste afrikanische Mannschaft das Halbfinale bei einer FuÃball-Weltmeisterschaft erreicht.
Feiernde marokkanische Fans in Düsseldorf (picture alliance / dpa / Christoph Reichwein)

Das vollständige Interview:

Stefan Heinlein: Wie groß ist Ihre Vorfreude auf das Spiel heute Abend gegen die Franzosen?
Samy Charchira: Ich glaube, die ist genauso groß wie bei allen marokkanisch-stämmigen Menschen und afrikanisch-stämmigen Menschen in unserem Land. Sie ist tatsächlich riesig, denn wir erleben gerade Fußballgeschichte. Tatsächlich hat es noch nie eine afrikanische, arabische Mannschaft ins Halbfinale geschafft. Dass das jetzt schon so war, stehen sie jetzt schon als Sieger fest, und wenn die jetzt noch das Spiel heute Abend gewinnen, dann hat, glaube ich, die Freude gar keinen Halt mehr.
Düsseldorfer Lokalpolitiker Samy Charchira (Grüne)
Düsseldorfer Lokalpolitiker Samy Charchira (Grüne) (picture alliance / dpa | Horst Galuschka)

Spiel gegen die "Unterdrücker" aus der Kolonialzeit

Heinlein: Geht es heute nur um Fußball oder auch um ein wenig mehr, wenn es jetzt gegen diese großen europäischen Länder geht, Portugal, Spanien und Frankreich heute?
Charchira: Ja, in der Tat geht es um viel mehr, im Wesentlichen um zwei wichtige Punkte. Zum einen muss man konstatieren: Marokko hat bis jetzt fast ausschließlich gegen ehemalige Kolonialmächte gespielt, gegen Portugal, gegen Spanien, heute Abend gegen Frankreich.
Das sind die Unterdrücker oder die Länder, die das Land und die Menschen jahrelang unterdrückt haben. Das ist noch bis heute fest verwurzelt im kollektiven Gedächtnis bei vielen Marokkanern, diese schreckliche Kolonialzeit, und hier hat man die Vorfreude, sich wieder Respekt zu verschaffen, auf Augenhöhe sich mit den anderen, mit den ehemaligen Kolonialherren zu begeben und vielleicht auch noch zu gewinnen. Insofern hat das schon eine kleine politische Brisanz.
Aber es geht um viel mehr. Es geht zum anderen auch darum, dass wir es mit einer marokkanischen Mannschaft zu tun haben, die in einem Geist miteinander spielt, einem Geist der Freundschaft, des Respekts, des Miteinanders, des Zusammenhalts und so weiter, und das auch noch mit einem marokkanischen Trainer aus Marokko. Es ist ja traditionell so, dass Marokko fast ausschließlich ausländische Trainer hat. Das ist jetzt auch anders mit einem marokkanisch stämmigen Trainer, und da geht ein ganzer Geist durch die ganze Mannschaft und viele führen den Erfolg der Mannschaft bisher auf diesen Geist zurück, der da herrscht. Das ist, glaube ich, auch etwas Neues, was die marokkanischen Menschen erleben, diesen ganzen Zusammenhalt und die Solidarität untereinander, und sie merken selbst, dass das zum Erfolg führen kann.

Handfeste soziale Gründe“ für Gewalt in Belgien und Frankreich

Heinlein: Respekt und Freundschaft, das haben Sie erwähnt. Es ist ein bisschen auch eine Aufarbeitung, eine Auseinandersetzung mit den ehemaligen Kolonialmächten. Erklärt dieser Hintergrund auch die Ausschreitungen in einigen europäischen Städten nach den Siegen der marokkanischen Mannschaft? Eigentlich ist es ja ein Anlass zu feiern und nicht zu randalieren.
Charchira: Absolut. Ich würde tatsächlich keine Parallele ziehen wollen. Die schrecklichen Ereignisse in Belgien, die brennenden Autos auch in Paris und so weiter, die haben tatsächlich ganz andere Hintergründe, nämlich ganz handfeste soziale Gründe. Wir müssen sehen, dass ganze Generationen von Maghreb-stämmigen Jugendlichen in Frankreich in den Banlieues und so weiter perspektivlos sind. Sie leiden seit vielen Jahrzehnten unter einer horrenden Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit.
In Brüssel war es zu Ausschreitungen nach Marokko-Spielen gekommen
In Brüssel war es zu Ausschreitungen nach Marokko-Spielen gekommen (picture alliance / dpa / BELGA / Nicolas Maeterlinck)
Es gibt Gewalt in der Gesellschaft, auch viele Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsbehörden. Da gibt es ganz, ganz handfeste soziale Problemstellungen, die seit Jahrzehnten vor sich herkochen und für die der Staat bis jetzt bedauerlicherweise noch keine Lösung gefunden hat. Natürlich ist dann so ein Spiel in der Freude gleichzeitig auch ein Ventil für ganz viele Menschen, sich da Luft zu verschaffen, bedauerlicherweise auf diese Art und Weise, aber da kippt die Stimmung relativ schnell von Freude zu Aggressivität. Aber das würde ich tatsächlich in den Lebensrealitäten der Menschen dort verorten und wenig in der Historie.

"Gesellschaftliche Markierung" als Problem für Migranten

Heinlein: Mit einer halben Million Menschen – das habe ich in der Vorbereitung auf dieses Interview gelernt – stellen die Marokkaner in Belgien die größte nationale Gruppe von Zuwanderern. Fast 90 Prozent dieser ehemaligen Marokkaner haben aber einen belgischen Pass. Warum ist dennoch die Identifikation mit dem Herkunftsland der Eltern oder Großeltern, die zweite oder dritte Generation, offenbar stärker? Man fühlt sich stärker als Marokkaner und weniger als Belgier.
Charchira: Das kann man auch europaweit beobachten. Das hat tatsächlich was mit der gesellschaftlichen Markierung und Verortung zu tun, die wir den Menschen zuweisen. Auch wir in Deutschland machen das gerne, solche Markierungen. Wir lassen ja relativ wenig deutsche Identitäten zu, sondern wir markieren immer Menschen mit Migrationshintergrund, mit Zuwanderungsgeschichte, mit Aussiedler und so weiter und so fort. Wir haben einen ganzen Instrumentenkoffer an Zuschreibungen und an Fremdmarkierungen und dadurch erschweren wir, dass die Menschen zu gemeinsamen Identitäten kommen, zu gemeinsamen belgischen, deutschen und französischen Identitäten kommen. Das sind die Lebensrealitäten.

Zuschreibungen: „Schattenseite der Integrationsarbeit“

Wenn Sie mich so fragen: Ganz viele Menschen leben ja schon in der dritten und vierten Generation in Deutschland und werden tatsächlich immer noch als Migranten wahrgenommen, werden auch so angesprochen, werden auch so behandelt, und irgendwann tritt das ein, was man in der Soziologie die selbsterfüllende Prophezeiung nennt. Das heißt, immer wenn man die Menschen zu den Marokkanern möchte, obwohl sie sich selbst ganz anders begreifen, dann werden sie irgendwann diese Zuschreibung annehmen und demzufolge handeln. Diese Form der Schattenseite der Integrationsarbeit, die wir auch in Deutschland haben, die ist tatsächlich sehr bedauerlich. Gott sei Dank ist das bei uns in Deutschland ein bisschen anders, aber wir können sehen, wenn das ganz schlecht gemacht wird, wie das zu handfesten Problemen führen kann wie zum Beispiel der Fall in Belgien oder Frankreich.
Heinlein: Wer trägt denn die Verantwortung für diese verfehlte Integration, die Mehrheitsgesellschaft, die Zuwanderer immer ausgrenzt, immer noch ausgrenzt, wie Sie sagen, oder die Familien der Zuwanderer vielleicht aus Marokko in Ihrem Fall, die sich bewusst nicht in diese Mehrheitsgesellschaft integrieren wollen, sondern sich als Marokkaner verstehen?
Charchira: Wir müssen schon sehen: Die Generation, von der Sie gerade sprechen, das ist die sogenannte erste Generation oder die Generation der „Gastarbeiter“-Generation. Die leben hier schon in der dritten, teilweise schon in der vierten Generation. Das heißt, die Eltern der 16-, 13- und 12-jährigen von heute sind teilweise hier in Deutschland geboren, aufgewachsen und so weiter. Trotzdem haben wir diese Form der Zuschreibung und das mache ich persönlich – und das erlebe ich auch in meinem Alltag – fest daran, wie die Gesellschaft mit Migranten umgeht, welche Zugangsbarrieren baut sie ab, welche Möglichkeiten eröffnet sie, wie geht sie mit dem Thema Vielfalt um, wie geht sie mit dem Thema Powersharing um, wie geht sie mit dem Thema Teilhabe, Partizipation, mitentscheiden, mitgestalten und so weiter um. Das sind die handfesten Dinge, die die Menschen, die Jugendlichen hier erleben in ihrer Sozialisation, und wenn das nicht so gut läuft, dann werden sie natürlich irgendwann mal das Gefühl haben, dass sie nicht dazugehören. Und wenn das auch noch manifestiert wird mit bestimmtem Vokabular oder mit bestimmten Zugangsbarrieren in der Gesellschaft, dann haben wir tatsächlich ein Problem, möchte ich sagen, weil dann haben wir Menschen, die zwar deutsch sind, die hier geboren und aufgewachsen sind, die sich auch selbst als deutsch begreifen, aber lernen müssen, doch anders zu sein, nämlich marokkanisch-stämmig oder türkischstämmig oder Ähnliches zu sein, und das ist keine gute Entwicklung in einer guten Integrationsarbeit.

Integration: Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien

Heinlein: Sie haben die Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien bei der Integration von Marokkanern angesprochen. Als Haupthindernis generell für eine gelungene Integration gelten meist unter anderem auch die Sprachprobleme. Nun sprechen alle Marokkaner oder fast alle Marokkaner, muss man sagen, von Hause aus Französisch. Warum kommen sie dennoch so schlecht zurecht in Frankreich oder in Belgien?
Charchira: Da muss man ein bisschen unterscheiden. Zum Beispiel in Deutschland, wo das nicht der Fall ist, dass die Menschen französischsprachig sind, haben wir andere Situationen. In Frankreich und Belgien ist es tatsächlich so, dass sie zwar die Sprache beherrschen. Auch ihre Eltern sprechen die Sprache, teilweise schon im Herkunftsland sprechen die die Sprache. Aber da greifen andere Problemstellungen. Wissen Sie, wenn Sie als 16-, 17-jähriger maghrebinisch-stämmiger Mensch in einem Banlieue in Paris aufwachsen, dann lernen Sie relativ schnell, dass Sie relativ wenig Chancen haben. Sie bekommen keine Jobs, Sie bekommen keine Wohnung, Sie bekommen keine Ausbildung, Sie werden vielleicht von der Polizei mehr beäugt. Racial Profiling ist dort an der Tagesordnung und so weiter. Das heißt, Sie haben es mit ganz normalen handfesten Problemstellungen in Ihrem Alltag zu tun, die Sie jahrelang erleben, und das geht an den Jugendlichen nicht spurlos vorbei, sondern das macht was mit Ihnen. Das tangiert Sie in Ihrer Identitätsstruktur. Das tangiert Sie in Ihrem Zugehörigkeitsgefühl. Die fühlen sich auch als die Verlierer der Gesellschaft. Wenn dann so ein Spiel kommt, dann entlädt sich die ganze Wut, die sich über die Jahrzehnte aufbaut, bedauerlicherweise auf diese Art und Weise.
Heinlein: Stichwort Wut. Auch in Düsseldorf, in Oberbilk gibt es eine große marokkanische Gemeinde. Wird es da heute Abend friedlich bleiben in jedem Fall, egal wie das Spiel ausgeht?
Charchira: Ja, in der Tat ist das so. Ich habe mich gestern noch vergewissert. Alle Sicherheitsorgane unserer Stadt sagen, dass die Feierlichkeiten bisher ziemlich friedlich verlaufen sind, dass die Menschen sehr gut und sehr gerne und sehr friedlich gefeiert haben. Natürlich gibt es Einzelfälle, hier und da Leute, die irgendwelche Böller auf die Wege werfen. Das bleibt beim Fußball leider nicht so ganz aus. Aber ich gehe fest davon aus, dass auch die Feierlichkeiten heute – es werden heute auch viel mehr Leute dabei sein, verständlicherweise, weil es ums Halbfinale geht, aber ich gehe fest davon aus, dass es friedlich sein wird, dass die Leute gerne miteinander und gemischt feiern werden und vielleicht mit einem Sieg am Ende. Mal sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.