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Charles-Augustin Sainte-Beuve
Das Porträt einer Epoche

Seine eleganten Montagskritiken waren für viele Pariser wöchentliche Pflichtlektüre, er hatte Mitte des 19. Jahrhunderts so viel Einfluss wie Generationen später hierzulande ein Mann wie Marcel Reich-Ranicki. Doch in Deutschland blieb das Werk des französischen Essayisten Charles-Augustin Sainte-Beuve Kennern vorbehalten - was eine Neuerscheinung der "Anderen Bibliothek" ändern könnte.

Von Michael Schmitt | 10.02.2015
    Charles-Augustin Sainte-Beuve auf einem gezeichneten Porträt
    Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804 - 1869) auf einem gezeichneten Porträt (imago / Leemage)
    Wie viele Umwälzungen der Medien und der öffentlichen Kommunikation hat es gegeben, seit im 18. Jahrhundert neue Journale im Interesse der Aufklärung Platz für die Texte von freien Journalisten geschaffen haben? Seit die Schnellpressen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Druck und Vertrieb von Zeitungen umgekrempelt haben? Und wie lang ist die Reihe der Namen von Institutionen oder Personen, die auf diesem Weg mal Gewinner, irgendwann aber auch Opfer geworden sind?
    "Auf der Schwelle zur Moderne" hat der Soziologe Wolf Lepenies daher schon 1997 in einer umfangreichen Monografie den französischen Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve verortet, einen Mann, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris soviel Einfluss hatte wie Generationen später in den USA vielleicht ein Kritiker wie Edmund Wilson oder in der Bundesrepublik ein Mann wie Marcel Reich-Ranicki in seinen besten Jahren. Und der dennoch heute als weitgehend vergessen gelten muss: ein Opfer der polemischen Attacken seines berühmtesten nachgeborenen Gegners, nämlich Marcel Prousts, der Sainte-Beuves Arbeitsweise - eine Mischung von Biografie, Stil- und Moralkritik - als ganz und gar unliterarisch verworfen hat; aber auch ein Opfer jenes gesellschaftlichen und medialen Wandels, den Sainte-Beuve selbst in vielen seiner Aufsätze zur Literatur kommentiert und bedauert hat.
    So schreibt Sainte-Beuve beispielsweise über Denis Diderot, dessen Enzyklopädie als Mischung von Aufklärung und Geschäft wegweisend war, er sei zwar der Schöpfer einer "seelenvollen, eifrigen und beredten Kritik" gewesen, ein Stammvater für "Journalisten und Improvisatoren über Gegenstände aller Art"; er sei aber auch - genau so bezeichnend - kein dramatischer Dichter gewesen, also nicht fähig zum höchsten von sich selbst absehenden künstlerischen Schaffen. Diderot habe lediglich jene Gabe der "Halbverwandlung" besessen, in der "das Spiel und der Triumph der Kritik" liege und habe daraus als Publizist das Beste gemacht - ein Urteil, das man sowohl als Verklärung wie auch als Beschränkung der Rolle des Kritikers lesen kann, sicher auch ein Urteil Saint-Beuves über sich selbst: als Journalist und Kritiker, der Distanz zum Gegenstand hält und sich um ausgewogene Urteile bemüht, weil es ihm nicht um die Fehden des Tages geht, sondern um den Stellenwert der Literatur in der französischen Geschichte.
    Literaturkritik wie am Fließband
    Geboren im Jahr 1804 in Boulogne-sur-Mer studiert Charles-Augustin Sainte-Beuve zunächst Medizin, wirft sich aber schon bald auf die Literatur, gehört zum Kreis der späten Romantiker um deren Übervater Victor Hugo - zumindest so lange, bis er mit Hugos Ehefrau eine Affäre beginnt - und veröffentlicht ohne großen Erfolg Poesie und einen Roman. Er sympathisiert mit den gesellschaftspolitischen Vorstellungen Saint-Simons und schreibt für die Pariser Zeitungen, Honoré de Balzac porträtiert ihn 1839 in "Verlorene Illusionen" als talent- und skrupellos, er wird zum Mitglied der Académie francaise ernannt und nimmt mehrere Professuren wahr. Sein eigentliches Verdienst aber sind seine Geschichte des Jansenismus in Frankreich, "Port Royal", und die "Causeries", jene umfangreichen literarischen Porträts, die Sainte-Beuve seit 1849 über lange Jahre an jedem Montag in Zeitschriften publiziert und in überarbeiteter Form in Büchern sammelt - in 15 Bänden mit über 3000 Seiten.
    Sainte-Beuve produziert Literaturkritik wie am Fließband, könnte man sagen, er industrialisiert sich selbst, aber vor allem arbeitet er am Wissen um die Literaturgeschichte als einer Form der Gesellschaftsgeschichte. In deutschsprachigen Übersetzungen sind nicht viele seiner Texte verbreitet - zuletzt ist 2013 im Berliner Verlag Das Arsenal immerhin eine Auswahl unter dem Titel "Charles-Augustin Sainte-Beuve: Causerien am Montag. Aufklärung aus dem Geist des Salons" erschienen, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort "Sainte-Beuve als Erzieher" von Robert Zimmer. Umfangreicher ist die nun in der "Anderen Bibliothek" wiederveröffentlichte Sammlung "Menschen des XVIII. Jahrhunderts", die im Jahr 1880 erstmals erschienen ist.
    Der Bogen, den diese Sammlung schlägt, reicht vom späten 17. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution, von Fontenelle bis Beaumarchais; mal geht es um Briefe, mal um Streitschriften, oft um Theaterstücke, selten um Romane - denn deren literarische Blütezeit bricht erst später an. Mal geht es um bis heute berühmte Männer - Montesquieu, Voltaire oder Rousseau - mal um ranghohe Damen, deren veröffentlichte Briefe in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Seine Porträts greifen oft auf Anekdoten zurück, halten sich aber nie lange dabei auf; sie sind die Verlängerung der gebildeten Salonkultur des 18. in die einsame Schreibstube und die Publizistik des 19. Jahrhunderts; sie sind auch ein Versuch, den Verfall des Ancien Regime zu beschreiben, um die Qualität der literarischen Sprache dieses Jahrhunderts zu bewahren. Sainte-Beuve betreibt Stilkritik, die in Moralkritik übergeht; er gewichtet und er hebt Stilisten wie Rousseau oder Beaumarchais besonders dann hervor, wenn ihre sprachliche Kunstfertigkeit mit gesellschaftlicher Wirkungsmacht zusammenfällt.
    Friedrich Nietzsche und das Ehepaar Overbeck
    Sainte-Beuve selbst hat diese Texte nie in dieser Anordnung als Buch veröffentlicht - die Zusammenstellung verdankt sich einzig der Zusammenarbeit von Friedrich Nietzsche, der sich immer wieder an Sainte-Beuve abgearbeitet hat, mit dem Ehepaar Ida und Franz Overbeck. Der Herausgeber der Neuausgabe, Andreas Urs Sommer, skizziert den Entstehungsprozess in einem ausführlichen Vorwort und beschreibt, wie erst durch diese Auswahl jener Charakter eines Epochenporträts entsteht, das dem heutigen Leser so einleuchtend erscheint, weil viele Historiker seither diesem Bild vorgearbeitet haben: Wie sich Sprache, Schreiben und Denken radikalisieren, wie sie sich von den gesellschaftlichen Fesseln der höfischen Gesellschaft befreien und schließlich über Bühnen und Buchseiten hinaus wirken.
    Napoleon Bonaparte hat Beaumarchais' "Hochzeit des Figaro" einmal als die "zur Tat übergegangene Revolution" bezeichnet. Sainte-Beuve zitiert das und ergänzt, dass es Beaumarchais dabei jedoch meist nur um die Einkünfte gegangen sei. Das sind die Pole, zwischen denen Sainte-Beuve die Literatur sieht, es sind auch die Pole zwischen denen er als Kritiker gearbeitet hat - Wirkung und Einkommen. Es ist daher sicher kein Zufall, dass gerade das emphatische und umfangreiche Porträt von Beaumarchais diesen Reigen der "Menschen des XVIII. Jahrhunderts" beschließt. Er handelt vom Triumph des geschliffenen Wortes genauso wie von der Ökonomisierung des Schreibhandwerks. Er handelt von einem etwas unheimlichen Sieg der Literatur.
    Charles-Augustin Sainte-Beuve: "Menschen des XVIII. Jahrhunderts"Übersetzt von Ida Overbeck, initiiert von Friedrich Nietzsche.
    Mit frisch entdeckten Aufzeichnungen von Ida Overbeck,
    neu ediert von Andreas Urs Sommer.
    Die Andere Bibliothek, Berlin Juli 2014, 424 Seiten, Euro 38,-