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Charles Jackson
Die Leere im Kopf, wenn die Flasche leer ist

Mit der Detailgenauigkeit eines Protokolls folgt der Roman "Das verlorene Wochenende" von Charles Jackson ebenjenen einsamen zweieinhalb Tagen im Leben eines Trinkers, der mal halbwegs kontrolliert, mal halluzinierend durch seine Wohnung, Bars und Straßen mäandert. Ein erschreckend wahres Buch über ein Leben, das der Realität nicht näher kommen könnte.

Von Michael Schmitt | 14.11.2014
    Schnaps wird von einer Flasche in mehrere Gläser gegossen.
    Schnaps wird von einer Flasche in mehrere Gläser gegossen. (picture-alliance / dpa / Dominique Gutekunst)
    Kann man sich Ernest Hemingway "trocken" vorstellen? Gehören Alkohol und Schriftstellerei, gerne mal mythisch verklärt, zusammen wie zwei Seiten einer Medaille? Sicher nicht, aber die Literaturgeschichte ist auch eine Geschichte harter Trinker. William Faulkner war einer, Charles Bukowski sowieso – und weil der Suff kein Privileg von Männern ist, seien auch Carson McCullers oder Dorothy Parker erwähnt. Manche haben ihren Alkoholismus zum Thema gemacht. Francis Scott Fitzgerald etwa hat sich in den 30ern und 40ern seine Sucht in Stories und autobiografischen Texten vom Leib zu schreiben versucht.
    Malcolm Lowry hat eine weniger dezente Beschreibung in seinem skandalträchtigen Roman "Unter dem Vulkan" vorgelegt, im Jahr 1947. Ein Jahr zuvor hatte auch ein Film über einen Trinker in den Kinos und bei den Oscar-Verleihungen Erfolge gefeiert – von Billy Wilder inszeniert und mit Ray Milland in der Hauptrolle eines alkoholabhängigen Schriftstellers in Manhattan. Er beruhte auf dem 1944 erstmals veröffentlichten Roman-Debut von Charles Jackson, "Das verlorene Wochenende", ein One-Hit-Wonder für den Verfasser, 500.000 Mal in den ersten fünf Jahren verkauft – ein zeitlos eindringliches Buch, das gerade beim Schweizer Dörlemann-Verlag in einer neuen eleganten Übersetzung von Bettina Abarbarnell wieder erschienen ist.
    Mit der Detailgenauigkeit eines Protokolls folgt dieser Roman dem langen einsamen Wochenende eines Trinkers, der mal halbwegs kontrolliert, mal halluzinierend und schließlich im Delirium in seiner Wohnung, in Bars oder auf der Straße unterwegs ist, um Schnaps zu kaufen oder vielleicht auch eine Schreibmaschine beim Pfandleiher zu versetzen, um wieder zu Geld zu kommen. Übersteigertes Selbstbewusstsein und schreckliche Zweifel wechseln sich ab, haltlos pendelt der Mann zwischen diesen Extremen, immer bemüht, vor sich selbst und vor den wenigen Menschen, mit denen er zu tun hat, eine Fassade zu wahren, auch wenn er noch so sehr taumelt, sein Geld in den eigenen Jackentaschen nicht mehr findet, Treppen hinunterfällt oder orientierungslos und ohne es zu merken quer durch Manhattan läuft, wenn er doch eigentlich nur um die Ecke zur nächsten Pfandleihe will.
    Charles Jackson schildert das in der dritten Person, aber ganz nah an der Wahrnehmung des Protagonisten, was den Roman besonders eindringlich wirken lässt. Als Leser ist man dem Blick eines unzuverlässigen Zeugen ausgeliefert, man geht seine Irrwege mit, ohne es immer gleich zu merken, trotz der Eskapaden gleich auf den ersten Seiten - denn gleich zu Anfang wird beschrieben, wie der lädierte Held sich bemüht, seinen Bruder, von dessen Geld er lebt, auszutricksen, um einen gemeinsamen Wochenendtrip zu umgehen. Wie er durchsichtige Manöver plant und ausführt, um nicht erreichbar zu erscheinen, als der Bruder ihn abholen kommt – alles nur, um die darauf folgenden Tage alleine mit Trinken verbringen zu können. Auch die Schilderung des versuchten Diebstahls einer Handtasche in einer Bar zeigt, wie eingeschränkt die Wahrnehmung des Protagonisten ist, wie sehr er im Rausch nur seinen eigenen Gedanken folgt, ohne zu registrieren, wie die Umwelt ihn wahrnimmt. Die vier, fünf Tage sind eine pausenlose Aneinanderreihung von Peinlichkeiten und Niederlagen vor sich selbst und in den Augen von anderen – für Jacksons Hauptfigur aber sind sie vor allem der Anstoß, immer neue Finten zu ersinnen, um seine Versorgung mit Hochprozentigem sicher zu stellen.
    Ein Kammerspiel der Verzweiflung
    "Das verlorene Wochenende" ist dabei stets ein stilles Buch mit einem dezenten Helden im Mittelpunkt, trotz der vielen drastischen Episoden - und es beruht auf reichlich lebenspraktischen Erfahrungen von Charles Jackson selbst. 1903 geboren und 1968 im Chelsea Hotel an einer Überdosis Schlafmitteln gestorben, hatte Jackson als junger Mann zunächst als Zeitungsredakteur und Buchhändler gearbeitet, musste dann längere Zeit in die Schweiz, um eine Lungenkrankheit auszuheilen; kam 1931, auf dem Höhepunkt der Großen Depression nach New York zurück, brauchte Arbeit und verfiel dem Alkohol. Zeitweise, in den späten 30ern, war er trocken – und einer dieser guten Phasen seines Lebens verdankt sich dieser Roman. Nach seiner eigenen Aussage ist es aber auch sein einziges Buch, das er in nüchterner Verfassung geschrieben hat.
    Es handelt sich um ein Kammerspiel der Verzweiflung und der Demütigungen, denn jede Handlung, die beschrieben wird, verrät die Not des Helden, jede seiner selbstgewissen Behauptungen oder Rationalisierungen führt nur tiefer hinein in ein Elend, das er sich nicht eingestehen kann und will, und aus dem ihn am Ende eine Freundin nur vorübergehend rettet. Ziemlich früh im Roman heißt es einmal, der einzige Unterschied zwischen einem Junkie und einem Alkoholiker bestehe darin, dass ein Alkoholiker niemals für seine Sucht morden werde. Und Jackson führt seinen Roman konsequent auf einen Punkt zu, an dem es genau darum geht: Morden oder nicht, um an den Schlüssel für einen Wandschrank voller Schnaps zu kommen. Aller leisen Töne ungeachtet ist "Das verlorene Wochenende" eben auch ein radikaler Roman – radikaler jedenfalls als die Verfilmung, denn Billy Wilder lässt den Helden am Ende geläutert zur Schreibmaschine geleiten, um den Anfang des Romans zu tippen, der Erfolg und Rettung bringen wird.
    Charles Jackson hat sich gegen diese Entstellung seines Romans erfolglos gewehrt – ihm selbst ist es anschließend auch nicht so gut ergangen: Der Erfolg brachte ihn zwar in Kontakt mit der Hollywood-Prominenz, und er galt dort als der höflichste Mensch, mit dem Produzenten oder Regisseure zu tun hatten, aber er kam vom Trinken nicht weg und lebte möglicherweise auch als Homosexueller ein Leben im Verborgenen – verborgen vor sich selbst und vor seiner Umgebung. Er begegnete sogar Thomas Mann, den er immer sehr verehrt hatte, und wurde von diesem freundlich gelobt. Aber vor sich selbst gerettet hat ihn das auch nicht.
    Charles Jackson: "Das verlorene Wochenende" Roman, Deutsch von Bettina Abarbanell. Mit einem Nachwort von Rainer Moritz.
    Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 352 Seiten, Euro 24,90