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Charles Lewinsky: "Der Halbbart"
Die Verführungsmacht der Worte

So frech ist wohl noch nie vom Schweizer Gründungsmythos erzählt worden: In Lewinskys Roman wird der berühmte Eidgenossen-Aufstand gegen die Habsburger 1315 zu Fake News erklärt. Sebi heißt hier der junge Geschichtenerzähler, der bald merkt, wie schnell aus Flunkerei historische Wahrheit wird.

Von Jörg Magenau | 18.12.2020
Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky und sein Roman „Der Halbbart“
Ein literarischer Tausendsassa und einer der populärsten Autoren der Schweiz: Charles Lewinsky (Foto: Maurice Haas /© Diogenes Verlag, Buchcover: Diogenes Verlag)
"Eine gute Geschichte ist besser als eine schlechte Wahrheit."
Wer so spricht, ist ein guter, aber sicher kein ganz unschuldiger Erzähler. Denn er sagt im Roman von Charles Lewinsky auch:
"Die Gerechtigkeit, das habe ich gelernt, ist mehr eine Sache für die Predigten als für die Wirklichkeit."
Es dauert einige Zeit und viele, viele Geschichten lang, bis der junge, zu Beginn vielleicht zwölf Jahre alte Ich-Erzähler im Roman "Halbbart" zu diesen Einsichten vordringt. Am Anfang ist der junge Eusebius, der von allen immer nur "Sebi" genannt wird, gutgläubig und naiv. Nicht viel anders als die meisten Bewohner seines kleinen Heimatdorfes in der Schwyz, zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Doch immerhin weiß Sebi bereits um die Macht der Geschichten, Legenden, Erfindungen und dass man nicht alles glauben darf, was die Menschen so erzählen.
Sebi ahnt früh, dass nicht alles stimmt, was so erzählt wird
Am Anfang jeder Geschichte steht das Nicht-Wissen. Das beweist schon der allererste Satz des Romans:
"Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da."
Doch gerade weil niemand im Dorf Genaueres über den so plötzlich erschienenen, unheimlichen Fremden weiß, entstehen die Legenden um seine Herkunft. So sagen die einen, der Halbbart habe in einem Fass Wein, zusammengerollt und "klein wie ein Siebenschläfer" gelegen und sei um Mitternacht aus dem Spundloch "herausgeschloffen". Andere behaupten, er wäre mit einem Felssturz ins Tal gepoltert und hätte dort unter Staub und Schnee den Winter verbracht.
Sebi gehört zu den wenigen, die glauben, der Halbbart habe seinen Weg ganz normal zu Fuß über versteckte Bergpfade gefunden. Doch viel dringlicher als die Frage nach seinem Auftauchen ist für die Dörfler das Rätsel seiner beängstigenden Erscheinung. Lewinskys Romanfigur, die sich auch selbst nur "Halbbart" nennt, hat ein gespaltenes Gesicht. Auf der einen Seite wächst ein Bart, der ihm ein königliches Aussehen verleihen würde, wenn nicht die andere Gesichtshälfte verbrannt und von einer schwarzen Kruste bedeckt wäre. Der Halbbart ist also eine Art Januskopf, der weise in die Zukunft zu blicken vermag, der aber zugleich auch verwundet ist und, wie sich bald herausstellt, nicht ohne Rachsucht in die Vergangenheit schaut. Dieser Gegensatz spiegelt sich auch im Verhältnis der beiden Brüder des Ich-Erzählers Sebi wider: Während der ältere der beiden ein vernunftorientierter Realpolitiker ist, der auf Verhandlung und Versöhnung setzt, gibt sich der jüngere Bruder gern als rabaukenhafter Aufwiegler, der auf Gewalt setzt und damit für Unfrieden sorgt.
Mit dem Halbbart kommt ein janusköpfiger Fremder ins Dorf
Es dauert lange, bis der den Menschen zutiefst misstrauende Halbbart seinen neuen Freunden gegenüber schließlich das Trauma seiner Verletzung offenbart: In seiner Heimatstadt wurde er das Opfer einer Denunziation des Vikars, der behauptete, er habe eine heilige Hostie entweiht. Die aufgebrachte Menge band ihn darauf an der Haustür fest, schichtete einen Scheiterhaufen auf und entzündete ihn. Doch weil die Fessel sich löste, fiel der Verfemte aus dem Feuer heraus auf die Seite und blieb wie tot liegen. Diese Geschichte des Halbbarts – bei weitem nicht seine schaurigste – ist durch sein Äußeres beglaubigt. So, wie man diesem Mann überhaupt alles abnimmt. Inmitten all’ der mittelalterlichen Wunder- und Teufelsgläubigen um ihn herum verkörpert er die Stimme der Vernunft, ist ein Heilkundiger, der mit den Wissenschaftlern seiner Zeit korrespondiert, vielleicht ein Jude, der wegen seines Judentums verfolgt wurde, wie ein paar vorsichtige Andeutungen nahelegen.
Jedenfalls hat der Halbbart genug erlebt, um über den Dingen zu stehen und nichts mehr zu fürchten. Schon gar nicht Sebis Onkel Alisi, einen ehemaligen Soldaten, der mit seinen Kumpanen im Dorf herumrandaliert und dort die Herrschaft an sich zu reißen versucht.
"Angst hatte er in diesem Leben keine mehr übrig, der Vorrat sei bei ihm schon längst aufgebraucht, mehr als totschlagen hätte ihn der Alisi auch nicht können, und da sei ihm schon bedeutend Schlimmeres passiert."
Es gehört zur besonderen Tragik dieses Romans, dass auch der so besonnene und eigentlich nicht mehr erschütterbare Halbbart schließlich vom Fluss der Ereignisse mitgerissen wird. Charles Lewinsky erzählt vom Gründungsmythos der Schweiz, vor allem vom sogenannten "Marchenstreit" zwischen der Schwyz und dem nahegelegenen Kloster Einsiedeln, das in den Einflussbereich der Habsburger gehörte. Es ging dabei um Landrechte und Grenzziehungen, die das Kloster, so zumindest behaupten es die Dörfler, mit Urkunden zu beglaubigen versuchte, die die Mönche selbst im eigenen Skriptorium gefertigt hatten. Auch hier sind es also Fälschungen oder Halbwahrheiten, die die Geschichte vorantreiben, die die Stimmung anheizen und schließlich zu einem Überfall und zur Plünderung des berühmten Klosters Einsiedeln führen.
Lewinsky schildert in seinen Mittelalterroman, der stellenweise an Umberto Ecos "Der Name der Rose" erinnert, also durchaus reale historische Ereignisse, doch er zeigt dabei, wie falsche Geschichten den Geschichtsprozess beeinflussen. Im Zeitalter des "Trumpismus" und der Fake-News und vorsätzlicher Lügen als Mittel der Politik macht das seinen "Halbbart" auf subtile Weise aktuell. Erschreckend deutlich führt er uns vor Augen, wie klein der Abstand zwischen Moderne und Mittelalter ist – und wie immer noch dieselben Methoden der Volksverhetzung für den Machterhalt eingesetzt werden.
Vor allem aber ist "Der Halbbart" ein Buch über das Erzählen. Sebi, der nach seinem Weg im Leben sucht und weder Bauer noch Totengräber sein möchte, beschließt schließlich, Geschichtenerzähler zu werden und dafür beim Teufels-Anneli in die Lehre zu gehen. Das Anneli ist eine von vielen plastischen Figuren in diesem Roman, eine Vorläuferin des modernen Romanciers. Sie zieht von Dorf zu Dorf und bekommt für ihre spannenden Geschichten, die immer vom Teufel handeln, etwas zu essen, indem sie, eine Meisterin des Cliffhangers, immer gerade an der spannendsten Stelle eine Erzähl-Pause einlegt. Erzählen dient zuerst der Unterhaltung des Publikums und ist, auch wenn der Teufel beim Anneli stets die Hauptrolle spielt, in diesem Anspruch unschuldig.
Der Halbbart erfindet die Bergbauernwaffe der Hellebarde
Erfindungen spielen in diesem Roman allerdings nicht nur als Erzähltechnik eine Rolle, sondern auch im technischen Sinn. Der Halbbart erfindet die Prothese für Sebis älteren Bruder, der beim Baumfällen ein Bein verloren hat. Und er erfindet die Hellebarde, die hier "Halbbarte" heißt, und die schließlich im Kampf der Schwyzer gegen die Habsburger zum Einsatz kommt. In dieser historischen Schlacht von 1315 gipfelt der Roman. Die Quellenlage ist dünn. Lewinsky schildert sie als einen Hinterhalt, bei dem die Schwyzer, wenig heroisch, Bäume fällten, die sie an einem Engpass auf die nahende Friedens-Delegation der Habsburger herunterdonnern ließen, so dass Pferde und Reiter erschlagen wurden. Sebi jedoch, dessen älterer Bruder zuvor festgenommen wurde, verpflichtet sich, diesen Hinterhalt als heroischen Kampf gegen die feindliche Übermacht zu besingen, denn nur so kann er seinen Bruder retten. Was er dann vor all denen, die dabei gewesen sind und die es doch besser wissen müssten, erzählt, ist so fern der Wahrheit und so überdreht, dass er sich selbst dafür schämt. Und doch glauben alle, was ihm ganz unglaubwürdig erscheint.
"Das war alles so erfunden und erlogen, dass ich gedacht hatte, die Leute würden mich auslachen. Aber sie haben gejubelt, und der Onkel Alisi hat sich zu mir gebeugt, mir die Hand geschüttelt und gesagt: ‚Genau so ist es gewesen, genau so.‘
Später, als alle nur noch betrunken waren, hat mich das Teufels-Anneli auf die Seite genommen und gemeint: ‚Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lange erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.’"
Clou der Geschichte: Die Heldentaten sind nur erfunden
Sebi hat mit seiner Heldenlegende gewissermaßen sein Gesellenstück abgelegt. Zugleich aber hat er damit die Unschuld des Erzählers verloren und ist zu einem Propagandisten geworden. Unnötig zu sagen, wie recht das Teufels-Annelie mit seiner Prophezeiung hatte. Es sind die Geschichten von tapferen, unbesiegbaren Helden, die sich als Mythos über die Niedertracht und die nackte Gewalt legen, die weniger schön zu erzählen gewesen wären. Von dieser Verwandlung, wie aus verführerischen Geschichten Gewalttaten hervorgehen, bis die blutigen Ereignisse dann später wieder hinter schönen Geschichten verschwinden, handelt dieser derbe, bunte, schalkhafte, so phantastische wie phantasievolle Roman. Ein Lehrstück des Erzählens und der Geschichtsschreibung.
Charles Lewinsky: "Der Halbbart"
Diogenes Verlag, Zürich. 678 Seiten, 26 Euro.