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Erschreckende Zukunfsvisionen

Wie sieht die Schweiz in 100 Jahren aus? Charles Lewinsky hat sich darüber Gedanken gemacht und ein Buch über das "Schweizen" geschrieben: die Steigerungsform skurriler eidgenössischer Eigenschaften in die Zukunft. Ob Regulierungswut oder Bankengeschäfte - kein Thema wird in den 24 "Zukünften" genannten Visionen ausgelassen.

Von Michaela Schmitz | 05.08.2013
    Wer hat’s erfunden? Gemeint sind nicht die legendären Kräuterbonbons der eidgenössischen Alpenrepublik. Sondern das "Schweizen" an sich. Erfunden hat es: Charles Lewinsky. Die Idee dazu kam ihm im Traum, schmunzelt der Schweizer Autor im Vorwort seines neuen Buchs. Nein, beim "Schweizen" handelt es sich nicht um eine neue Technik des Käse-Schmelzens oder Alphorn-Blasens; genauso wenig wie um den Slogan einer Volksabstimmung zur Einführung von Armbrust-Schießen als olympischer Disziplin. "Schweizen" ist die Steigerungsform skurriler eidgenössischer Eigenheiten in die Zukunft. Um genau zu sein "Zukünfte". In 24 "Zukünften" träumt - oder vielmehr albträumt - Charles Lewinsky von einer Schweiz, wie sie in den nächsten Jahrhunderten aussehen könnte. Mit der für Lewinsky typischen Selbstironie, versteht sich. Einer der Höhepunkte: eine zukünftige Gebrauchsanweisung des Schweizer Qualitäts-Messers Victorinox:

    Gratulierung! Sie haben gekaufen eine Original Schweizer Taschenmesser, Modell "Morgarten" oder "Morgarten spezial". Dieses ist eine hundert Prozent Schweiz Produkt, merkbar an Schweiz-Kreuz an Griff und bestes Qualitatierung. Ihre Taschenmesser ist gemacht mit Hand von original Schweiz Fachmannen mit Liebe und Sorgfaltigkeit in Produzierfabrik von Knife for Life Enterprises (früher Victorinox AG) in Ibach-Schwyz, Switzerland, welches ist eine Department von Ippai Tong Si GmbH, Schanghai, China.

    Gibt es für den Eidgenossen eine erschreckendere Zukunftsvision als den Import des Schweizer Messers als chinesische Billigware? Es gibt. Die Revision der im Schiller-Stück "Wilhelm Tell" dramatisch inszenierten Gründungslegende der Schweizer Nation. Nicht auszudenken wären beispielsweise die Folgen der neuen Erfindung eines "Chronomobil" zur Reise in die Vergangenheit durch einen Schweizer Experten für Zeitregulierung. Was, wenn ein Zeit-Tourist auf seiner History-Tour zur legendären Wilhelm-Tell-Szene mit seinem Blitzlicht den Schuss der Armbrust abgelenkt haben würde - zum Beispiel auf die Brust des Landvogts?

    Der Schuss auf Gessler war das Signal zum Aufstand geworden, Wilhelm Tell hatte das Kommando übernommen, und als man die Österreicher - ganz ohne Rütlischwur - aus dem Land gejagt hatte, da war es nur selbstverständlich, dass der Tyrannentöter Tell die Stelle des Landvogts einnahm. Das Amt wurde in seiner Familie erblich, und aus der Schweiz wurde eine Monarchie.

    Wem diese Geschichte dann doch zu abwegig erscheint, für den hält Charles Lewinsky in seinem Bändchen durchaus realistischere Zukunftsvisionen bereit. Zum Beispiel den Besuch des modernen Freilichtmuseums "Ballenberg 2" mit auf Großleinwand projiziertem Bergpanorama. Besichtigt werden können mittlerweile ausgestorbene Schweizer Androiden bei der Arbeit auf ihren Bauernhöfen aus dem legendären 21. Jahrhundert. Der besondere Clou: Besonders wagemutige Besucher können echte Milch von lebendigen Kühen probieren. Weniger risikofreudigen Touristen wird in museumseigenen Restaurants die ganze Vielfalt traditioneller Schweizer Gastronomie angeboten. Hier können sie zum Beispiel historische Ostschweizer Spezialitäten wie Frühlingsrollen oder Satay-Spieße probieren.

    Aber nun mal im Ernst: Welche Auswirkungen könnte zum Beispiel der rasante Klimawandel für kommende Schweizer Generationen haben? Ein Skiprofi des 22. Jahrhunderts kann sich noch gut an die Aufregung erinnern, als der erste Bauer wegen anhaltender Ernteausfälle aufgrund langer Dürreperioden die erste Bananenplantage anlegte. Heute wisse doch jeder: Emmentaler Bananen sind die besten. Sogar über die vom patentierten Kunst-"Schneh" das ganze Jahr über blau gefärbten Berghänge rege sich mittlerweile niemand mehr auf.

    "Man kann es auch übertreiben", mag manch einer dazu meinen. Der Autor kontert: Aber man sieht manche Dinge deutlicher, wenn man sie übertreibt. Ein charakteristisches Beispiel: der typische Schweizer Regulierungswahn. In der Stellenausschreibung einer "Quartierungsbeauftragten für Nachbarschaftskontrolle" treibt die Schweizer Ordnungsliebe buchstäblich skurrile Stilblüten. Hier ein Auszug aus einem Bewerbungsschreiben aus der Zukunft:

    Nur so kann unser Land in dieser Hinsicht seine führende Stellung behalten, und können wir auch weiterhin zu Recht stolz darauf sein, die höchste Regelungsdichte in ganz Europa zu haben. Schließlich hat kein anderes Land der Welt eine Scheibenbremsenpflicht für Kinderwagen eingeführt (…). Aber selbst sicherheitsrelevante Spitzenleistungen, wie (…) die Verordnung über die Maulkorbpflicht von Meerschweinchen, bleiben wirkungslos, wenn eine Zuwiderhandlung keine ordnungsrechtlichen Konsequenzen nach sich zieht. Und das heisst: Kontrolle, Kontrolle und nochmals Kontrolle! Sie ist nun mal das Kernstück unserer Demokratie.

    Lewinskys Zukünfte sind so vielfältig und bizarr wie der Schweizer an sich. Von emotionsfreier Tristesse wie die letzte Versammlung eines sich selbst liquidierenden Berndeutschen Bühnenvereins. Von nüchterner Komik wie der Überfall eines Kontoinhabers auf das Privathaus eines Bankdirektors. Mit vorgehaltenem Gewehr will er eine Geldabhebung von seinem eigenen Konto erzwingen. Aufgrund anhaltender Banken- und Finanzkrisen sind keine Abhebungen mehr möglich. Von trockenem Humor wie die "Ehrlichkeitsinitiative" zukünftiger Schweizer Politiker, die sich die Werbebuttons ihrer Sponsoren öffentlich ans Revers heften.

    Charles Lewinskys schlägt in seinem Buch "Schweizen" sowohl inhaltliche als auch formale Purzelbäume: In unterschiedlichsten Textsorten von der Ballade über das Dramolett bis zur Predigt oder Vereinssatzung zeichnet er kuriose Karikaturen einer Schweiz von morgen. Die Textsorten verlangen geradezu nach einer szenischen Inszenierung auf einer Bühne. Und genau das ist auch ihre Schwäche. Was beim Vortrag auf dem Kabarett urkomisch wäre, liest sich zuweilen recht spröde. Unzweifelhafte Highlights sind die Gebrauchsanweisung des Schweizer Messers und das Dramolett über die Erfindung des Chronomobils. Viele der anderen Texte warten noch auf einen begabten Schweizer Sprechkünstler, der die eidgenössischen Zukunftsparodien erst wirklich zum Leben erweckt.

    Charles Lewinsky: "Schweizen"
    Nagel & Kimche 2013, 176 Seiten, 17,90 Euro