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Chef der US-Anti-Doping-Agentur
"Die Wahrheit ist mächtiger als die Angst"

Für Travis Tygart sind Whistleblower enorm wichtig im Kampf gegen Doping: "Ich würde nicht sagen, sie sind die einzigen Retter, aber sie spielen eine sehr große Rolle", sagte der Chef der US-Anti-Doping-Agentur im Dlf. Im Gespräch erzählt er auch, wie wichtig die Überprüfung der Aussagen ist.

Travis Tygart im Gespräch mit Marina Schweizer | 29.12.2019
Zu sehen ist Travis Tygart , Chef der US-Anti-Doping-Agentur.
Travis Tygart arbeitet schon seit 2002 für die US-Anti-Doping-Agentur. Seit 2007 ist er ihr Chef. (AFP/Lionel BONAVENTURE)
Marina Schweizer: Sie können zurückblicken auf den Fall Lance Armstrong, sie haben die Stepanovs kennengelernt, die über Russland berichtet haben. Und wir haben die Läuferin Kara Goucher, die sich zu Alberto Salazar und dem Nike Oregon Project geäußert hat. Auf einer Skala von 0 bis 10, wie viel Bedeutung haben Whistleblower im Moment für Ihren Kampf gegen Doping?
Travis Tygart: Ich würde auf jeden Fall sagen 10. Das geht zurück bis in die Jahre 2002, 2003 mit unserem Fall der Radsportlerin Tammy Thomas. Da ging es um ein Designer-Stereoid. Und der Fall führte dann schließlich zur BALCO-Untersuchung. Und zu diesem Zeitpunkt haben wir gemerkt, dass es da draußen Kräfte gibt, die sich richtig ins Zeug legen, um das Testprogramm zu hintergehen.
Und die einzige Möglichkeit, diejenigen zu identifizieren, die die Ressourcen ausgeben und die die Infrastruktur haben, um das für eine gewisse Zeit zu versuchen, war es, Kontakt zu Leuten in der Gemeinschaft und im Feld selbst zu haben, die möglicherweise auch ins Doping involviert waren. Und die dann auch noch einer Organisation genug vertrauen, um sich zu offenbaren und Informationen bereitzustellen. Wir haben unsere "Play Clean Line" geschaffen, einen Kanal, über den man Tipps loswerden kann, oder eine Möglichkeit für Whistleblower, in Kontakt mit uns zu treten. Man kann das per E-Mail machen, per kostenlosem Anruf oder auf andere Arten und Weisen.
"Entscheidend ist, dass es unabhängige Organisationen gibt"
Das war in 2003, 2004, während der BALCO-Situation. Es war immer wichtig, um an diejenigen ranzukommen, die absichtlich schummelten. Wir haben einige bekannte Fälle gesehen: US Postal, das Nike Oregon Project, das russische Staatsdoping - das kommt nur ans Licht, wenn es Whistleblower gibt und jene, die sich öffnen und wahrheitsgemäß darüber sprechen wollen, was sie im Sport erlebt haben.
Schweizer: Wie viel hat sich in den vergangenen Jahren verändert? Würden Sie sagen, dass es eine Zunahme an Whistleblowing gab? Und wenn ja, wieso? Wegen dieser Plattformen?
Tygart: Ich glaube, entscheidend ist, dass es unabhängige Organisationen, abgetrennt vom Sport, gibt. Das haben wir von Beginn an gehört und wir haben bald unser 20-jähriges Jubiläum. In 2002 und 2003 waren wir eine ganz neue Organisation, die keiner kannte. Die Sportler wussten nicht, ob sie uns vertrauen können, ob wir getrennt vom Sport, unabhängig vom Sport waren. Ich glaube wir haben gezeigt, und zeigen das hoffentlich jedes Mal, dass es unabhängige Organisationen rund um die Welt gibt. Die Welt-Anti-Doping-Agentur, uns, UK-Anti-Doping, die deutsche NADA, die sagen, wir sind nicht der Sport. Denn für Athleten ist es sehr schwer, aber auch für Trainer und Ärzte, dem Sport selbst Informationen zu geben, denn diese Organisationen wollen vielleicht nicht, dass sie damit an die Öffentlichkeit gehen. Sie sehen diejenigen vielleicht als schlechte Verlierer, oder dass sie vielleicht verbittert sind, dass sie es nicht in ein Team hineingeschafft haben. Und sie haben Angst vor Vergeltung, weil man erst mal eine Untersuchung machen muss, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und manche nationalen oder internationalen Verbände haben einfach nicht die Fähigkeiten oder Ressourcen, diese Arbeit zu machen.
BALCO in 2003 war ein Erfolg, mit dem wir der Welt gezeigt haben, dass man nicht unbedingt einen positiven Test als Beweis braucht. Und ich erinnere mich an die Fälle von Tim Montgomery und Chryste Gaines am CAS. Da wurde zum ersten Mal in der CAS-Gerichtsbarkeit ein sogenanntes nicht-analytisches Beweisverfahren angewendet.
"Es ist von entscheidender Bedeutung, zuzuhören"
Das wird keine positiven Tests im traditionellen Sinne beinhalten. Aber es kann Augenzeugenberichte beinhalten, Bankunterlagen, Email-Accounts, Videomaterial, alles was letztlich ein Gremium überzeugt, dass Anti-Doping-Regeln missachtet wurden. Und das ist auch sinnvoll, denn Trainer und Ärzte und Helfer sind nicht im Testprogramm. Sie müssen keine Dopingproben abgeben. Und oft dopen sie nicht selbst, weil sie nicht mehr antreten. Also wenn man wirklich an die Wurzeln dessen will, wer Druck auf die Athleten ausübt, dann müssen wir Systeme einführen, die Indizien sammeln und letztlich für Beweise sorgen - also ob die Regeln gebrochen wurden, ob unsere Athleten ausgebeutet wurden. Jeder Fall ist da von höchster Bedeutung. Und inzwischen wissen die Menschen auch, dass es unabhängige Organisationen rund um die Welt gibt, die das ernst nehmen und die die Informationen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, nachverfolgen.
Schweizer: Ich nehme an, es war auch ein Lernprozess für Sie, wie man mit Whistleblowern umgeht. Was kann man glauben und wie behandelt man sie. Erinnern Sie sich daran, wie es anfangs war, mit einem Whistleblower zu arbeiten?
Tygart: Man muss natürlich willens sein, sich mit ihnen zusammenzusetzen und auch ein Auge darauf zu haben, was die Motivation ist. Aber selbst diejenigen, die getrieben sind von etwas, das man als schlechtes Motiv bezeichnen könnte… Wenn die etwas Wahres berichten… Bei BALCO zum Beispiel, da denken viele Leute, dass das originale Designer-Stereoid THG uns heimlich von einem Trainer gegeben wurde, der sauer auf eine andere Gruppe Trainer war, die ihm Athleten weggenommen hat. Das Motiv war nicht unbedingt uneigennützig, aber das hat nichts daran geändert, dass wir ihm zugehört haben und dann den Hinweisen nachgegangen sind und die Beweise auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft haben. Es ist von entscheidender Bedeutung, zuzuhören. Aber es ist genauso wichtig, Zeit und Kraft zu investieren, die Dinge zu überprüfen und nicht einfach zu glauben, was jemand erzählt. Und man braucht erfahrene und talentierte Ermittler und Anwälte zur Überprüfung.
Wer die Wahrheit sagt, wird geschützt
Unser recht simpler Ansatz ist, dass wir jedem Whistleblower sagen, dass er oder sie die Wahrheit sagen muss. Man muss die komplette Geschichte erzählen und nicht nur über diejenigen sprechen, die noch aktiv sind, und die man nicht mag und sich selbst dabei außen vor lassen.
Und man muss die Wahrheit sagen, und wenn du das machst, werden wir alles tun, um dich zu schützen, und dich zu unterstützen und dass etwas Gutes dabei raus kommt, dass du bereit bist, die Wahrheit zu sagen. Und dass man den Mut aufbringt, den man dafür braucht, damit Veränderungen geschehen und damit diejenigen, die die Regeln brechen, zur Verantwortung gezogen werden. Und wir versuchen, den Wandel zu schaffen, damit diese Art von Druck nicht weiter auf den Athleten lastet.
Schweizer: Vermutlich ist das ein anderes Thema: Wer kann gerade von der WADA zu Verantwortung gezogen werden. Einige Sportler, saubere Sportler, denken, dass die gedopten Athleten nicht wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Aber ich denke, das ist ein anderes Thema, das wir nicht wirklich vertiefen können. Aber Sie haben darüber gesprochen, wie Sie mit Whistleblowern umgehen, die sagen, dass sie wahrheitsgemäß und umfassend auspacken. Wie viel Hilfe können Sie anbieten, zum Beispiel durch Beratungsangebote für Menschen, die Konsequenzen für ihre Karrieren fürchten?
Tygart: Was ein großer Fortschritt ist, sind die Regeln, die nicht nur Substantial Assistance, also erhebliche Unterstützung, erlauben. Wenn also jemand sich selbst belastet - und das passiert oft, wenn die Menschen, die Teil eines Dopingsystems waren, von ihrem Gewissen eingeholt werden, oder wenn sie einen positiven Test hatten und sie wollen reinen Tisch machen. Egal, was das Motiv ist, die Regeln erlauben jetzt erhebliche Unterstützung, was wirklich gut ist. Und eine neue Regel, auf die wir uns im November 2019 in Polen geeinigt haben, tritt im Jahr 2021 in Kraft. Es ist eine Anti-Vergeltungs-Maßnahme.
Keine Unterstützung in Form von Bargeldzahlungen
Es wird jetzt zum Bruch der Anti-Doping-Regeln, wenn sich jemand an einem Whistleblower rächen will. Wir gucken, was wir tun können und wir tun die richtigen Dinge aus den richtigen Gründen. Ob es psychologische Unterstützung ist, die wir leisten können, ob es kostenlose rechtliche Beratung ist, Hilfe bei einem Umzug, Vermittlung zum Ministerium für innere Sicherheit, wenn es um Visa geht, falls das nötig wird.
Schweizer: Halten Sie es auch für möglich, Geld anzubieten?
Tygart: Wir sind nicht in der Lage, finanzielle Kompensation für Informationen anzubieten, aber es gibt andere Ressourcen, auf die wir Menschen hinweisen können, damit sie Geld erhalten. Es gab 2005 eine Diskussion, wo wir in Colorado Springs ein Panel mit der Welt-Anti-Doping-Agentur hatten und einigen Bundesermittlern und anderen Gerichtsbehörden aus der ganzen Welt. Die Idee einer Art Belohnungssystem wie beim FBI, dass man für Informationen Belohnungen im Form von Geld erhält, das wollte der Sport damals nicht. Und deshalb existiert das zur Zeit nicht. Also im Sinne von Bargeldzahlungen - aber wir haben sicherlich den Wunsch zu helfen, wenn es um Jobempfehlungen geht, oder die Jobsuche. Das sind Dinge, die tun wir bei jeder Gelegenheit, die Sinn ergibt.
Schweizer: Was denken Sie? Werden Whistleblower weiterhin weitgehend als Verräter im Sport gesehen?
Tygart: Ich hoffe nicht, und ich glaube auch nicht. Das Nike Oregon Projekt. Die Situation mit Russland. Ich denke, sie werden als Helden betrachtet und als diejenigen, die ihren Sport wieder zurückerkämpfen wollen, und für das Gerechte einstehen. Niemand wird Sportler und sagt: Ich kann es nicht abwarten, bis ich zur Elite gehöre und dann dopen kann, um zu gewinnen. Kein Athlet sagt das. Sie wollen nicht in der Position sein.
Die Macht der Wahrheit
Es ist zwar hart, Missstände aufzudecken. Da gibt es Risiken und Unsicherheit. Aber diejenigen, die es getan haben, haben es glaube ich nicht bereut. Wir fragen immer, war es das wert? Und wir wollen diejenigen, die die Wahrheit ans Licht bringen, in die Position bringen, wo sie sagen können - ja, das war es wert. Denn sie sind diejenigen, auf die andere schauen, die sich überlegen, ob sie auch an die Öffentlichkeit gehen oder nicht. Und das kann eine wirklich inspirierende und machtvolle Botschaft sein - wenn diejenigen, die ausgesagt haben, wissen, dass es das wert ist.
Schweizer: Würden Sie sagen, dass Whistleblower die einzig möglichen Retter des wahrhaftigen Sports sind?
Tygart: Sie spielen eine entscheidende Rolle. Aber das Testprogramm auch. Und Bildung. Ich würde nicht sagen, sie sind die einzigen Retter, aber sie spielen eine sehr große Rolle. Und den Einfluss und den Wert, den sie haben, dürfen wir nicht unterschätzen oder kleinreden. Und ich habe von Einigen gehört, dass der Glaube, dass etwas Gutes dabei herauskommt, letztlich dafür gesorgt hat, dass sie tun konnten, was sie eigentlich von Beginn an machen wollten. Und das ist eine machtvolle Botschaft. Die Wahrheit ist viel mächtiger als die Angst oder die Bedrohungen oder die Einschüchterungen, denen sich manche ausgesetzt fühlen. Und ich glaube fest daran, dass sie ein wichtiger und essenzieller Teil des Erfolgs des Anti-Doping-Programms sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.