Freitag, 29. März 2024

Archiv

Chile
Die Stadt der Toten in Santiago

Mit 86 Hektar ist der Nationalfriedhof von Santiago de Chile so groß wie ein ganzes Stadtviertel. Hier ruhen Künstler und fast alle Präsidenten. Doch Erdbeben, Diebstähle und mangelnde Pflege bedrohen dieses Stück chilenischer Geschichte. Unterstützer wollen, dass er zum UNESCO-Weltkulturerbe wird.

Von Sophia Boddenberg | 16.06.2019
So gut wie alle Persönlichkeiten der chilenischen Geschichte liegen auf dem "Cementerio General", dem Nationalfriedhof in Santiago, darunter auch die Künstlerin Violeta Parra
So gut wie alle Persönlichkeiten der chilenischen Geschichte liegen auf dem "Cementerio General", dem Nationalfriedhof in Santiago, darunter auch die Künstlerin Violeta Parra (Deutschlandradio/Sophia Boddenberg)
Eine sieben Meter hohe und drei Meter breite Mauer trennt den Cementerio General, den Nationalfriedhof in Santiago de Chile von der viel befahrenen Straße. Um ihn zu betreten, muss man eine große steinerne Kuppel durchschreiten.
"Es gibt hier zwei Welten. Eine ist die Welt der Lebenden, die Stadt der Gegenwart. Und dann gibt es noch eine andere Stadt. Das ist die Stadt der Toten. Wenn man durch das Tor geht, merkt man, dass es nicht nur ein Tor ist. Es ist wie ein ritueller Übergang, der einen von der einen Welt trennt und in die andere eintreten lässt, ohne das man es spürt."

Tomás Domínguez Balmaceda ist 41 Jahre alt, trägt eine braune Cordjacke und Turnschuhe. Er ist wahrscheinlich die Person in Chile, die den Nationalfriedhof am besten kennt. Er ist Architekt und beschäftigt sich seit über 18 Jahren mit dem Friedhof.
2008 startete er eine Kampagne, damit der Friedhof als nationales Monument erklärt werden würde – mit Erfolg. Sein nächstes Ziel ist die Liste des UNESCO Weltkulturerbes. Ein Argument, warum der Friedhof zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, ist Domínguez zufolge der Austausch menschlicher Werte und das Zusammenfließen verschiedener Kulturen, was sich in der Architektur des Friedhofs und der Gräber wiederspiegele.
Am Rande des Nationalfriedhofs in Santiago de Chile liegen die Armen begraben
Einfache eiserne Kreuze markieren die Gräber der Armen auf dem Nationalfriedhof in Santiago de Chile (Deutschlandradio/Sophia Boddenberg)
Viele unterschiedliche Stile auf dem Friedhof
Auf dem Friedhof lassen sich verschiedene architektonische Stile finden: griechisch, römisch, mesoamerikanisch, ägyptisch, maurisch. Eines der berühmtesten Mausoleen ist das von Claudio Vicuña, das vom Architekten Teobaldo Brugnoli gebaut wurde. Es ähnelt einem arabischen Palast. Vicuña ließ es seinem Zuhause, dem Palacio La Alhambra, nachempfinden. Domínguez wurde von den Familienangehörigen beauftragt, sich um die Restauration zu kümmern.
Er rollt einen 1,00 * 1,20 Meter großen Plan aus, den er selbst erstellt hat. Acht Monate hat er dafür gebraucht. Es ist eine Art Stadtplan des Friedhofs, auf dem jeder Weg und jedes Gebäude eingezeichnet ist. Der Nationalfriedhof ist 86 Hektar groß und über zwei Millionen Menschen liegen hier begraben – eine wahre Nekropolis.
Auf dem Nationalfriedhof in Santiago de Chile stehen auf einem Denkmal die Namen der Opfer der Militärdiktatur  
Auf dem Nationalfriedhof in Santiago de Chile stehen auf einem Denkmal die Namen der Opfer der Militärdiktatur (Deutschlandradio/Sophia Boddenberg)
Ein weiteres Argument von Domínguez, weshalb der Friedhof zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, ist, dass es eine Parallele zwischen der "Stadt der Toten" und der "Stadt der Lebendigen" gebe:
"Wenn man anfängt, nachzuforschen, wo diese Menschen gelebt haben, merkt man, dass es Ähnlichkeiten gibt zwischen den Stadtvierteln in der Stadt der Lebenden und in der Stadt der Toten. Das alte Santiago wurde zerstört und die moderne Stadt wurde oben drauf gebaut. Aber hier existiert die Vergangenheit noch. Der Friedhof spiegelt die Etappen der Entwicklung von Santiago wieder. Nicht nur von Santiago, sondern von Chile. Auch die Gesellschaftsschichten. Die Armen lebten am Rande von Santiago und auch auf dem Friedhof sind sie in der Peripherie."
So gut wie alle Gestalten der chilenischen Geschichte liegen auf dem Cementerio General begraben. Alle Präsidenten, mit Ausnahme des Diktators Pinochet und Gonzales Videla, sowie berühmte Musiker, Dichter und Künstler wie Violeta Parra und Víctor Jara.
Mahnmal für die Oper der Diktatur
Auf einer riesigen steinernen Tafel sind tausende Namen eingraviert. Es ist das Denkmal für Opfer der Militärdiktatur und für die Detenidos Desaparecidos, diejenigen Opfer, die bis heute vermisst werden. Marisol Vega, eine kleine Frau mit rot gefärbten Haaren, pflegt das Denkmal.
"Ich bin Angehörige eines Detenido Desaparecido. Mein Großvater Julio Roberto Vega Vega verschwand am 16. August 1976. Für mich ist es ein Privileg, hier das Denkmal zu pflegen, weil ich die Geschichte pflege. So kann ich ein kleines Sandkorn beitragen, damit nie wieder solche schrecklichen Dinge passieren."

Marisol Vega kümmert sich ganz alleine um die Instandhaltung des Denkmals. Denn es gibt kaum finanzielle Ressourcen. Deshalb droht der Stadt der Toten der Zerfall. Zwei Erdbeben, 1985 und 2010, haben viele Grabmäler zerstört. Restaurationsarbeiten gehen nur schleppend voran. Immer wieder werden Skulpturen gestohlen. Zwischen 2010 und 2013 sind 26 historisch und kulturell wertvolle Grabskulpturen vom Friedhof verschwunden. Drei davon – im Wert von umgerechnet über fünf Millionen Euro – hat die Kriminalpolizei im November auf dem Landgut des Unternehmers Raúl Schüler gefunden.
Domíngez vermutet, dass eine kriminelle Mafia hinter den Diebstählen der Statuen steckt, die mit den Politikern verstrickt ist. Das könnte das mangelnde Interesse der staatlichen Stellen an der Instandhaltung des Friedhofs erklären. Der Nationalfriedhof wird momentan von der Stadtverwaltung Recoleta verwaltet. Die Einnahmen aus Park- und Bestattungsgebühren gehen an die Stadt und machen einen beachtlichen Teil des Haushaltsbudgets aus. Deshalb besteht von Seiten der Stadt nur wenig Interesse, mehr Geld in den Schutz des Friedhofs zu investieren.
"Das Problem ist, dass die Betroffen tot sind und sich nicht verteidigen können. Manche Gräber sind so alt, dass es keine Nachkommen mehr gibt. Der Rat für Monumente und Denkmalschutz und die Stadtverwaltung machen auch nichts. Dabei ist es die Pflicht des Staates, sich darum zu kümmern. Deshalb brauchen wir jemanden von außerhalb. Wir brauchen die UNESCO."
Die Chilenin Marisol Vega kümmert sich auf dem Nationalfriedhof in Santiago de Chile um die Pflege des Denkmals für die Opfer der Militärdiktatur und jene, die bis heute vermisst werden 
Die Chilenin Marisol Vega kümmert sich auf dem Nationalfriedhof in Santiago de Chile um die Pflege des Denkmals für die Opfer der Militärdiktatur und jene, die bis heute vermisst werden (Deutschlandradio/Sophia Boddenberg)