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China-Experte: Nordkorea könnte "zu irren Handlungen fähig sein"

Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstituts bei der Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, hält die Unberechenbarkeit Nordkoreas für das größte Risiko in der Krise um die Atompolitik des Landes. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass Nordkorea das internationale Umfeld und die eigenen Situation falsch einschätze. Das Regime mache es selbst seinem letzten verbliebenen Verbündeten China ausgesprochen schwer, Verständnis für sein Vorgehen zu zeigen.

Eberhard Sandschneider im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Professor Eberhard Sandschneider ist nun am Telefon, Direktor des Forschungsinstituts bei der Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag nach Berlin!

    Eberhard Sandschneider: Schönen guten Tag.

    Müller: Herr Sandschneider, warum geht Nordkorea jetzt so aggressiv vor?

    Sandschneider: Das ist nach wie vor das letzte wirklich stalinistische Regime, das in seinem gesamten innen- und außenpolitischen Verhalten ausgesprochen schwer einzuschätzen ist. Ganz offensichtlich - und da sind sich die meisten internationalen Experten, denke ich, einig - kommt es Nordkorea in der jetzigen Situation insbesondere darauf an, das eigene Gewicht in der internationalen Politik dadurch zu verdeutlichen, dass man die USA zu direkten bilateralen Verhandlungen buchstäblich erpresst. Nordkorea ist aus den sogenannten Sechsergesprächen ausgestiegen und hat immer wieder deutlich gemacht, dass es letztendlich darauf ankommt, wir wollen von der Supermacht USA so ernst genommen werden, dass die USA auch direkt mit uns verhandeln.

    Müller: Wenn Nordkorea unberechenbar ist, wie Sie sagen, heißt das auch, Unberechenbarkeit ist Irrationalität?

    Sandschneider: Das muss man, glaube ich, so sagen, und darin liegt eigentlich das eigentliche Risiko im Umgang mit diesem Land. Wir konnten uns in der gesamten Phase des Kalten Krieges, als da hoch gerüstete, auch atomar bewaffnete Blöcke einander gegenüberstanden, immer darauf verlassen, dass die andere Seite letztendlich ein rationales Verhalten an den Tag legt - zumindest in dem Sinne, dass man nicht mutwillig die eigene Vernichtung in Kauf nehmen würde. Im Falle Nordkoreas muss man da Fragezeichen setzen. Das ist das einzige Land der Welt, das seit zwei bis drei Generationen jetzt unter härtestem Stalinismus lebt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es da zu Fehleinschätzungen des internationalen Umfelds und der eigenen Situation kommt, ist hoch, und es fällt ja schon auf, dass bei diesem Regime nicht einmal der letzte verbliebene enge Freund China wirklich einen Hebel hat, um Einfluss auf Pjöngjang auszuüben.

    Müller: Gibt es immer noch erhebliche Minderwertigkeitskomplexe in Pjöngjang?

    Sandschneider: Minderwertigkeitskomplexe ist ein Punkt. Die politische Führung, wenn sie denn halbwegs mit offenen Augen in die Welt schaut, muss schon feststellen, dass sie mit ihrem Steinzeitkommunismus letztendlich den Zug der Zeit verpasst hat. Aber es gibt natürlich auch ein Sicherheitsinteresse dieser Führung, an der Macht zu bleiben, das eigene Regime zu erhalten, und die Politik der Vereinigten Staaten hat sicherlich schon dazu geführt, auch das berühmte Setzen Nordkoreas auf die Achse des Bösen, dass man dort relativ simpel reagiert. Wer auf der Achse des Bösen sitzt, muss damit rechnen, dass die USA ihn angreifen; wer zu einem Atomstaat wird, kann damit rechnen, dass die USA ihn nicht angreifen, weil die eben noch nie einen Atomstaat angegriffen haben. Das klingt für unsere Ohren fast wie Sandkastenspiele, aber so simpel - davon muss man ausgehen - denkt die Führung in Nordkorea.

    Müller: Herr Sandschneider, vielleicht versuchen wir doch einmal, den Spieß umzudrehen. Die Kritik in der Weltpresse, die Kritik in der Politik ist natürlich vernichtend gegenüber Nordkorea, gegenüber Pjöngjang. Das war in den letzten Jahrzehnten so und auch in den letzten Jahren so. Die Beziehungen sind abgebrochen worden zu Seoul, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten haben im Grunde nie richtig stattgefunden, und eben auch - Sie haben das erwähnt - der Ausstieg aus den Sechsergesprächen war ebenfalls wieder ein sehr umstrittener politischer Schritt. Gibt es dennoch Argumente, die für Nordkorea sprechen?

    Sandschneider: Das ist in der Tat eine schwierige Frage. Nein, aus unserer Sicht findet man eigentlich kaum ein Argument. Das ist ein Land, das durch sein militärisches und politisches Verhalten letztlich als durchgängiger Provokateur auftritt und es nicht nur Staaten, die ohnehin eher kritisch eingestellt sind - etwa westliche Staaten, etwa Japan oder Süd-Korea -, sondern auch dem letzten verbliebenen freundschaftlichen Staat China ausgesprochen schwer machen, in irgendeiner Weise Verständnis für das Vorgehen dieser Führung an den Tag zu legen. Argumente außer dem sehr, sehr vordergründigen Argument, die versuchen sich gegen amerikanische Militärdrohungen abzusichern, wird man kaum finden.

    Müller: Weiß jemand in der westlichen Welt, wie stark Nordkorea wirklich ist?

    Sandschneider: Wir wissen relativ wenig über dieses Land. Wir wissen vor allen Dingen relativ wenig darüber, wie seine innenpolitische genaue Positionierung ist, wer da gerade mit wem innerhalb der Parteiführung im Bunde ist, um auch eine mögliche Nachfolge zu regeln. Wie stark ist das Militär? - Das ist immer noch ein wirklich völlig geschlossenes Land, wie wir es aus den tiefsten Zeiten des Ost-West-Konflikts mal mit kommunistischen Systemen zu tun hatten. Alle Informationen, die aus Nordkorea herauskommen, sind letztendlich nur begrenzt belastbar. Wir wissen wenig, wir können insofern auch wenig verlässlich einschätzen, wie dieses Regime reagiert. Es ist allerdings ein Regime, das mit dem Rücken an der Wand steht und von daher auch zu irren Handlungen fähig sein könnte.

    Müller: Wissen vielleicht die Chinesen mehr?

    Sandschneider: Die wissen sicherlich etwas mehr, weil sie immer noch den unmittelbaren und direkten Gesprächsdraht haben. Zum Teil wird das nicht kommuniziert, zum Teil muss China natürlich auch sehr sorgfältig damit umgehen, Dinge, die sich bilateral mit Nordkorea abspielen, dann auch der Weltöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das würde bei Nordkorea wieder die einschlägigen Reaktionen hervorrufen. Es ist für alle Beteiligten, es ist auch für China alles andere als ein einfacher Partner.

    Müller: Stimmen, Herr Sandschneider, die Einschätzungen, die da sagen - Sie haben das auch eben kurz erwähnt -, wenn die Nordkoreaner so weiter machen, dann muss China irgendwann von Nordkorea abrücken?

    Sandschneider: Das ist nun wiederum nicht im chinesischen Interesse, abzurücken. Der Satz, es ist im Interesse Chinas, dass die koreanische Halbinsel atomwaffenfrei bleibt, hat nicht nur mit dem Konflikt der beiden koreanischen Staaten zu tun, sondern natürlich auch mit der Befürchtung Chinas, dass beispielsweise Japan dann sehr viel stärker auf eine atomare Bewaffnungsstrategie zum Eigenschutz setzen könnte. Das wiederum läuft chinesischen Interessen zuwider. Die Chinesen haben eigentlich gar keine große andere Wahl, als zu sagen, wir müssen unsere Position, den Gesprächspfad offenhalten zu können, so weit nutzen wie irgend möglich. Aber die Frustration in Peking über das Verhalten Nordkoreas, die steigt, die ist erkennbar.

    Müller: Muss der Westen froh sein, dass dieser Draht zwischen Peking und Pjöngjang noch funktioniert?

    Sandschneider: Ja. Der wird sicherlich eher helfen, die Dinge wenn irgend möglich abzumildern, als die westlichen Kontaktmöglichkeiten, die im Moment ja eigentlich nur indirekte sind und sich im Wesentlichen über die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen äußern. Wir hätten ansonsten praktisch überhaupt keinen Hebel, in irgendeiner Weise vernünftig mit diesem Regime ins Gespräch zu kommen. Und auch die Sechsergespräche, die jetzt abgebrochen sind, haben eigentlich immer wieder davon profitiert, dass am Ende China in die Mittlerrolle schlüpfen konnte und es möglich gemacht hat, auf diesem Wege zumindest ein Minimum an Dialog mit diesem Regime aufrecht zu erhalten.

    Müller: Wir haben jetzt in den vergangenen Tagen die Eskalation der Situation: einmal der Atomtest, nun diese Kriegsdrohung. Wie kann der Westen adäquat reagieren?

    Sandschneider: Das ist offensichtlich ein Regime, das auf jede Form der Sanktionierungspolitik letztendlich nicht reagiert. Insofern muss man, glaube ich, einen Augenblick darüber nachdenken, ob ein weiteres Nachlegen von verbalen Sanktionierungsversuchen in den Vereinten Nationen tatsächlich Sinn macht. Dieses Regime wird auf keine Sanktion, die in New York bei den Vereinten Nationen beschlossen wird, reagieren. Es ist ausgesprochen schwierig, den auch vom amerikanischen Präsidenten angedeuteten Gesprächsdraht überhaupt zum Funktionieren zu bringen. Letztendlich wird man wahrscheinlich nur gemeinsam mit China den informellen Angebotsdruck so weit erhöhen können, dass man wieder in eine Gesprächssituation mit diesem Regime kommt.

    Müller: Wenn das Regime zumindest ja auch die Augen und die Ohren offen hat - man zieht ja unterschiedliche Konsequenzen daraus offenbar, wie Sie es auch beschrieben haben -, weiß man dennoch, dass ein neuer Präsident im Weißen Haus regiert und dass der es etwas anders machen will?

    Sandschneider: Das weiß man mit Sicherheit. Die Tatsache, dass während der Abrüstungsrede von Barack Obama in Prag - die atomwaffenfreie Welt - zeitgleich ein Raketentest in Nordkorea durchgeführt worden ist, das ist sicherlich kein Zufall. Das ist ein System, das immer noch sehr stark auch symbolisch agiert und es versteht, mit symbolischer Politik Signale zu setzen. Die Vermutung, dass es noch ein junger Präsident ist, der große Dinge angekündigt hat und deshalb in einer vielleicht etwas schwächeren Position ist, ausnützen zu wollen, das kann man nicht von der Hand weisen. Wie gesagt: wir wissen aber nicht genau, wie die Führungsköpfe dieses Regimes wirklich ticken. Dass es ihnen jetzt darauf ankommt, zu Beginn einer neuen Administration, wie man vielleicht sagen könnte, Nägel mit Köpfen zu machen, indem man die USA erpresst in eine bilaterale Verhandlungssituation, das ist eindeutig erkennbar. Es geht Nordkorea darum, von den Vereinigten Staaten als gleichwertiger bilateraler Gesprächspartner angesehen zu werden.