Donnerstag, 18. April 2024

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China-Expertin zu Hongkong-Protesten
"Große Sorge, Freiheiten zu verlieren"

Die Proteste in Hongkong gegen das Auslieferungsgesetz stehen für die Sorge, dass die Unabhängigkeit der Justiz weiter ausgehöhlt werde, sagte China-Expertin Kristin Shi-Kupfer im Dlf. Das Misstrauen gegenüber Peking und der eigenen Regierung sei massiv.

Kristin Shi-Kupfer im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 12.06.2019
Demonstranten blockieren die Straßen im Regierungsviertel von Hongkong
Proteste in Hongkong gegen das geplante Auslieferungsgesetz (Anthony WALLACE / AFP)
Dirk-Oliver Heckmann: Kristin Shi-Kupfer vom Mercator-Institut für China-Studien - ich grüße Sie, schönen guten Morgen!
Kristin Shi-Kupfer: Schönen guten Morgen.
Heckmann: Frau Shi-Kupfer, die Regierung sagt die Debatte um das Auslieferungsgesetz, die für heute geplant war, ab. Ist das Projekt damit gestorben?
Shi-Kupfer: Nicht unbedingt. Ich glaube zunächst mal, dass die Hongkonger Regierung realisiert hat, dass der Widerstand doch sehr viel massiver und auch anhaltender ist, als sie gedacht hat. Es sind ja nicht nur - natürlich, das ist auch sehr wichtig - die Leute aus dem LegCo, also Parlamentarier. Es sind Studenten, es sind aber auch Arbeiter, Geschäftsleute, Lehrer, die sich diesen Protesten angeschlossen hatten. Und ich glaube, das deutet schon darauf hin, dass es doch massiven Widerstand und massive Bedenken gegenüber der Volksrepublik China, aber natürlich gegenüber der eigenen Regierung gibt.
"Gesetzesherrschaft, kein Rechtsstaat"
Heckmann: Wie berechtigt sind denn die Sorgen der Gegner dieses Auslieferungsgesetzes?
Shi-Kupfer: Ich denke, die sind schon sehr berechtigt, weil letztendlich muss man ja sich die Frage stellen, wie unabhängig ist Chinas Justiz, wie sehr kann man sich darauf verlassen, dass Leute, die dort gesucht sind, nicht doch aus politischen Gründen verurteilt sind, zum einen Stichwort Korruption, zum anderen aber natürlich auch die ganze Frage Menschenrechte, Regimekritiker. Das ist durchaus ein sehr berechtigtes Bedenken, weil in der Tat wir in China es nicht mit einem Rechtsstaat zu tun haben, sondern mit einer Gesetzesherrschaft, die oftmals sehr stark politisch motiviert ist.
Heckmann: Anlass des Gesetzes war aber ein Mord, den ein Hongkonger an seiner schwangeren Freundin in Taiwan verübt haben soll und der nicht ausgeliefert werden konnte. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam sagt, es gehe bei dem Gesetz nur um Schwerverbrechen.
Shi-Kupfer: Natürlich ist das nicht fein säuberlich zu trennen. Man hat immer politische Elemente - nicht in so einem Fall, den Sie geschildert haben. Aber in der Tat sind aufgrund des Verhaltens auch der Pekinger Justizbehörden in den letzten Jahren große Zweifel aufgekommen, dass die Unabhängigkeit der Justiz zunehmend ausgehöhlt wird. Und ich glaube, auch wenn wir an die Ereignisse in Hongkong denken, die Entführung der Buchhändler, wenn wir auch an Ereignisse denken, einfach der ganze Druck, der zugenommen hat auf Hongkong auch gerade in politischen Fragen, ist natürlich da ein Rechtssystem dann ein guter Hebel, um auch mehr Regimekritikern in Hongkong dann Druck zu machen.
Heckmann: Aber sollte das Gesetz das Parlament dann doch noch passieren, wäre es denn wirklich denkbar, dass Menschenrechtsanwälte beispielsweise, Aktivisten, politische Gegner des Regimes in China dorthin, nach China ausgeliefert werden könnten?
Shi-Kupfer: Das ist zumindest rein theoretisch möglich - wie gesagt, wenn sie in China verurteilt sind, als Verbrecher betrachtet werden, sich dann in Hongkong aufhalten würden. Da sind ja auch Szenarien denkbar noch aus früheren Zeiten, möglicherweise auch die Hinweise jetzt, die wir haben von ehemaligen Aktivisten der Tiananmen-Proteste. Das sind natürlich keine gesuchten Verbrecher, aber auch die können nicht nach Hongkong einreisen. Das deutet doch alles darauf hin, dass wir zumindest ein großes Spannungsverhältnis haben zwischen der Betrachtung Pekings und der Betrachtung Hongkongs, was Recht, Gesetz und auch rechtmäßiges politisches Engagement angeht.
Massives Misstrauen gegenüber der Regierung
Heckmann: Wie ist denn das Klima derzeit in Hongkong? Wie würden Sie das beschreiben? Wie stark ist es von der Angst beherrscht, sämtliche Freiheiten zu verlieren?
Shi-Kupfer: Die Bilder, die man hört, was ich auch höre und sehe auf sozialen Medien, die deuten doch sehr stark darauf hin, dass es in der Tat eine große Sorge gibt, eine große Angst, jetzt nicht nur politische, sondern auch rechtliche Freiheiten zu verlieren. Das Rechtssystem war ja auch für viele, glaube ich, Lehrer, Arbeiter, Geschäftsleute immer ein Garant für ein dynamisches wirtschaftliches Umfeld. Ich glaube, diese Gesamtlage, zum einen die Sorge, das zu verlieren, auch das Misstrauen, was ja immer ein Stück weit da war, auch gegenüber der eigenen Regierung, die Interessen Pekings zu vertreten und nicht die eigenen Interessen, das ist doch ganz offensichtlich sehr, sehr massiv.
Heckmann: Sie sprechen es an: die Motivation der Regierung selbst in Hongkong. Wie kommt es denn, dass eine Regierungschefin von sich aus ein Gesetz auf den Weg bringt, das so eine Gefahr in sich birgt? Ist sie von Peking gesteuert, die Regierungschefin?
Shi-Kupfer: Sie selbst bestreitet das ja, sagt immer wieder ganz klar, das ist nicht der Fall. Aber die Einflussnahme Pekings auf Hongkong, auch auf Hongkonger Regierungschefs war immer vorhanden. Es gab interessanterweise aber auch ganz am Anfang der 2000er-Jahre den Druck, dieses Sicherheitsgesetz, eine strengere Sicherheitsgesetzgebung umzusetzen. Das war um 2003 herum. Damals gab es auch ähnlich massive Proteste. Da hat dann damals auch die Hongkonger Regierung gesagt: Nein, das machen wir nicht gegen so einen massiven Widerstand unserer Bevölkerung. Natürlich gibt es da auch immer diesen Zwiespalt, in dem so eine Person jetzt auch wie Carrie Lam steckt. Sie weiß, sie ist natürlich gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung verantwortlich in gewisser Art und Weise. Aber letzten Endes behält sich ja Peking rechtlich die Entscheidung vor, Gesetze zu interpretieren. Ein Land und zwei Systeme heißt aber natürlich nicht, dass Hongkong nicht doch letztendlich zu China gehört.
Umstrittenes Auslieferungsgesetz in Hongkong:
Proteste in Hongkong: Fronten verhärtet (02:45)
Heckmann: Was ist denn das Ziel der kommunistischen Führung in Peking überhaupt? Hongkong zu einem ganz normalen Teil Chinas zu machen, wo Demokratie und Rechtsstaat nur stören?
Shi-Kupfer: Zunächst mal ist, glaube ich, Hongkong aus Sicht der KP immer noch ein Fenster, eine Bühne, zunächst aus wirtschaftlicher Hinsicht, als Wirtschaftszentrum, als Finanzzentrum. Dazu gehörte aus Sicht der Kommunistischen Partei durchaus auch immer natürlich, dass das Rechtssystem nicht angetastet wird, dass das Vertrauen nicht angetastet wird, die Dynamik. Im Zuge von "Ein Land, zwei Systeme" hat man ja in der Tat diese auch politischen Rechte, diese Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit zugestanden. Aber ich glaube, das ist immer etwas, was Peking als Beiwerk gesehen hat zu diesem, zunächst mal schützenswerten dynamischen Finanzplatz und Wirtschaftsplatz Hongkong. Man muss auch sagen, natürlich war das bei der Übergabe durchaus mal anders. Da hatten wir auch 1997 in China ein Regime, eine Parteiführung, wo man auch das Gefühl hatte, es ging doch etwas mehr in Richtung Liberalisierung. Und vielleicht war Hongkong doch eine gewisse Zeit auch mal ein Laboratorium, wo man jetzt nicht eine vollständige Demokratisierung, aber wo man aus Sicht der Volksrepublik China beobachten konnte, wie kann das funktionieren, ist ein kapitalistisches, wirtschaftliches, dynamisches System mit einem politischen Liberalismus vereinbar.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.