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Chiracs langsamer Abschied von der Macht

Jacques Chirac gilt schon lange als Präsident auf Abruf, spätestens seit dem EU-Referendum 2004, als die Franzosen die europäische Verfassung ablehnten. Im nächsten Jahr sind Präsidentenwahlen. Der diesjährige 14. Juli dürft der letzte Nationalfeiertag für Chirac als Staatsoberhaupt sein. Christoph Heinemann berichtet aus Paris.

    Seit dem Beginn der Schulferien hat der Autoverkehr in Paris deutlich nachgelassen. Es ist warm auf dem Straßen der Hauptstadt. Die Cafés sind voll. Die Pariser freuen sich auf den Urlaub. Am 14. Juli fliegt, rollt, reitet und marschiert die Militärparade auf den Champs Elysée und über die Prachtavenue hinweg, und am Nachmittag gibt der Präsident sein traditionelles Fernsehinterview zum Nationalfeiertag. In diesem Jahr wendet sich Jacques Chirac voraussichtlich zum letzten Mal an seine Landsleute. 2007 wählen die Franzosen ein neues Staatsoberhaupt, eine Kandidatur von Chirac gilt als unwahrscheinlich, seine Wiederwahl als aussichtslos.

    "Frankreich befindet sich in einer Phase des zunehmenden Zerfalls","

    meint ein Passant.

    ""Zwischen Volk und Volk und der Exekutive besteht kein Vertrauen. Und es gibt für die Zukunft weder Anregungen noch eine Richtung für das, was von Frankreich übrig ist"."

    ""Man müsste die siebenjährige Amtszeit des Präsidenten wieder einführen. Er sollte einmal gewählt werden und dann nicht mehr antreten können. Dann hätte man echte Präsidenten, die echte Reformen anpacken würden, statt ständig auf die Wiederwahl zu schielen"."

    Blättert Jacques Chirac in seinem Kalender zurück, so überschaut er Krisenmonate und andere wenig ruhmreiche Ereignisse: Die Rote Karte von Berlin nach Zinedine Zidanes Kopfstoß, die Clearstream-Affäre um vorgebliche Schwarzgeldkonten führender Politiker, der Protest gegen den Erstanstellungsvertrag CPE, die Unruhen in den Vorstädten, das gescheiterte Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag. "Es ist zum Weinen", meinte der Fußballkommentator als der beliebteste Franzose den Platz verließ.

    Der Präsident, der Schiedsrichter der französischen Politik, hat anders entscheiden. Trotz verheerender Umfragewerte für den Premierminister und öffentlicher Kritik aus der eigenen Partei, belässt Jacques Chirac Dominique de Villepin an der Spitze der Regierungsmannschaft.

    Chirac: ""Gelegentlich rate ich ihm, der Regierungspartei etwas mehr zuzuhören und mit der Partei etwas mehr im Kontakt zu stehen. Aber die Regierung erfüllt ihre Aufgaben. Also wüsste ich nicht, warum ich diese Regierung umbilden sollte"

    Bald könnte Nicolas Sarkozy ihn zum Handeln zwingen. Der Innenminister möchte seine guten Aussichten bei der Präsidentschaftswahl nicht dadurch schmälern, dass er einer unbeliebten Regierung angehört. Unterdessen beobachten die Altlinken in der Sozialistischen Partei, die früheren Regierungsmitglieder Strauss-Kahn, Lang oder Fabius, mit Neid den Aufstieg der ehemaligen Familienministerin Segolène Royal zur möglichen Präsidentschaftskandidatin. Sogar Lionel Jospin hat sich zurückgemeldet. Der letzte sozialistische Premierminister, der bei der Präsidentschaftswahl 2002 dem Rechtspopulisten Jean-Marie Le Pen unterlag und sich danach von der politischen Bühne verabschiedet hatte, erklärte seinen Rücktritt vom Rückzug:

    "Wenn es sich herausstellen sollte, dass ich am besten die Sozialisten, die Linke und Frankreich einigen könnte, dann würde sich für mich die Frage stellen"

    Dass in diesem und in der ersten Hälfte des kommenden Jahres wichtige Reformen auf den Weg gebracht würden, damit rechnet kaum jemand in Paris. Gleichwohl sei sie zuversichtlich, meint eine Frau:

    "Es könnte immer noch besser sein, aber es geht uns doch nicht schlecht. Wir kommen weiter."

    Frankreich vermag durchaus Erfolge vorzuweisen: seit Monaten sinkt die Arbeitslosenquote, der Verbrauch ist stabil, und in kaum einem anderen europäischen Land werden so viele Kinder geboren. Apropos Nachwuchs, meint ein junger Mann:

    "Ich wäre froh, wenn im nächsten Jahr jemand zum Präsidenten gewählt würde, der nicht schon seit 20, 30 oder 40 Jahren in der Politik ist, wie Fabius, Lang oder Chirac."