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Chodorkowski-Freilassung
Mützenich: Andere russische Häftlinge nicht vergessen

Nach der Freilassung des Kremlkritikers Chodorkowski warnt der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich davor, andere politische Häftlinge aus dem Blick zu verlieren. Man solle die Gelegenheit zum Dialog mit Russland nutzen, sagte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion im Deutschlandfunk.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Thielko Grieß | 21.12.2013
    Thielko Grieß: Als Freund des russischen Präsidenten Putin ist Schröder häufig beschrieben worden, und so weit bekannt, hat nun nicht er, sondern der frühere Chefdiplomat der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, seine Drähte in Russland spielen lassen. Er hat viel Zeit ins Land gehen lassen und die Geduld über Jahre nicht verloren. Chodorkowski, der mit Ellbogen, harten Bandagen und sehr viel Erdöl zu sehr viel Reichtum in Russland gekommen ist und sich später auf die politische Seite, auf die Seite der politischen Opposition schlug, saß zehn Jahre lang in Haft. Bis gestern. Nun ist er in Berlin. Er hat übernachtet, wie Staatsgäste, im Hotel Adlon am Pariser Platz. Am Telefon ist jetzt Rolf Mützenich, der stellvertretende Fraktionschef, einer von einigen stellvertretenden Fraktionschefs der neu konstituierten SPD-Fraktion im Bundestag und dort zuständig für Außenpolitik und Menschenrechte. Guten Morgen, Herr Mützenich!
    Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Grieß!
    Grieß: Hat Hans-Dietrich Genscher gestern bewiesen, dass die Haltung Gerhard Schröders, die wir gerade gehört haben, die unklügere war?
    Mützenich: Ich glaube, er hat bewiesen, dass stille Diplomatie und das Arbeiten an solchen humanitären Lösungen sich lohnt. Und ich glaube, er hat hier durchaus bewiesen, dass er auch mit anderen, wie zum Beispiel auch dem deutschen Botschafter in Moskau sehr gut zusammenarbeiten kann, auch mit der ehemaligen Bundesregierung.
    Grieß: Hans-Dietrich Genscher gilt als sehr gut vernetzt in Russland, das stammt auch noch aus den Zeiten, als er Außenminister war. Aber noch einmal zu Gerhard Schröder. Der war ja nun lange genug auch Kanzler, und dessen Drähte nach Russland sind ja auch bekannt. Warum nutzt nicht auch so ein früherer Frontmann der Sozialdemokraten seine Drähte zugunsten von Häftlingen?
    Mützenich: Ich glaube, das Ergebnis zählt. Der ehemalige Kanzler Schröder ist mit Sicherheit auch in der Lage, seine Drähte nach Moskau, nach Russland insgesamt zu nutzen, und wenn er in bestimmten Fällen helfen kann, wird er das mit Sicherheit auch tun.
    Grieß: Haben Sie geahnt, dass Chodorkowski so schnell nach Berlin kommen könnte?
    Mützenich: Nein.
    Grieß: Wieso hat er sich ausgerechnet die Bundesrepublik, wieso hat er sich Berlin ausgesucht?
    Mützenich: Es gibt ja verschiedene Interpretationen, und es könnte unter Umständen sein, dass er tatsächlich gedacht hat, hier auch eben seine Mutter treffen zu können, aber wenn Deutschland sozusagen auch ein Ort ist, wo er sich aufhält, wo er jetzt in den nächsten Tagen, und ich hoffe, dann auch in Ruhe, seine Familie wird treffen können, ist es ein richtiger Ort.
    Grieß: Es wird ja spekuliert, ob er weiterreist, möglicherweise in die Schweiz oder nach England. All das sind Spekulationen, das wissen wir nicht – was hat er vor? Was soll er – kann er bleiben?
    Mützenich: Nun, ich glaube, er wird jetzt erst mal in den nächsten Tagen überlegen, wohin er geht und wie sozusagen danach seine Zukunft aussehen wird. Auch darauf bin ich gespannt. Ich gehe davon aus, dass er sich irgendwann erklären wird, und das werden wir dann interpretieren müssen, nicht zum jetzigen Zeitpunkt.
    Grieß: Aber die deutsche Politik wäre bereit, Chodorkowski erst einmal auch eine dauerhafte Zukunft in Berlin zu gewähren?
    Mützenich: Nun, wenn er politisches Asyl zum Beispiel beantragen würde, müsste das geprüft werden, wie es im Verfahren auch vorgesehen ist. Aber das ist Spekulation, wir hören auch unterschiedliche andere Orte. Das werden wir sehen in den nächsten Tagen.
    Grieß: Er hat ja nun auch erst einmal ein Visum für Deutschland, für ein ganzes Jahr. Er könnte also bleiben. Wäre das denn eine Belastung für das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Russland?
    Mützenich: Ich glaube, es ist richtig, dass die Bundeskanzlerin und der neue Bundesaußenminister gesagt hat, dass wir diese Gelegenheit nutzen sollten, um zumindest die Gesprächskontakte, die auch in den letzten Monaten nie abgerissen sind, auch wieder stärker zu nutzen, den Dialog einzufordern und gleichzeitig eben auch zu sehen, dass Russland in einer durchaus kritischen Lage ist. Das hat auch Präsident Putin bei seiner Rede vor der Föderalversammlung erklärt. Auf der einen Seite außenpolitische Muskelspiele, auf der anderen Seite ein schwaches Wirtschaftswachstum, Probleme im Gesundheitswesen, mangelnde Verwaltung, Bildung, Wissenschaft – alles das sind Fragen, die zurzeit in Russland an erster Stelle stehen. Und ich finde, das sind Themen, die auch angesprochen werden sollten, insbesondere dann, wenn russische Gesprächspartner mit uns darüber reden wollen.
    Grieß: Sie haben das angesprochen. Ich zitiere das noch einmal aus der Erklärung der Kanzlerin gestern. Sie sagte, sie begrüße die Entscheidung der Begnadigung des russischen – also die Tatsache, dass Vladimir Putin Michail Chodorkowski begnadigt hat. Und das sei bedeutsam und ermutigend auch für andere Fälle. Das hatten Sie gerade auch anklingen lassen. Welche Fälle sind da denn gemeint?
    Mützenich: Ich glaube, wir müssen insbesondere darauf achten, in Russland sind ja zum Beispiel auch viele Menschenrechtsaktivisten, Umweltaktivisten politischen Prozessen ausgesetzt, Inhaftierungen, auch in Straflagern, und das sind einzelne humanitäre Fälle, um die wir uns ja auch zu kümmern haben. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch alles versuchen, mit den derzeit politischen Verantwortlichen auf den verschiedenen Institutionen gemeinsame Interessen in der internationalen Politik zu beraten, aber auf der anderen Seite auch die Angebote, die wir zu einer Modernisierungspartnerschaft gemacht haben, weiterhin umzusetzen.
    Grieß: Die Sozialdemokraten übernehmen die Außenpolitik von den Liberalen in der jetzt neu entstandenen Bundesregierung. Deutet sich da eine neue Akzentuierung der Russlandpolitik an?
    Mützenich: Zumindest ist es wieder ein Blick auf Russland, dies haben wir ja auch im Koalitionsvertrag sehr prominent deutlich gemacht, und ich glaube, dass der neue Bundesaußenminister Steinmeier hier ein starkes Schwergewicht gerade auf Russland, aber auch auf die Kontakte zu anderen Ländern innerhalb der Europäischen Union lenken wird und dass er eben in Polen über die Ukraine, aber auch über Russland gesprochen hat, das liegt auf der Hand. Ich glaube, wir werden letztlich nur erfolgreich sein können, wenn wir innerhalb der Europäischen Union mit anderen Partnern auch eine starke Stimme gegenüber Russland einsetzen können.
    Grieß: Starke Stimme, sagen Sie. Aber ist damit vor allem eine leise, vor allem eine Stimme hinter den Kulissen gemeint, nach dem Modell Hans-Dietrich Genschers?
    Mützenich: Wenn es um humanitäre Fälle geht, muss man eine stille Diplomatie unternehmen, weil es ist im Interesse desjenigen, dem wir auch helfen wollen. Ich glaube, das ist legitim. Auf der anderen Seite gibt es auch öffentliche Foren, wo wir über die Herausforderungen einer Russlandpolitik sprechen können. Und ich habe ja darauf hingewiesen, dass Russland in einer nach meinem Dafürhalten zumindest innenpolitisch, wirtschaftspolitisch schwierigen Situation ist. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass das Bild Putins in Russland nicht mehr das glänzende ist, dass er gerade versucht, durch außenpolitische Muskelspiele hier wieder eine Imageverbesserung zu erreichen. Das ist nicht ungefährlich, aber ich glaube, es gibt auch Momente, gerade wieder im jetzigen, dass es sich lohnt, mit Russland weiterhin im Gespräch zu bleiben.
    Grieß: Halten Sie Michail Chodorkowski eigentlich für den zu Unrecht Verfolgten, politisch Verfolgten, als der er hierzulande porträtiert wird?
    Mützenich: In der Tat, es war ein politischer Prozess, insbesondere der zweite Prozess. Und auch die Ankündigung und auch die Diskussion darüber, dass ein dritter Prozess erfolgt, hat ja auch viele starke politischen Motivationen gehabt. Auf der anderen Seite müssen wir erkennen, dass das Bild Chodorkowskis in Russland letztlich ein anderes ist, natürlich auch gemalt von den staatlichen Medien, aber durchaus eben auch von einem Publikum, von der Bevölkerung, die gerade diesen Magnaten, die sich in Russland auch eben Geld verschafft haben über Korruption, auch mit kriminellen Machenschaften, das wird auch mit diesem Namen verbunden, ob zu Recht oder zu Unrecht.
    Grieß: Hat sich Vladimir Putin nun einen Gegenspieler wieder neu geschaffen, der vom Ausland aus die Opposition unterstützen kann?
    Mützenich: Das ist schwierig einzuschätzen. Insbesondere kommt es ja darauf an, was er sozusagen in den nächsten Tagen auch als sein politisches Programm nennt. Ich glaube, in Russland gibt es keinen Mangel an selbst erklärten Oppositionellen, sondern es ist ein Mangel an einer starken, koordinierten, selbstbewussten Opposition, die auch in der Lage ist, Kompromisse im eigenen Lager einzugehen.
    Grieß: Michail Chodorkowski in Berlin. Und Rolf Mützenich, der SPD-Außenpolitiker, bei uns am Telefon heute Morgen. Ich bedanke mich für das Gespräch!
    Mützenich: Vielen Dank, Herr Grieß, schönes Wochenende!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.