Remme: Wie erklären Sie die seit Jahren anhaltende Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft?
Chomsky: Nun, in den USA geht etwa die Hälfte der Wähler gar nicht zur Wahl. Studien der Nichtwähler zeigen, dass ihr sozioökonomisches Profil denjenigen ähnelt, die in Europa Labour oder sozialdemokratische Parteien wählen. Die 50 Prozent, die hier zur Wahl gehen, gehören tendenziell zu den Wohlhabenden. Um aber nun eine 50 zu 50-Situation zu erreichen – und das hat Bush schließlich geschafft – musste er irgendwie große Teile der weißen Arbeiterschicht für sich gewinnen. Wie hat er das gemacht? Waffen und Religion. Das sind die beiden Hauptgründe, warum diese Gruppe George Bush wählt. Sind das die Themen, die diese Leute am meisten betreffen? Natürlich nicht, eigentlich sind Bildung, Gesundheit und die Umweltpolitik viel wichtiger für sie, doch diese Themen tauchen im Wahlkampf nicht auf.
Remme: Der 11. September war ohne Frage das wichtigste Datum der Bush-Präsidentschaft. Wirkt dieser Schock immer noch nach?
Chomsky: Die Leute sollten eigentlich noch viel verängstigter sein, als sie es sind. Ich habe während der 90er Jahre vor der Gefahr eines Anschlags in den USA gewarnt. Schließlich haben radikale Islamisten schon 1993 einen Anschlag auf das World Trade Center verübt. Schon damals hätten leicht Zehntausende ums Leben kommen können. Außerdem sollten wir vor einer atomaren Katastrophe Angst haben. Noch mal: die USA verfolgen zur Zeit eine Militärpolitik, die in der Analyse von anerkannten namhaften Wissenschaftlern des Mainstreams in einer Katastrophe enden wird. Davor sollten wir uns fürchten und diese Politik beenden. Doch die Ängste sind ganz anders. Vergessen Sie nicht: Die Amerikaner sind ein ängstliches Volk, seit Jahrhunderten. In keinem anderen Land haben die Menschen Angst vor Außerirdischen; hier ist das verbreitet. Vor kurzem erzählte mir ein Freund, er habe eine Scheune gesehen, randvoll mit Waffen, als Vorsichtsmaßnahme eines Bekannten, der sich gegen UN-Truppen rüstete, die angeblich Völkermord an den Amerikanern planten.
Remme: Ein Hauptstreitpunkt der internationalen Politik, auch des Wahlkampfs, ist der Krieg im Irak. Was sollten die USA Ihrer Meinung nach tun?
Chomsky: Die Frage ist: Worum geht es bei diesem Krieg? Hier in den USA ist Konsens, dass wir in den Krieg gezogen sind, um die messianische Vision von George Bush durchzusetzen, seine Vision eines demokratischen Irak. Diese Auffassung ist in den USA fast unumstritten. Nur die Irakis sehen das völlig anders. In der Washington Post wurde letzthin eine Umfrage veröffentlicht. Menschen in Bagdad wurden gefragt, warum die USA einmarschiert sind. Ein Prozent meinte, um das Land zu demokratisieren. Die Mehrheit sah die anderen, die offensichtlichen Gründe: Kontrolle über die Bodenschätze und über die Region im Interesse der großen US-Konzerne. Was sollten die Amerikaner tun? Ich glaube, die Irakis haben recht. Das amerikanische Volk muss die Regierung zwingen, ihre Kriegsziele aufzugeben, nämlich einen abhängigen Staat als stabile Basis in der Region zu etablieren. Das wäre ein umfassender Wechsel einer Politik, die bis in die 40er Jahre zurückreicht.
Remme: Sehen Sie denn in der Außenpolitik grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen der beiden Kandidaten?
Chomsky: Ja, in gewissem Umfang. Eine Kerry-Regierung würde wohl die Politik unter Präsident Clinton fortsetzen, aber ich will die Unterschiede nicht überbewerten. Dies sind Unterschiede in einem sehr engen Spektrum. Andererseits, in einem so mächtigen Land, so mächtigen System können kleine Unterschiede im politischen Ergebnis durchaus bedeutsam sein. Ich meine, Clinton hat die gleiche unilaterale Politik betrieben, nur der Stil war anders. Clinton hat seinen Partnern diese Politik nicht dauernd um die Ohren gehauen, sondern geschickter agiert.
Remme: Welche Befürchtungen haben Sie für den Fall einer weiteren Amtszeit von George Bush?
Chomsky: Wie ich schon sagte, ich befürchte eine nukleare Katastrophe. Die Pläne für eine Militarisierung des Weltraums, die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen, die Reaktionen in Russland und China, deren Aufbau offensiver Waffenpotentiale. Das alles schreit geradezu nach einem atomaren Zwischenfall. China rüstet auf, Indien reagiert auf China, Pakistan auf Indien und los geht es. Allein die Idee, dass der Iran Atomwaffen entwickelt, ist ziemlich erschreckend. Aber wenn Sie für strategische Planungen im Iran verantwortlich wären, würden Sie anders handeln?
Remme: Wenn die Unterschiede zwischen den Kandidaten so gering sind, warum dann überhaupt wählen?
Chomsky: Meine Meinung ist die gleiche wie vor vier Jahren. In den Bundesstaaten, wo das Ergebnis praktisch feststeht, ist es egal. Tun Sie, was Sie wollen. In den entscheidenden Bundesstaaten kann man nur gegen Bush wählen. Ich wehre mich dagegen zu sagen: stimmt für Kerry, denn ich bin gegen seine Politik. Aber das ist nun mal die Wahl, die wir haben. Wir haben nun mal keine Wahl zwischen Kandidaten mit grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen zu den wichtigen Themen. Diese werden ja sowieso aus dem Wahlkampf herausgehalten.
Remme: Abschließend: Wer wird die Wahlen gewinnen?
Chomsky: Ich glaube, Bush wird gewinnen, denn Wahlen sind grundsätzlich käuflich und das finanzielle Polster ist traditionell ein guter Indikator. Sie haben den Reichen im Land so viel geschenkt. Diese Geschenke werden in der Regel erwidert.
Remme: Der amerikanische Wissenschaftler und Publizist Noam Chomsky.