Ja, Kultur ist immer bedroht – aber das Bedrohtsein, stellt Christian Demand fest, sei nun einmal der ganz normale Daseinsmodus von Kultur. Und nein, die "Invasion der Barbaren" stehe nicht bevor; hier sieht der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler vielmehr einen unangemessenen Alarmismus am Werk, dessen Relativierung und Ironisierung den roten Faden seiner Aufsätze bezeichnet. Die nicht von Demand, sondern bereits im 18. Jahrhundert konstruierte Figur eines "ästhetischen Jedermann" wird in ihr Recht gesetzt und mit ihr der sogenannte "common sense", der gesunde Menschenverstand.
Mit dem Schwinden allgemeiner verbindlicher Kriterien beim Beurteilen von Kunst – vor allem also dem entscheidenden Kriterium der "Gottgefälligkeit" eines Kunstwerks – sei ein Vakuum entstanden, in das zu stoßen besagter Jedermann durchaus befugt sei, indem er "unvoreingenommen, aufgeschlossen, nach einem natürlichen Geschmack" urteile. So hat es ein Vorläufer unseres Zeitgenossen, ein gewisser La Font de Saint-Yenne, bereits 1747, also mit dem Beginn der Moderne, formuliert. Und für Demand ist daran wenig zu korrigieren. Was dagegen die Invasion der Barbaren betreffe, also den Untergang bestehender Werte in Schund und Asche, so handele es sich um einen Jahrhunderte alten, bis in die Antike zurückgehenden Topos: "Es handelt sich hier um eine sattsam bekannte Reflexionsfigur, mit der Kultur über sich selbst spricht. Und wenn dieselbe Deutungsfigur zu allen möglichen Anlässen immer wieder aufgerufen wird, sehe ich allen Grund misstrauisch zu sein."
Kunst mit zu viel Pathos und zu viel Ideologie überfrachtet
Überall, wo Kunst und Kunstreflexion für seinen Geschmack mit zu viel Pathos, zu viel Ideologie überfrachtet wird, erhebt Demand Einspruch. Nicht, weil er grundsätzlich etwas gegen Theorie hätte, sondern eher aus einem gewissen Gerechtigkeitsimpuls heraus: Der Theoretiker, der er ja selbst ist, möchte eine Art Balance herstellen zwischen Überbau und Basis, Theorie und Praxis, dem Reden über Kunst und der Würde des Handwerks.
Die althergebrachte Trennung zwischen freier und angewandter Kunst ist in Demands Augen ohnehin obsolet; und ein geistlicher Würdenträger wie Kardinal Meißner, der das Auftragswerk eines Künstlers wie Gerhard Richter nach seinen Maßstäben bewerte – gewissermaßen nach den Maßstäben eines ästhetischen Jedermann – habe zunächst einmal das Recht dazu; man müsse ihm eben nur mit womöglich konträren Argumenten begegnen, um ein Gespräch in Gang zu setzen: "Es ist ja gerade die Frage, ob man Experten- und Laienmeinung noch so klar trennen kann wie in den Kulturkämpfen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Grenzziehung zwischen avancierter Kunst hier und reaktionärer Kunst dort – diese einfachen Verhältnisse wurden längst von allen Beteiligten des Spiels verabschiedet. Dann aber zu glauben, man wüsste genau, was eine vorurteilsbehaftete Auffassung zu einem Kunstwerk, einem Domfenster usw. ist, und dies daran festzumachen, dass jemand eben Bischof und nicht Kunsthistoriker ist – das halte ich für albern."
"Die Kunst" gibt es nicht
Wer heute über Kunst spreche, müsse wissen, dass es "die Kunst" im Singular nicht gebe, der Kunstbegriff sei längst pulverisiert. Und so wenig es "die Kunst" gebe, so wenig gebe es in der Moderne allgemeinverbindliche ästhetische Kriterien: "Wenn es keine verbindlichen ästhetischen Kriterien mehr gibt, kann man nicht mehr einfach fragen: Was ist eine kompetente Haltung? Welche Diskurslinien müssen aufgerufen werden, damit ich kompetent über Kunst spreche? Das ist in jedem einzelnen Fall neu zu verhandeln. Man macht es sich zu leicht, wenn man dekretiert, wer etwa vor einem Bild äußert: das könnte mein Kind ebenso gut malen, habe damit bereits einen indiskutablen Beitrag geleistet. Das muss von Fall zu Fall geklärt werden."
Auch in der Geschichte, auch in Zeiten eines scheinbar verbindlichen Kanons habe es unter den dazu Berufenen keineswegs eine breite Übereinstimmung gegeben. Man könne das sehen, wenn man sich ein wenig mit der Geschichte der französischen Akademie beschäftige, die ja als maßgebliches Subjekt bei der Schaffung eines Kanons gelten kann: "Man ist versucht zu meinen, hier lasse sich eine homogene, monolithische Theoriegeschichte ausgraben. Man sieht die Dogmen und weiß: Das ist der Feind. Dies ist aber gar nicht der Fall. Selbst die hohen Würdenträger der Akademie sind sich keineswegs sicher, nach welchen Kriterien sie zu urteilen hätten, ihre Argumentationslinien sind porös und dispers. Und das ist heute natürlich erst recht der Fall. Zu glauben, es gebe eine direkte Verbindung etwa zwischen Jeff Koons und Cy Twombly, halte ich für absurd."
Ein Kunstwerk müsse schon eine gewisse Resonanz hervorrufen
Die eher populäre als im Kunstbetrieb kanonisierte Vorstellung, ein Kunstwerk müsse schon eine gewisse Resonanz hervorrufen, um relevant zu sein, hält Demand für nicht ganz abwegig. Er scheut auch hier nicht davor zurück, sich zum Sprachrohr des gesunden Menschenverstands zu machen. Dass wir nicht in einer Basisdemokratie lebten, in der jede einzelne Entscheidung mehrheitsfähig sein müsse, sei zwar nicht zu bestreiten; dennoch hält Demand es für unglücklich, dass im Kulturbetrieb der demokratische Gedanke so vollständig ausgeblendet werde. Das Beispiel der Schweiz zeige ja: Nicht jede kostspielige Investition in die Kunst werde von der Mehrheit der Bevölkerung automatisch verworfen; auch hierzulande müssten die Menschen keineswegs in die Museen geprügelt werden, sondern das Gegenteil sei der Fall.
Allerdings würden eben die scheinbar naiveren Kunstgenüsse, etwa die Freude am bloß Mimetischen oder gar Illusionistischen, sofort unter einen Generalverdacht gestellt, dessen Ursprung Demand in der andauernden idealistischen Tradition sieht. Dass dieses vorherrschende Paradigma einen wahren Kern enthalte, sei dabei gar nicht zu bestreiten: "Eigentlich geht es mir lediglich um die Ehrenrettung des anderen, des Mimetischen, des handwerklich Gekonnten. Wenn man nur einmal erlebt hat, wie die Menschen in einer trompe-l'oeil-Ausstellung förmlich absorbiert wurden, wie sie vor den Bildern stehen und staunen, begreift man dieses Faszinosum des Schlichten, von dem ich spreche, und das ich gegen den Theorieüberhang ins Recht setzen möchte, ohne die Theorie an sich zu verwerfen."
Man muss Christian Demand sicher nicht Punkt für Punkt zustimmen, aber man begreift seinen Impetus, wenn man diese Aufsätze liest, und darüber hinaus mag man die Eloquenz der Attacken gegen etwas, das der Autor wohl die Arroganz der kulturellen Elite nennen würde, bewundern. Demands geistige Haltung dabei ist stets die des überlegenen Ironikers, und das damit verbundene Risiko, missverstanden zu werden, schreckt ihn so wenig wie die Rede vom "postironischen Zeitalter", die seit einiger Zeit die Runde macht: "Ich lebe in meinem eigenen ironischen Zeitalter! Die Formel vom postironischen Zeitalter leuchtet mir zu wenig ein, bringt in mir zu wenig zum Schwingen, sodass ich dazu lieber schweige."
Christian Demand: "Die Invasion der Barbaren. Warum ist Kultur eigentlich immer bedroht?"
zu Klampen! Verlag, 208 Seiten
zu Klampen! Verlag, 208 Seiten