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Christian Lehnert: "Windzüge"
Unzeitgemäße Dichtung

Christian Lehnert ist ein "unzeitgemäßer" Dichter. Er schreibt bisweilen in klassischem Versmaß religiös inspirierte Gedichte, die weder im urbanen Literaturbetrieb noch im Kirchenwesen leicht einen Platz finden. Schubladen entgeht seine Lyrik schlicht und ergreifend durch ihre Qualität.

Volkmar Mühleis |
    Es geschieht nicht oft, dass man als Literaturkritiker eine literaturkritische Position von vor zweieinhalbtausend Jahren einnehmen kann, aber wenn der Dichter sich schon auf biblische Quellen beruft, warum sollte der Kritiker nicht ebenso aus der Antike schöpfen? In der Dichtung von Christian Lehnert durchdringt sich die Suche nach Worten und Glauben mit der Erprobung tradierter Vers- und Reimformen und der Frage nach Gott. Wir leben in postsäkulären Zeiten, so Jürgen Habermas, doch das Spannungsverhältnis von Religiosität und Dichtung ist natürlich ein altes, und so vermerkte Aristoteles bereits sinngemäß in seiner "Poetik": Wenn der Dichter von Göttern spricht, dann geht es vielleicht weder um Wirklichkeitstreue noch um die Darstellung einer idealen Welt, sondern schlichtweg um die Meinung von Menschen, auf die er sich bezieht, und wenn es auch seine eigene ist. Christian Lehnert hat sich ebenso lyrisch wie essayistisch zum Verhältnis von Religiosität und Dichtung geäußert, etwa in seinen vorhergehenden Büchern, dem Gedichtband "Aufkommender Atem" und dem umfangreichen Essay "Korinthische Brocken", in dem er Briefe des Paulus reflektiert. Auch der neue Gedichtband "Windzüge" setzt diese Tendenz fort. Wie verbindet sich seiner Meinung nach das Nachdenken über Paulus mit seinen Gedichten?
    "Auf diese Frage sind zwei verschiedene Antwortlinien zu ziehen. Also erstens, im Blick auf Paulus: In Paulus begegnet mir ja ein Denker, der durch ein traumatisierendes Offenbarungserlebnis gewissermaßen die Grundfesten seiner Existenz verloren hat, sowohl seiner Sprache als auch seines biografischen Selbstverständnisses, auch seiner Religiosität. Und in diesem Trauma, in diesem Krater, in diesem Loch, in dem er sich befindet, sucht er nach Sprache. Und seine Briefe sind deshalb von einer unglaublichen Sprachkraft, wir würden heute sagen, von einer poetischen Kraft. Weil er sich nämlich an den Rändern der Sprache erst wieder hineinsprechen muss, in ein Verständnis der Welt, in ein Verständnis Gottes, in ein Selbstverständnis. Er muss gewissermaßen alles von der Pieke auf neu buchstabieren, was Zeit ist, was ein Mensch ist, was ein Lebenszusammenhang ist. Und das berührt sich natürlich ganz elementar mit den Erfahrungen eines Menschen, der heute Gedichte schreibt. Es ist natürlich ein Sprung über zweitausend Jahre, es ist schwierig, Konzepte heutiger Poetologie auf Paulus zu übertragen, aber in die andere Richtung erkenne ich doch als einer, der heute in Gedichten um Sprache, um Weltverständnis ringt, in Paulus jemanden wieder, der etwas ganz Vergleichbares geleistet hat. Die andere Sache ist die nach der religiösen Dichtung. Das ist natürlich hochproblematisch, weil religiöse Dichtung in der Gegenwart in einer ganz merkwürdigen Spannungslage ist. In der deutschen Literatur ist ja eine Tradition religiöser Dichtung vielleicht seit fünfzig, hundert Jahren weitestgehend abgebrochen. Und das hat Gründe. Es ist, glaube ich, für einen Dichter heute ganz schwer religiöse Lyrik zu schreiben, und zwar deshalb, weil religiöse Sprache in den letzten hundert Jahren so oft missbraucht, so vielfach zerredet, so tausendfach kontaminiert ist, dass es kaum Anknüpfungspunkte gibt. Ich weiß gar nicht, ob ich sagen würde, dass ich religiöse Gedichte schreibe, sondern es sind eher Gedichte, die in ihrer Haltung, ihrer Suchbewegung im Hintergrund etwas wie einen Gottesbezug haben, der aber nicht oder sehr selten auf der Oberfläche erscheint."
    Wie gestaltet Lehnert die Flächen, die Ebenen in seiner Lyrik? Ein Gedicht in dem Band "Windzüge" verbindet ihn mit dem vorhergehenden Essay zu Paulus. Während dieses Gedicht am Schluss des Essays stand, leitet es nun den zweiten Zyklus der neuen Gedichte ein, welcher selbst den Titel "Brennender Dornbusch" trägt. Im Unterschied zu der ersten Veröffentlichung des Gedichts ist es nun dem verstorbenen Komponisten Hans Werner Henze gewidmet, der es in seiner letzten Komposition vertonte, einem Pfingstoratorium für den Thomanerchor in Leipzig. Es beginnt mit den Worten "Ein Vogel will erwachen", gelesen von Christian Lehnert:
    "In memoriam Hans Werner Henze

    Ein Vogel will erwachen, seine Schwingen,
    erfaßt von Böen, ruhen nicht mehr lang.
    Sein Nest ist nur noch Gras, und etwas fehlt.
    Er fühlt nicht, was es ist, nur wie es fehlt,
    und trägt die Angst, das Beben, Schlag um Schlag,
    wenn auf die Nacht folgt immer noch ein Tag,
    trägt sein Gefieder wie ein fremdes Lachen.
    Da war doch nur ein Laut, ja, nur ein Hauch,
    bevor der Laut begann ... Als Tierversuch?
    Als Vogel? Als Gerücht des eignen Flugs?
    Am Felshang graut der Morgen, weite Schwingen,
    gestützt auf Knochen, ruhen nicht mehr lang.
    Es fehlt ja nur ein Rascheln zum Erwachen,
    ein Flügelschlag, ein Wind, ja, nur ein Hauch."
    Diese gelesene Form, diese Folge, ist aus fünf Versen gebildet, von denen die ersten vier aus je drei Zeilen bestehen und der letzte Vers zwei Zeilen hinzufügt. Hier und da klingt ein Reim auf oder die Wiederholung des gleichen Lauts, im Anschluss oder über das Gedicht verstreut, sodass die gleichmäßige Versform klanglich aufgelockert erscheint, die Strenge der Form vielleicht selbst eher einem Gefieder gleicht, das beweglich bleibt, offen, und doch das Ganze trägt. Es sind Tier- und Naturgedichte, die der Zyklus "Brennender Dornbusch" vereint, ein Titel, der neben der biblischen Bezugnahme auch als Bezeichnung eines tatsächlichen Naturphänomens gelesen werden kann, in der Hitze der Wüste. Der Reiz des neuen Gedichtbandes "Windzüge" liegt in seiner größeren Vielfalt an lyrischen Formen, die der Leipziger Dichter im Vergleich mit dem vorigen Gedichtband "Aufkommender Atem" präsentiert. Die Strenge der dort vielfach achtzeiligen Gedichte, in verschiedenen Variationen ihrer internen Gliederung, ist gelockert, zugunsten zum Teil selbst fast schon erzählender Gedichte, in rhythmisch gefassten Beobachtungen, Bildern, bereichert um Verse in Reimen, die sich in dieser Durchmischung wieder neu und anders entfalten. Thematisch berührt Lehnert dabei jedoch auch neuralgische Punkte, wenn er etwa Motive der christlichen Passionsgeschichte mit solchen der Schoah überblendet, in den Gedichten "Die Schwärmer" oder "Bei der Seherin" etwa. Auch diese Verbindung rührt von dem Essay "Korinthische Brocken" her, in dem der Autor und Theologe sie näher ergründet hat. Selbst meint er dazu mit Blick auf diese beiden neuen Gedichte:
    "Diese Überblendung im Paulus-Buch ist durch zweierlei Dinge motiviert. Einmal ist das Wort vom Kreuz in unserer Gegenwart so vielfach ideologisch verstanden, so oft schon in theologische Gedankensysteme eingebaut, gewissermaßen vergoldet steht es auf dem Altar, dass ich nach Wegen gesucht habe, um gewissermaßen dieses Kreuz in seiner Tiefenschärfe noch wieder sichtbar, erfahrbar und erlebbar zu machen. Und die andere Erfahrung ist natürlich die, dass die Schoah gewissermaßen ein Loch ist, eine Lücke in unserer kulturellen Erinnerung und etwas, was sich zur Sprache der Reflexion, immer wieder auch nach diesen vielen Jahrzehnten und auch über die Generationen, den Generationenwechsel, immer wieder der Deutung der Sprache entzieht. Das ist etwas, was - wofür die Worte fehlen. Und genau dies ist auch die Erfahrung des Paulus im Blick auf den gestorbenen Christus. Ich glaube, sowohl in der Passionsgeschichte, in der Kreuzigungsgeschichte, als auch in der Schoah ist eine geschichtliche Wahrheit, eine geschichtliche Tiefendimension, eine geschichtliche Verunsicherung am Werke, die vergleichbar und verwandt ist."
    Als Theologe an der Universität Leipzig ist Lehnert überaus bewandert in der Materie und umsichtig in seinen Formulierungen, nichtsdestotrotz ist es ein heikles Unterfangen, die christliche Perspektive für diesen Vergleich zu wählen, denkt man auch an Reflexionen der jüdischen Theologie zur Schoah, wie etwa jene von Schalom Ben-Chorin, in denen das Schweigen schließlich schwerer wiegt als jeder Versuch der Artikulation, auch das Schweigen, an dem sich der Glauben scheidet, der noch Gläubige vom schon nicht mehr Gläubigen. Aber das führt selbst in eine andere Diskussion. In seinem Band "Windzüge" erinnert Christian Lehnert an die Schrecken der Vernichtung in einem Gedicht, "Die Freifläche", in dem die Andeutungen, Verzweigungen, die Leserin, den Leser ins Dickicht führen, in Wälder - vielleicht in Schlesien, Genaueres wird nicht gesagt -, in denen eine Katze dem Protagonisten zuläuft. 'Wie soll sie weitergeben, was der Rabbi spricht?', heißt es da, und: 'Wie kann sie ruhen, wo sie niemals war? / Im Gras dort, neben Asche, ausgewürgtem Haar?' Der Dichter Lehnert geht nicht auf in dem Theologen, er spielt ihn frei, nicht weniger ernsthaft, nicht weniger anspruchsvoll, aber mit Bildern in der Sprachlichkeit, um die es einem Apostel Paulus selbst nicht ging. Insofern dichtet da einer in der Gemeinde der Leipziger, um es einmal so zu sagen, anachronistisch zum paulinischen Erbe wie auch zur laizistischen Kritik seiner Zeit. Und es entstehen dabei Gedichte, die auch diesen Rahmen vergessen machen, wie das Gedicht von der Libelle, auf Seite 21 in dem neuen Band "Windzüge". Nicht nur 'in ihrem Schimmer', wie es da von der Libelle heißt, 'kehrt der Sommer wieder' - auch in einem Gedicht wie diesem.
    Christian Lehnert: "Windzüge"
    Suhrkamp Verlag, 108 Seiten, 18 Euro